In einer Artikelserie illustrierte ich die Wohnungsknappheit in der Schweiz anhand des Kantons Zug. Ich sprach einerseits mit einer alleinerziehenden Mutter und Pflegerin, die keine günstige Wohnung in ihrem Kanton findet. Andererseits besichtigte ich eine Wohnung, die 7700 Franken Miete kostet und die bewusst Expats anspricht. Ist diese Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Einheimischen und Expats ein repräsentatives Bild für die Wohnungssituation im Kanton Zug?
Philippe Koch: Ja, auf jeden Fall. Ich komme ja selbst aus Zug und beobachte seit zwanzig Jahren, wie die Reichen die Ärmeren auf dem Wohnungsmarkt stetig und zunehmend verdrängen. Expats sind dabei ein wichtiger Faktor: Für die Wohnkosten dieser gutverdienenden Fachkräfte aus dem Ausland, die ein bis drei Jahre in der Schweiz arbeiten und leben, kommen häufig ihre Arbeitgeber auf.
Welche Menschen sind am stärksten von dieser Verdrängung betroffen?
Eine Studie der ETH-Zürich hat kürzlich aufgezeigt, dass vor allem Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Schlechtverdienende verdrängt werden. Auffällig ist, dass es Menschen sind, die unsere Städte und Gemeinden am Laufen halten: Busfahrerinnen, Verkäufer, Pöstler, die Pflegerin aus Ihrer Reportage. Dieses Phänomen beobachtet man weltweit seit den 1980er-Jahren.
Hat das Konsequenzen für die ganze Gesellschaft?
Ja, schlussendlich führt es zu einer Spaltung und einer Polarisierung von Räumen. Besonders problematisch an dieser Entwicklung ist, dass vor allem Menschen verdrängt werden, die Mühe haben, sich politisch Gehör zu verschaffen. Entweder weil sie kein Stimmrecht haben oder weil sie gar keine Kapazität haben, sich politisch zu engagieren.
Die Pflegerin erzählte mir, dass sie sich manchmal frage, warum sie nicht zusammenbreche. Aber neben Pflegepersonalmangel auf der Arbeit, Wohnungssuche bei Wohnungsnot und ihrer zweijährigen Tochter hätte sie dafür keine Zeit.
Solche brutalen Geschichten höre ich in der Schweiz leider häufig. Umso perplexer macht es mich immer wieder, wie ignorant und arrogant gewisse Parteien und Politiker trotzdem noch auf diese realen Probleme der Menschen reagieren.
Sind diese Parteien und Politiker auch schuld an der heutigen Misere?
Ja. Bezogen auf den Kanton Zug kann man klar sagen: Die heutige Wohnungssituation ist eine bewusste politische Entscheidung einer bürgerlichen Mehrheit, die konsequent die Besteuerung von Kapital gesenkt hat. Das heisst: Personen, die über Vermögen verfügen, und Unternehmen, die primär im Ausland Umsatz machen, werden im Kanton Zug bevorzugt.
Trotzdem herrscht ja nicht nur im Kanton Zug Wohnungsnot.
Ja, weil wir die Verdrängung gewisser Bevölkerungsschichten gerade aus den Städten in der ganzen Schweiz beobachten können: in Basel, in Genf, in Zürich, in Lausanne. Darum ist es wichtig zu betonen, dass wir uns in der Schweiz nicht in einer generellen Wohnungsnot befinden. Wer eine hohe Zahlungsbereitschaft hat, findet immer einfach eine Wohnung. Wir befinden uns in einer Wohnungsnot, die ein ganz spezifisches Segment der Bevölkerung betrifft.
Die Unterschicht.
Und zunehmend auch die Mittelschicht. Im Kanton Zug sogar auch langsam die obere Mittelschicht.
In unseren Kommentarspalten meinten viele User: «Dann sollen die Leute halt woanders hinziehen. Es gibt ja kein Recht darauf, in der Stadt wohnen zu können.» Was sagen Sie zu solchen Aussagen?
Das ist eine interessante Haltung. Denn grundsätzlich kann man sagen: Ja, das stimmt. Es gibt kein Recht darauf, an einem bestimmten Ort wohnen zu dürfen. Aber es stellt sich die Frage, inwiefern es berechtigt ist, dass nur die Zahlungsbereitschaft darüber bestimmt, wo man seinen Lebensmittelpunkt haben darf. Wohnen hat viele verschiedene Implikationen. Im Kanton Zürich macht es zum Beispiel einen grossen Unterschied, in welcher Gemeinde man wohnt, weil es je nachdem einfacher oder schwieriger ist, Dienstleistungen zu erhalten. Beispielsweise ÖV, der bis spät in die Nacht fährt oder vergünstigte Kitaplätze. Man könnte sich darum politisch und gesellschaftlich durchaus der Frage widmen, ob jemand ein Recht auf einen Wohnsitz an einem bestimmten Ort besitzen sollte. Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?
Aber so funktioniert der Kapitalismus doch einfach: Geld entscheidet.
So ist es. Ich kann eine Prada-Tasche haben, aber dafür muss ich eben 5000 Franken hinblättern. Ich finde aber: Wohnen ist keine Prada-Tasche.
Wohnen ist ein Grundbedürfnis.
Korrekt. Leider hat sich die Wirtschaft seit den 1950er-Jahren in eine Richtung entwickelt, in der Boden nicht mehr als essenzielle Ressource angesehen wird, die dem Gemeinwohl dienen muss, sondern als Wertanlage fungiert. Mieteinkünfte sind nur eine glückliche Nebenerscheinung. Den Hauptgewinn machen Investoren mit der Steigerung des Bodenwerts.
