Ich hasse Minigolf. Gibt es etwas Langweiligeres? Ball setzten, schlagen, das Loch verfehlen, abermals den Ball setzen und wieder verfehlen. Minigolf ist ein Sisyphus-Spiel für Kleingeister, denen der Zutritt zum richtigen Golfplatz auf ewig verwehrt sein wird. Und nun soll ich im Metaverse - jenem virtuellen Paralleluniversum, in dem die Freiheit keine Grenzen kennt - ausgerechnet Minigolf spielen.
Das sei super, um sich anzuklimatisieren, sagte mir Tomislav. Was auch immer mein alter Freund damit meint, er weiss, wovon er spricht: Seit er aus der Schweiz ausgewandert ist, lebt er nicht nur in einer dalmatinischen Küstenstadt, sondern mindestens teilweise auch im Metaverse. Seit die Pandemie ausgebrochen ist, haben wir uns nie mehr getroffen. Höchste Zeit für ein Wiedersehen!
Wir haben uns auf «Tourist Trap» verabredet. Eine kleine Insel mit karibischem Charme, Meer und strahlend blauem Pixel-Himmel so weit das Auge reicht. Tomislav ist schon da. Mit einem Minigolfschläger in der Hand winkt er mir zu. Was mir sofort auffällt: Er hat keine Beine. «Braucht man nicht», meint er. Beine würden überschätzt. Man teleportiert sich hier, wohin immer man will.
Nun wird mir allmählich klar, was er mit anklimatisieren meint. Im Metaverse gelten eigene Regeln, physikalische Gesetze haben nur bedingt Geltung. So stehe ich im Wohnzimmer, halte einen kleinen Plastik-Controller in der Hand, von dem ich glaube, er sei ein Minigolfschläger, stelle mich parallel zum Ball hin und visiere das Loch vor mir an. Ich hole mit dem Schläger aus, spüre einen kleinen Widerstand, so als hätte ich tatsächlich einen Ball getroffen. Verblüffend: Es fühlt sich an wie Minigolf und macht trotzdem Spass. Eine kleine Banalität der realen Welt wird in der Simulation zum Faszinosum.
Jetzt verstehe ich auch, warum Tomislav für unser erstes Treffen im Metaverse einen Minigolfplatz ausgesucht hat. In der Realität hätten wir uns vermutlich in einem Pub oder einem Restaurant verabredet. Doch im Metaverse macht ein Bier nicht beschwipst und ein Steak nicht satt. Irgendwas muss man aber tun, um sich ungezwungen zu unterhalten. Wer bloss stier auf einem Stuhl sitzt und sich an der Tischkante festhält, bringt kein Gespräch in Gang. Also spielen wir nebenbei ein paar Löcher Minigolf, während wir uns über zweieinhalb Jahre Pandemie, Sommerhitze, Krieg und persönliche Freundschaften austauschen.
Obwohl die comichaften Gesichtszüge Tomislav nur ansatzweise wiedergeben, fühle ich mich ihm in einer Weise doch näher als bei einem Skype-Gespräch. Wir blicken nicht bloss durch ein Fenster in die Wohnung des anderen, wir sind zusammen in einer anderen Welt, völlig abgekapselt von der Realität. In der Virtualität entsteht so ein Gefühl von absoluter Präsenz.
Das ist auch anstrengend. Ermüdet man bei einem Videocall schon schneller als bei einem herkömmlichen Telefonanruf, so ist die Begegnung in der virtuellen Realität noch einmal ungleich fordernd. Die Brille - ausgestattet mit Computerchip, Sensoren und Displays - wiegt bald schwer auf dem Kopf. Vor allem aber wird das Gehirn stets getäuscht, indem jedem Auge ein leicht versetztes Bild der virtuellen Umgebung gezeigt wird und so der Eindruck eines dreidimensionalen, begehbaren Raums entsteht.
Nach einer guten Stunde logge ich mich wieder aus dem Metaverse aus und wische mir ein paar Schweisstropfen von der Stirn.
Am 28. Oktober 2021 verkündete Mark Zuckerberg, dass sein Konzern von nun an nicht mehr Facebook, sondern Meta heisse und ein neues Ziel verfolge: das Metaverse bauen. Eine neue digitale Welt, die einst das Internet ablöse. Ein dreidimensionales Internet, eine schrankenlose Welt, in der sich alle Menschen mit ihren Avataren frei bewegen können.
