Der Angriffskrieg in der Ukraine hat gezeigt, wie fragil die globale Ernährungssicherheit ist – und wie schnell sie ins Wanken gerät. Doch nicht nur geopolitische «Ernährungsschocks», sondern auch die globale Erwärmung sowie die wachsende Weltbevölkerung zwingen uns über kurz oder lang zu einem Paradigmenwechsel der Agrarpolitik. Die Frage ist nur, wie?
Mehr als 828 Millionen Menschen waren 2021 unterernährt – das entspricht rund 10 Prozent der Weltbevölkerung. Unter Hunger und Fehlernährung leiden vor allem Menschen in Afrika und Asien. Primär handelt es sich um ein Verteilungsproblem, denn heute werden genügend Lebensmittel für alle Menschen hergestellt – doch es gibt ein grosses Aber.
Der Hunger hat in den letzten Jahren aufgrund von Kriegen, Konflikten, der Klimakrise und Corona stark zugenommen. Die Welthungerhilfe geht davon aus, dass sich die Ernährungssicherheit weiter verschlechtern wird. Einerseits stellt die globale Klimaerwärmung die Landwirtschaft – die vor allem durch die Emissionen von Treibhausgasen auch zur globalen Erwärmung beiträgt – vor grosse Herausforderungen. Infolge von Dürren, Wassermangel oder etwa versalzenen Böden rechnet die Forschung in den kommenden Jahren mit weltweit sinkenden Erträgen.
Andererseits wächst die Weltbevölkerung. Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) geht davon aus, dass bis 2050 zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben – und mehr als 50 Prozent mehr Lebensmittel benötigt werden, als aktuell verfügbar sind.
Eine Ernährungswende ist aber nicht nur für den Menschen von grosser Bedeutung, sondern auch für die Umwelt und die Tiere. Denn: Landwirtschaft heisst heute vor allem intensive Bewirtschaftung und Massentierhaltung. Und diese Art der Landwirtschaft belastet die Böden, das Trinkwasser sowie die Artenvielfalt und verursacht enormes Tierleid.
Wie also kann eine wachsende Weltbevölkerung inmitten von multiplen Krisen ernährt werden? Diese Frage stellen sich Ernährungsforscher aus aller Welt. Im Idealfall kann ein alternatives Ernährungssystem nachhaltig und in ausreichender Menge Lebensmittel produzieren, die einen hohen Nährwert aufweisen.
Ein Begriff der Zukunftstechnologie heisst: vertikale Landwirtschaft. Das Grundkonzept besteht darin, Pflanzen nicht horizontal auf Feldern, sondern übereinander in Hochhäusern anbauen. Somit kann nicht nur der Bedarf an Ackerfläche verringert werden, auch der Transport in Grossstädte würde wegfallen, die Erträge wären nicht mehr vom Wetter abhängig und natürliche Lebensräume für Tiere und Pflanzen könnten renaturiert werden. Vielfach geht das Konzept mit anderen innovativen Lösungsvorschlägen einher wie etwa der Tröpfchenbewässerung, um weitere Ressourcen einzusparen.
Hört sich zu gut an, um wahr zu sein?
In der Tat gibt es auch eine Schattenseite – der hohe Energiebedarf. Was in der Natur vorhanden ist, muss im Inneren künstlich erzeugt werden – statt mit Sonnenlicht wachsen die Pflanzen durch die Beleuchtung von LED-Lampen. Weiter benötigt das urbane Farming eine Windmaschine sowie eine Klimaanlage. Sollte die Energieversorgung einmal ausfallen, kann ein Ernteausfall nicht ausgeschlossen werden.
Noch steckt die Indoor-Landwirtschaft in den Kinderschuhen. Die Investitionskosten der komplexen Anlagen sind hoch. Eine Stadt, die es sich leisten kann und in der Vertical Farming als sinnvoll erachtet werden kann, ist Dubai. Die Wüstenstadt ist nicht gerade dafür prädestiniert, konventionelle Landwirtschaft zu betreiben. So setzt die grösste Stadt im Emirat grosse Hoffnung in den Bauernhof im Wolkenkratzer – und eröffnete im letzten Jahr die grösste vertikale «Farm» der Welt. In naher Zukunft soll die 12'000 Quadratmeter grosse Anlage bis zu 3000 Kilogramm Obst und Gemüse pro Tag produzieren.