In den 1980er-Jahren gab es in der Schweiz bereits eine Wohnungsknappheit. Was hat sie damals verursacht? Und wieder beendet?
Die damalige Wohnungsknappheit kam zusammen mit einem Crash zustande, als viele Banken und Immobiliengesellschaften Konkurs gingen, weil sie falsch investiert hatten. Dadurch kam die Bautätigkeit in der Schweiz zum Erliegen. Die Wohnungsnot in den 80ern war allerdings vorwiegend auf die Zentren beschränkt. Abhilfe konnte man damals schaffen, indem man in die Breite baute.
Also indem man in Agglomerationen Wohnraum schaffte.
Genau. Aber heute geht das kaum noch. Heute muss man innerhalb der bereits bestehenden Wohngebiete mehr Wohnraum schaffen. Das ist eine komplexe Angelegenheit. Immer öfter kommen darum alte Wohnquartiere und Siedlungen unter Druck. Sie werden im Zuge der «Verdichtung» abgerissen und neu gebaut. Alle langjährigen Anwohnerinnen und Anwohner, die im alten Gebäude einen tiefen Mietzins gehabt haben, erhalten damit die Kündigung und können sich die neuen Wohnungen, die entstehen, nicht mehr leisten. Damit wird die Wohnungsnot sogar noch verschärft, weil die Menschen in den abgerissenen Gebäuden wiederum auf der Suche nach Wohnraum sind. Die Wohnungsknappheit in den 1980er-Jahren hatte darum bei weitem nicht das Ausmass der heutigen Wohnungsnot.
Nun hat Bundesrat Guy Parmelin einen «Aktionsplan gegen die Wohnungsknappheit» vorgestellt. Wird dieser Abhilfe schaffen?
Na ja, ich finde es zumindest schon mal gut, dass auf Bundesebene überhaupt über Wohnungspolitik geredet wird. Der Bund hat ab den 1960er-Jahren eigentlich immer darauf beharrt, dass die Erstellung von Wohnraum Angelegenheit von den Gemeinden und vor allem den Privaten ist, und sich kaum engagiert. Insofern ist dieser Aktionsplan schon mal ein Fortschritt.
Das klingt, als wäre die Messlatte sehr tief angesetzt.
Ja, die Messlatte kann man gar nicht tiefer legen. In allen anderen kontinentaleuropäischen Ländern gibt es eine substanziellere Wohnpolitik auf Bundesebene als in der Schweiz.
Was halten Sie konkret von Parmelins Aktionsplan?
Er ist enttäuschend. Und aus meiner Sicht reine Symbolpolitik. Aber ich hoffe, dass er einen Anfang hin zu einer besseren Wohnpolitik bedeutet.
Was wären denn aus Ihrer Sicht konkrete Lösungen, die schnell viel bewirken könnten gegen die Wohnungsnot?
Ich kann Ihnen nur eine politisch unrealistische Lösung anbieten.
Schiessen Sie los.
Man müsste den Boden – so wie im bäuerlichen Wohnrecht – der Spekulation und der Renditeorientierung entziehen. Das heisst nicht, dass Wohnraum nicht renditeorientiert erstellt werden dürfte. Aber der Bodenpreis wäre gedeckelt. Er könnte nicht bis ins Unermessliche steigen. Dieser Vorschlag ist nichts Neues. In vielen Bereichen, in denen es um essenzielle Ressourcen geht, werden die Preise gedeckelt. Beim Boden wird ein Preisdeckel aber politisch wohl nie durchkommen.
Gibt es auch noch realistischere Lösungen?
Na ja, auch bei den Mietpreisen gibt es bereits bekannte Instrumente, die politisch seit Jahren systematisch abgelehnt werden.
Welche Instrumente meinen Sie? Etwa dass es einfacher sein sollte, gegen unrechtmässige Mietzinserhöhungen vorzugehen?
Ja, zum Beispiel. Oder dass Vermieter den Mietzins der letzten zwei, drei Jahre angeben müssten, dass es Kontrollen gäbe. Wie gesagt, diese Instrumente sind längst bekannt. Wir brauchen nicht noch mehr Forschung dazu. Der politische Wille von der Mehrheit im National- und Ständerat, die Situation der Mieterinnen und Mieter zu verbessern, ist einfach nicht da. Stattdessen will man die Situation der Vermieterinnen und Eigentümer verbessern.
Sie gaben nun immer der bürgerlichen Politik die Schuld an der jetzigen Wohnungsnot. Könnte man nicht auch sagen, dass die Linken es versäumt haben, sich für die Mieterinnen und Mieter einzusetzen?
Ja, man kann durchaus sagen, dass die Linken es all die Jahre nicht geschafft haben, die Menschen mit dem Thema Wohnungsnot und ihren Lösungen zu mobilisieren. Aber Teil des Problems ist ja, wie gesagt, auch, dass jene, die als Erstes von der sich verschlechternden Wohnungssituation betroffen waren, grösstenteils nicht stimmberechtigt waren und sind. Aber ich glaube, die Abstimmung zur 13. AHV hat gerade erst gezeigt, dass sozialpolitische Themen mobilisieren können.
Genau im Sinne der selbst ernannten "Partei des Volchs". Und ja. Die SVP schadet dem gemeinen Volk. Und das seit Jahrzehnten.