Seither ist das Metaverse in aller Munde. Wobei sich jeder etwas anderes darunter vorstellt. Schliesslich ist das Metaverse ja erst in Entstehung. Es gibt bisher nur einzelne Anwendungen wie das Minigolf-Spiel, soziale Chatapps in 3D und andere Erlebniswelten, in die man mit einer Virtual-Reality-Brille eintauchen kann.
Für unsere Reise ins Metaverse haben wir die Brille Oculus Quest 2 von Galaxus ausgeliehen. 2014 kaufte Facebook das Start-up Oculus, einen Hersteller von Virtual-Reality-Brillen. Die Medien zeigten sich verblüfft. Wie passt das zu einem sozialen Netzwerk? Heute wissen wir: Es war der Anfang von etwas Neuem, der Anfang von etwas Grossem. Jährlich steckt Zuckerberg 10 Milliarden Dollar in die Weiterentwicklung der Hard- und Software für das Metaverse. Eine Wette auf die Zukunft des Internets, von der niemand weiss, ob sie aufgeht.
Klar ist nur: Niemand sehnt sich so sehr nach einem neuen Internet wie der Facebook-Gründer. Denn anders als Google, Microsoft und Apple, besitzt Meta kein eigenes Betriebssystem, sondern bloss eine halbe Handvoll Social-Media-Apps.
Zuckerberg hat das «Metaverse» annektiert. Dabei ist dieses viel älter als sein Konzern. Der Begriff stammt aus dem Roman «Snow Crash» von Neal Stephenson aus dem Jahre 1992. Darin beschreibt der Science-Fiction-Autor einen virtuellen Raum, der parallel zur realen Realität existiert. Man kann sich darin treffen, Geschäfte machen, Grundstücke erwerben, Geld verdienen - und krumme Dinge durchziehen.
Der Held Hiro Protagonist arbeitet in der realen Welt als Pizzakurier und lebt in einem kleinen Lagerraum. Da loggt er sich am liebsten ins Metaverse ein, wo er ein grosses Haus bewohnt, sich mit mächtigen Leuten umgibt und in Kämpfen auch mal einem Kontrahenten mit einem japanischen Samuraischwert den Kopf abschlägt. Ein wahrer Held. Ich nenne mich Hiro Protagon1st, tauche erneut ins Metaverse ein und hoffe auf mehr Action als beim Minigolfen.
Bevor ich mich wieder ins Metaverse einlogge, nehme ich mich meines Avatars an. Er soll mir mehr gleichen. Schliesslich ist er ja irgendwie ich. Auf der Website «Ready Player Me» lade ich ein Bild von mir hoch, daraus generiert eine Software mein Alter Ego im Comic-Stil. Das Ergebnis gefällt mir ganz gut.
Tomislav anscheinend weniger. Er mustert mich lange. Es sieht aus, als verziehe sein Avatar das Gesicht. «Na ja, halbwegs getroffen», sagt er. Die Haare seien zu lang und der Körper zu massig. «Corona», sage ich, «du hast mich halt schon lange nicht mehr gesehen im Real Life.» Ich habe tatsächlich «Real Life» gesagt, ich habe Meta-Sprache angenommen. Es gibt die reale Realität und die virtuelle Realität, die sich oft nicht weniger real anfühlt. Oder wie der australische Philosoph David Chalmers in seinem kürzlich erschienenen Buch «Reality+» schreibt:
Genug philosophiert, Tomislav öffnet ein Portal. Eintauchen! «Hier geht's zu einer anderen Ecke des Metaverse», höre ich noch und schon bin ich da. In einer Art exquisiten, privaten Hausparty, hoch oben auf einer Dachterrasse. Ich sehe die Skyline von Schanghai. Oder ist es Hongkong, vielleicht Singapur? Alles zusammen. Das geht nur im Metaverse. Im Ohr dumpfe Minimal-House-Beats, erkunde ich im Schlepptau von Tomislav die Umgebung.
