Wenn man einen Galicier nach seiner Lieblingspasta fragt, wird dieser wohl antworten:
Oktopus nach galicischer Art – in Nordspanien ist man verrückt nach den gekochten Tentakeln des Meerestieres, die mit Olivenöl, Salz und Pellkartoffel serviert werden. Was früher als Gericht für Arme galt, hat sich im ganzen Land zu einer Delikatesse etabliert und ist heute kaum aus den spanischen Tapasmenüs wegzudenken.
Doch während die Nachfrage nach den Kopffüsslern zugenommen hat, sind die natürlichen Bestände im Meer deutlich zurückgegangen. Um den Appetit weiterhin zu stillen, will Nueva Pescanova, der grösste Fischkonzern des Landes, die Tiere nun in Massen industriell züchten.
Der Plan löst bis über die Landesgrenzen hinaus einen Sturm der Entrüstung aus. Das steckt (alles) dahinter:
Das Rennen um einen Durchbruch bei industriellen Zuchtfarmen von Oktopussen dauert seit den 60er-Jahren an. Anders als andere Meerestiere sind die Kopffüssler in Gefangenschaft nur schwer zu vermehren. Zudem fressen die Larven nur lebende Nahrung, mit Futtermittel können die Kopffüssler also nicht gefüttert werden.
Doch 2019 meldete der grösste spanische Fischereikonzern Nueva Pescanova mit Sitz an der galicischen Atlantikküste einen Durchbruch bei der Fortpflanzung und Aufzucht von Oktopussen in der Aquakultur. Das Erfolgsrezept ist bislang nicht an die breite Öffentlichkeit durchgedrungen. Bekannt ist allerdings, dass noch in diesem Sommer die erste Oktopus-Farm auf Gran Canaria eröffnet werden soll.
Die Zuchtanlage steht bereits, sie befindet sich am Hafen der Hauptstadt der kanarischen Insel Las Palmas. Das Unternehmen verfolgt grosse Ziele: In einem zweistöckigen Industriegebäude – anders als bei anderen Meerestier-Farmen werden die Tintenfische nicht im Meer gezüchtet – sollen jährlich bis zu einer Million Tintenfische gezüchtet werden. Daraus können rund 3000 Tonnen Krakenfleisch produziert und in alle Welt exportiert werden. Zur Einordnung: Jährlich werden weltweit rund 5 Millionen Tintenfische aus dem Meer gefangen.
Die häufigste Tintenfischart in Europa – der Octopus vulgaris – legt zwar 200'000 Eier in ihrem gesamten Leben, dennoch geht die Fangmenge in Europa jährlich zurück. Selbst in Spanien stammen heute bereits 90 Prozent des verzehrten Tintenfischs aus dem Ausland – hauptsächlich aus Marokko oder Mauretanien.
Um die Bestände im Meer wieder auszugleichen, hat die spanische Regierung Fangquoten und Schonzeiten eingeführt. An einigen Orten darf im Sommer kein Oktopus gefangen werden. Dies weckte kriminelle Machenschaften: Vermehrt sind günstigere Oktopusse aus dem Ausland unter einem falschen Etikett als einheimische Delikatessen vertrieben worden.
Nun ist eine industrielle Zucht also die Lösung auf all diese Probleme?
Das Unternehmen Nueva Pescanova rühmt sich als «Pionier» und glorifiziert sich mit dem Bau der Zuchtanlage als Retter in der Krise der schwindenden Oktopusse. Doch wirklich nachhaltig ist auch die Aquakultur nicht.
Meeresbiologinnen und -biologen zufolge wiegt das Fischfutter für den gezüchteten Oktopus mehr als zwei- oder sogar dreimal so viel wie das Eigengewicht des Kopffüsslers. Die Zucht bekämpft die Überfischung der Meere demnach nicht.
Ausserdem würde die Farm zwar neue Arbeitsplätze schaffen, doch für traditionelle Fischerinnen und Fischer würde das Vorhaben neben dem drastischen Rückgang der Fischbestände im Meer eine weitere existenzielle Bedrohung bedeuten.
Aber nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus ethischer Sicht ist das Projekt bedenklich.
Der Oktopus hat nicht nur acht Beine, sondern auch neun Gehirne und drei Herzen. Studien belegen, dass es sich bei dem Meerestier um ein empfindungsfähiges Wesen handelt, das Schmerz fühlt und aktiv versucht, ihn zu vermeiden. Kraken sind Einzelgänger und bevorzugen die Dunkelheit.
