Der Schweizer Souverän kann ganz schön nerven. Das werden sich nicht wenige Mitglieder von National- und Ständerat während der Frühjahrssession gesagt haben, die am Freitag endet. Mitten hinein platzte die Annahme der Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente, die den Bruch mit der fast legendären Zurückhaltung gegenüber sozialen Wohltaten markierte.
Manche Bürgerliche tun sich schwer mit dem Volksentscheid. Das zeigt das teilweise penible Gerangel um die Zusatzfinanzierung. In eine ähnliche Kategorie gehört die vom Nationalrat beschlossene Abschaffung der Alterskinderrenten. Sie hat den Beigeschmack eines «Revanchefouls», auch wenn man nachvollziehbare Gründe vorbringen kann.
Immerhin wird die 13. AHV-Rente ab 1. Januar 2026 definitiv ausbezahlt, selbst wenn die Finanzierung nicht endgültig erklärt ist. Abklärungen des Bundesamts für Justiz ergaben, dass die Initiative direkt anwendbar ist. Diese Präzisierung ist notwendig, denn gerade in dieser Session hat das Parlament wenig Respekt gegenüber dem Volkswillen gezeigt.
Schon vor zwei Jahren hatte das Stimmvolk eine Volksinitiative mit «linker» Schlagseite angenommen. Sie verlangt ein Verbot von für Kinder und Jugendliche zugänglicher Tabakwerbung. Knapp 57 Prozent und 15 Stände sagten Ja, ein ähnliches Ergebnis wie bei der 13. AHV-Rente. Das Parlament aber versucht, den Volksentscheid zu «sabotieren».
Bei der ersten Beratung im Ständerat im letzten Herbst wurde die Umsetzungsvorlage des Bundesrats mit Ausnahmen etwa für mobiles Verkaufspersonal oder Sponsoring von Open Airs «durchlöchert». Und der Nationalrat wollte noch weiter gehen, obwohl das Bundesamt für Justiz befand, das Gesetz sei in dieser Form verfassungswidrig.
Die SVP machte ungeniert klar, dass sie den Volksentscheid am liebsten gar nicht umsetzen würde. Die SP sprach von einem «Kniefall vor der Tabaklobby». Diese «unheilige Allianz» der beiden Pole brachte die Vorlage zu Fall. Nun droht ein Anliegen, das die Gesundheit von Minderjährigen schützen will, als «toter Buchstabe» in der Bundesverfassung zu verstauben.
Um den Artenreichtum in der Schweiz ist es schlecht bestellt. Sie gehört in Europa zu den Schlusslichtern bei der Biodiversität. Das Thema war ein Faktor bei der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative, die im Juni 2021 nach einem heftigen Abstimmungskampf abgelehnt wurden. Als «Gegenleistung» wurde mehr Ökologie versprochen.
Dazu gehören neben einem «Absenkpfad» für Pflanzenschutzmittel auch Massnahmen zur Förderung der Artenvielfalt in der Landwirtschaft. Dafür sollten 3,5 Prozent der Ackerfläche ausgeschieden werden. Seither aber hat das Parlament die Einführung zweimal verschoben, und in der Frühjahrssession beschloss der Nationalrat, die Massnahme ganz zu streichen.
Es nützte nichts, dass SVP-Bundesrat Guy Parmelin vor einem «Verstoss gegen Treu und Glauben» warnte. Eine Rolle spielten die auf die Schweiz «übergeschwappten» Bauernproteste, obwohl es primär um höhere Preise geht. Ein Nationalrat der Grünen kommentierte die bürgerliche Machtdemonstration lapidar: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.»
Vor ziemlich genau zwölf Jahren wurde die Zweitwohnungsinitiative knapp angenommen, zum grossen Ärger der Berggebiete. Sie fühlten sich vom «Unterland» gegängelt und wollten die Initiative so zahnlos wie möglich umsetzen. Erst als die SVP die «Gefahr» für eigene Volksinitiativen erkannte, kam ein Gesetz zustande, das für die Initianten akzeptabel war.
Nun ist die «Schonfrist» offenbar abgelaufen. Der Ständerat stimmte klar für eine vom Graubündner Mitte-Nationalrat Martin Candinas angeregte Lockerung. Demnach kann beim Neubau oder einer Sanierung von Häusern, die vor dem März 2012 erbaut worden waren, die Wohnfläche um 30 Prozent vergrössert werden. Der Bundesrat war im Prinzip dafür.
Er wollte jedoch, dass dadurch Erstwohnungen für die lokale Bevölkerung entstehen. Sie hat in manchen Touristenorten Mühe, eine zahlbare Bleibe zu finden. Die Urner Standesvertreter Heidi Z’graggen (Mitte) und Josef Dittli (FDP) unterstützten deshalb die Bundesrats-Variante, doch der Ständerat entschied, dass auch neue Zweitwohnungen möglich sein sollen.
Die drei Beispiele lassen sich nicht direkt vergleichen. Aber im Endeffekt geht es um den Umgang mit dem Volkswillen, ob direkt oder indirekt. Die SVP verweist dabei gerne auf ihre Masseneinwanderungsinitiative, die ebenfalls nur in einer stark verwässerten Variante umgesetzt wurde, mit dem sogenannten «Inländervorrang light».
Allerdings hatte die SVP vor zehn Jahren im Abstimmungskampf behauptet, die bilateralen Verträge mit der EU wären bei einer Annahme nicht gefährdet. Das erwies sich als Illusion. Die EU war nicht bereit, über die Personenfreizügigkeit zu verhandeln. So blieb nur die Wahl zwischen «Pest und Cholera»: die Kündigung der Bilateralen oder die Nichtumsetzung.
Ähnliche Probleme gibt es bei der Ausschaffungsinitiative. Früher musste man sich kaum um solche Dinge kümmern, denn Volksinitiativen waren fast durchwegs chancenlos. Heute ist das nicht mehr der Fall. Die Weigerung des Parlaments, solche Volksentscheide – oder Versprechungen im Fall einer Ablehnung – konsequent umzusetzen, ist jedoch fragwürdig.
Sie könnte die Hemmschwelle für eine Annahme selbst problematischer Volksbegehren weiter senken. Unsere viel gerühmte direkte Demokratie droht zu einem belanglosen «Wunschkonzert» herabzusinken. Schon am 9. Juni kommen die Prämienentlastungs- und die Kostenbremse-Initiative zur Abstimmung, beide mit beträchtlichen Erfolgschancen.
Und im September folgt vermutlich die Biodiversitäts-Initiative. Einen relativ «harmlosen» Gegenvorschlag, der zum Rückzug der Initiative geführt hätte, hat das Parlament auf Druck der Bauernlobby «gekübelt». Der Entscheid in der Frühjahrssession, die versprochenen Ökoflächen einfach zu streichen, dürfte der Initiative zusätzlichen Rückenwind verleihen.
Danke, liebe SVP Wähler🤩