Doch mit vertikaler Landwirtschaft ist der Hunger nach tierischen Produkten noch nicht gedeckt. Tatsache ist, tierische Produkte haben mit Abstand die schlechtesten Klimabilanzen. Ersatzprodukte sind zwar beliebt, doch der Konsum von tierischen Produkten steigt in der Schweiz jährlich. Um dem Geschmack von tierischen Produkten so nah wie möglich zu kommen, tüfteln Forscher seit Jahren an künstlichen Lebensmitteln – hergestellt aus Zellen.
Doch warum sollen gerade im Labor kultivierte Lebensmittel die herkömmlichen besser imitieren? Schauen wir uns künstliches Rindfleisch genauer an. Einer lebendigen Kuh wird mit einer Pinzette ein winziges Stück Muskelgewebe entnommen, um daraus Stammzellen zu generieren. In einer Nährlösung – sprich in einem Bioreaktor – aus Zucker, Mineralien, Vitaminen und einem Wachstumsserum vermehren sich die Zellen – sogar schneller als im Tier.
Diesen Vorgang nennt man zelluläre Landwirtschaft – hierunter fallen auch tierische Produkte wie Fisch, Milch, Eier und Gelatine –, ohne dass Tiere dabei getötet oder ausgebeutet werden müssen. Nicht nur die Massentierhaltung würde zum Anachronismus werden, Forschende sehen in der zellulären Landwirtschaft auch hinsichtlich der Umweltbilanz eine grosse Chance. Einerseits können auch Produkte mit einer miesen Ökobilanz wie Kaffee oder Avocados im Reaktor produziert werden. Anderseits entsteht kein «Abfall», weil nur das produziert wird, was wirklich gegessen wird.
Das Verfahren beschrieb bereits Winston Churchill in seinem Essay «Fifty Years Hence»: «Wir werden vom Aberwitz abkommen, ein ganzes Huhn zu züchten, um die Brust oder den Flügel zu essen.» Noch gibt es einige Hürden in der Entwicklung sowie in der Massentauglichkeit. Der erste Labor-Hamburger ist 2013 vom niederländischen Prof. Markus Post auf den Markt gebracht worden – und kostete exorbitante 250'000 Euro.
Doch die Forschung schreitet voran. Vor einigen Jahren hat es beispielsweise noch kein tierfreies Wachstumsserum gegeben, das bei der Herstellung des Laborfleisches benötigt wird. Das Serum stammte aus dem Blut lebender Föten. Das Muttertier samt Fötus musste dafür getötet werden. Mittlerweile wird das Serum aus Algen und Pilzextrakten gewonnen.
Algen können in Zukunft nicht nur bei der Herstellung von In-vitro-Fleisch von Bedeutung sein, sondern auch als Lebensmittel. Algen gelten als unverzichtbar für das Klima und die Ökosysteme – nicht aber in unserer westlichen Ernährung. Das könnte sich bald ändern. Denn Algen können mehr als nur Sushirollen zusammenhalten. Algen sind gesund und kalorienarm – und dennoch sättigend. Sie punkten mit einem hohen Anteil an Protein und Omega-3-Fettsäuren und enthalten essenzielle Vitamine und Mineralien.
Doch diese Eigenschaft allein macht Algen noch nicht zu einem Lebensmittel der Zukunft, sondern die Tatsache, dass Algen überall auf der Welt vorhanden sind, schnell und von allein wachsen – und vielfältig eingesetzt werden können. Algen können beispielsweise einen Teil des Getreides ersetzen, das für Brot oder Pasta benötigt wird. Somit würde das Lebensmittel nicht nur gesünder und kalorienärmer, sondern auch nachhaltiger.
Insekten gelten als weitere vielversprechende Nahrungsmittelquelle der Zukunft. Es gibt rund 2000 essbare Insektenarten. Bereits heute gelten Insekten für mehr als zwei Milliarden Menschen, hauptsächlich in Asien, Afrika und Südamerika, als eine der wichtigsten Eiweiss- und Proteinquellen.