«Grosse Mengen von Oktopussen sollten niemals in unmittelbarer Nähe zusammen gehalten werden. Dies führt zu Stress, Konflikten und hoher Sterblichkeit», sagt Jonathan Birch, Professor an der London School of Economics und Experte für Tierwohl und den ethischen Umgang mit Tieren. Einem geleakten Dokument, das der BBC vorliegt, zufolge werden die Tiere in Massen in beleuchteten Wassertanks aufwachsen. Dass die Tiere artgerecht gehalten werden, ist Kritikern zufolge also nicht einmal annähernd möglich.
Die Erfinder der Zuchtfarm teilen eine andere Meinung: «Wenn sich das Tier nicht wohlfühlen würde, dann würde es sich nicht fortpflanzen.» Doch selbst die Manager rechnen damit, dass rund 10 bis 15 Prozent die Aufzucht nicht überleben werden. Dennoch hält man den Ausbau der Aquakultur hinsichtlich einer nachhaltigen Ernährung der Weltbevölkerung für notwendig und gerechtfertigt.
Ein weiterer umstrittener Punkt ist die Schlachtmethode. Sofern die Tiere ihre Larvenphase überstehen, sind sie nach 15 Monaten schlachtreif. Im eiskalten Wasser werden die Pulpos dann getötet – eine Schlachtmethode, die Studien zufolge einen langsamen, qualvollen und stressigen Tod für die Tiere bedeutet.
Das grösste Problem: Noch gibt es keine Tierschutzvorschriften, da Tintenfische davor nie kommerziell gezüchtet wurden.
Der spanische Fischereikonzern Nueva Pescanova gehört zu den weltgrössten Unternehmen der Branche. Das Unternehmen ist aus den Trümmern des in Konkurs gegangenen Unternehmens Pescanova entstanden. Das Familienunternehmen Pescanova ist in den 60er Jahren gegründet worden – und konnte in zahlreiche Länder expandieren. 2013 deckten Wirtschaftsprüfer Ungereimtheiten in der Buchhaltung – und die somit zu diesem Zeitpunkt grösste Insolvenz Spaniens in Höhe von 3,6 Millionen – auf. Der frühere Präsident Manuel Fernández de Sousa ist vor kurzem wegen Bilanzfälschungen zu sechs Jahren Haft verurteilt worden.
2015 wurde die Firma restrukturiert und neu gegründet. Das Unternehmen beschäftigt heute rund 12'000 Mitarbeitende in 19 Ländern. Trotz Umsatz von über einer Milliarde Euro steht das Unternehmen vor einem Schuldenberg von 450 Millionen Euro.
Die Bank Abanca kontrolliert fast 98 Prozent des Fischereiunternehmens und hat die Schulden des alten Unternehmens kapitalisiert. Wie die spanische Zeitung «Hispanidad» berichtet, sucht die Bank aber gerade einen Mehrheitsaktionär. Berichten zufolge finden derzeit Gespräche mit der kanadischen Firma Cooke Inc. statt. Es handelt sich dabei um das weltweit grösste Unternehmen für Fisch und Meeresfrüchte, das ebenfalls auf Aquakultur setzt.
Gut vernetzt ist das Fischereiunternehmen ohnehin.
Hinter das Projekt stellte sich nämlich unter anderem der Chef der spanischen Volkspartei (PP) und ehemalige galicische Landwirtschafts- und Gesundheitsminister, Alberto Núñez Feijóo. Angeschlossen hat sich das Fischunternehmen ausserdem der gemeinnützigen Stiftung der mächtigen spanischen Familie Ortega. Amancio Ortega – ebenfalls ein Galicier – ist einer der reichsten Männer Europas. Ihm gehört die Inditex-Gruppe, das grösste Textilunternehmen der Welt, das über acht Handelsmarken verfügt, darunter Zara, Massimo Dutti und Oysho.
Das Patent für die Züchtung von Oktopus-Larven hat Nueva Pescanova bereits im Sack. Noch fehlt die Zustimmung der kanarischen Umweltbehörde. Tierschutzaktivistinnen und -aktivisten kämpfen schon lange gegen das Vorhaben. Die Hoffnung haben sie noch nicht aufgegeben.
Die spanische Tierschutzorganisation Pacma hat zu weltweiten Protestaktionen aufgerufen. Gleichzeitig läuft eine Petition, die an die EU-Kommission für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung gerichtet ist. Internationale Aufmerksamkeit erlangte das Projekt vor allem aufgrund seiner Erstmaligkeit sowie der Sorge um das Wohl der intelligenten Tiere, welche die Forschung immer wieder verblüffen.
Einen Erfolg haben die Tierschützerinnen und Tierschützer bereits erreicht: Einige spanische Supermarktketten lehnten den Kauf von kommerziell gezüchteten Oktopussen bereits im Vorfeld ab.