Ihr Proteingehalt liegt zwischen 35 und 77 Prozent. Als Vergleich: Rind-, Hühner- oder Schweinefleisch enthalten nur rund 20 Prozent. Auch die Ökobilanz überzeugt: Die Proteinbomben benötigen kaum Wasser, Futtermittel und Land.
Nach so viel Zukunftsmusik zurück zu Lebensmitteln der Gegenwart: Hülsenfrüchte (Leguminosen). Kichererbsen, Bohnen und Co. dürften aufgrund des klimaschonenden Anbaus auch in Zukunft eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Da die Wurzeln von Hülsenfrüchten eine Symbiose mit Knöllchenbakterien eingehen, wird die Bodenfruchtbarkeit erhöht. Somit sorgen Leguminosen sozusagen selbst für die Düngung – und brauchen kaum bis gar keinen synthetisch hergestellten Stickstoffdünger.
Verbesserung des Humus – gemeint ist nicht jener zum Essen, sondern die abgestorbene organische Substanz des Bodens – spielt auch bei der Permakultur eine zentrale Rolle. Grundsätzlich geht es bei dieser Anbaumethode, die bereits in den 70er-Jahren entwickelt wurde, darum, ein Ökosystem mit natürlichen Abläufen zu erschaffen, das fast ohne den Eingriff des Menschen auskommt.
Dabei wird die Fläche bestmöglich ausgenutzt, das heisst, Obst und Gemüse werden dicht an dicht, unter- und übereinander kultiviert. Auf Monokulturen sowie auf den Einsatz von Dünger und Pestiziden wird verzichtet, womit die Artenvielfalt gefördert und die Bodenqualität verbessert werden kann.
Noch kaum bekannt ist Aquaponik – eine Polykultur, welche die Fischzucht und Gemüseproduktion in einem Kreislaufsystem kombiniert. Der Name wie auch die Nahrungsmittelproduktion ist eine Verschmelzung von Aquakultur und Hydroponik. Bei der Aquakultur handelt es sich um die Zucht aller im Wasser lebenden Organismen, insbesondere Fisch, Muscheln oder Algen. Hydroponik nennt man den Anbau von Pflanzen im Wasser – statt in der Erde.
Konkret bedeutet das: In einem Becken wachsen beispielsweise Fische auf – das Wasser enthält durch die Fischhaltung wertvolle Dünger für Pflanzen. Mittels einer Wasserpumpe werden die Pflanzenbeete mit dem nährstoffreichen Wasser versorgt. Dabei wird das Wasser gereinigt – und kann zurück ins Fischbecken.
Der grösste Vorteil ist der niedrige Wasserverbrauch: Aquaponik kommt mit rund 90 Prozent weniger Wasser aus als die konventionelle Landwirtschaft. Zudem kann Gemüse – genauso wie beim Vertical Farming – in Regalen kultiviert werden und ist dementsprechend platzsparend. Der grösste Nachteil: Die Fische wachsen in einem kleinen Lebensraum auf.
Es ist viel in Bewegung. Auf der ganzen Welt werden Alternativen zur traditionellen Landwirtschaft erforscht, ausprobiert und perfektioniert. Von einer Umbruchstimmung kann man noch nicht sprechen, dafür sind viele Technologien noch nicht ausgereift oder erfordern immense Investitionskosten. Eine der grössten Hürden dürfte wohl die Akzeptanz sein. Denn traditionelle Landwirtschaft und die damit produzierten Lebensmittel haben viel mit unserer Identität und Kultur zu tun.
Doch wer weiss, vielleicht werden sich unsere Nachkommen eines Tages darüber wundern, dass gewisse Lebensmittel früher einmal nur saisonal verfügbar waren, nicht aus Reaktoren stammten – und wir Fleisch von Tieren gegessen haben.
Aus meiner Sicht hätte das für alle Beteiligten, inkl. Tiere, nur Vorteile.
Sie sind nur nicht gerecht verteilt.
Und auch wenn ein Teil der Menschen beschliesst, aus Goodwill nur noch Laborpamps zu essen, bedeutet das nicht das die „überzähligen“ Lebensmittel dort ankommen wo Hunger herrscht.