Waren wir auf dem Minigolfplatz noch unter uns, sind wir nun inmitten einer Ansammlung von Avataren, einige tanzen, manche quatschen. Passiert man sie, bekommt man ein paar Wortfetzen mit, stehts englisch, in verschiedenen Akzenten. Ich sprech den Avatar neben mir an. Elfenohren, weibliche Formen, einen wuchtigen Ponyschwanz am Hintern - vielleicht hätte ich mich doch mehr verfremden sollen, schiesst es mir durch den Kopf und ich zieh den Coronabauch ein.
Whitey oder auch Y. T. heisst sie, vielleicht aber auch ganz anders. Ich habe es nicht ganz verstanden. Ich unterhalte mich mit ihr. Sie kommt aus Kenia, macht irgendwas mit Craft Coffee. Ihr Vater stammt von da, nach den Studienjahren in Irland kehrte sie wieder zurück, zumindest vorerst. Der Krieg in der Ukraine sei schlimm, die Bedrohung in Taiwan real. Das Metaverse helfe ihr abzuschalten, die Probleme loszuwerden. Doch es sei nicht von der Hand zu weisen, wenn es die Welt nicht mehr gäbe, dann sei es auch aus mit dem Metaverse.
Dann ist sie weg. Auch Tomislav habe ich aus den Augen verloren. Ich stolpere durch die zweistöckige Skybar. Plötzlich rennt ein übertriebengrosser Mickey Mouse auf mich zu, zieht eine Knarre und macht «Peng!». «Hahaha», höre ich ihn lachen und schon ist er weg. Dann sehe ich Whitey oder Y. T. - oder hiess sie doch Trinity? - wieder. Auf ihrer flachen Hand steht ein kleiner Kobold mit breitem Mund und rotem Hut. Es sieht aus, als würde sie mit ihm flirten.
Was ist denn ein Ritt durch eine begehbare virtuelle Welt anders als ein Trip auf LSD, frage ich mich. Da sehe ich Tomislav. Ich halte mich an ihm fest. Na ja, so gut das geht, ohne eigentlichen Körper, wenn man einfach durch den andern hindurchgehen kann.
«In hundert Jahren», so prophezeit Philosoph Chalmers, «ist die virtuelle Realität so weit fortgeschritten, dass man sie kaum mehr von der physikalischen Realität unterscheiden kann.» Ein diffuses Gefühl steigt in mir auf. Ich logge mich aus.
Am 24. Juni 2003 ging Second Life online, eine Internetwelt, in der jeder ein zweites, virtuelles Leben führen kann. Die Idee dazu hatte der US-Unternehmer Philip Rosedale. Firmen wurden im Second Life ansässig, kauften Grundstücke und verkauften virtuelle Güter. Im Second Life brach ein Hype aus. Bis heute gibt es wohl keine andere virtuelle Welt, die der Vorstellung des Metaverse näher kommt. Zeitweise wurde sie von mehreren Millionen Menschen bevölkert, zu einem Massenphänomen wie Facebook oder Netflix wurde Second Life aber nie.
Man fragt sich: Was kann das Metaverse mehr sein als ein Second Life mit Virtual-Reality-Brillen? Und warum sollte sich die Masse dafür begeistern?
Für den Internet-Theoretiker Evgeny Morozov ist der Fall klar: «Der Hype um das Metaverse wird nächstes Jahr zu Ende sein. Es ist vor allem ein Marketingkniff von Mark Zuckerberg, um mit einer neuen Diskussion von den Problemen seines Unternehmens abzulenken.» Viele Menschen befreien sich gerade von der technischen Abhängigkeit, löschen Social-Media-Apps und stellen ihr Handy öfter in den Flugmodus. Sie wollen nicht mehr Virtualität, sondern mehr Realität. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es den Virtual-Reality-Brillen ergeht wie den 3D-Fernsehern und sie als Techno-Schrott enden.
Anders gesehen: Wenn man die auf Immersion und Vernetzung basierende Digitalität konsequent weiterdenkt, dann gelangt man irgendwann zu einem begehbaren Internet, in das man gänzlich eintaucht. Der Weg scheint vorbestimmt: vom stationären Desktop-Bildschirm zum portablen Handydisplay zur omnipräsenten Cyberbrille. Sobald diese so leicht und unauffällig sind wie Sonnenbrillen, werden sie auch gesellschaftlich akzeptiert sein. Und wenn Menschen in ihnen einen Mehrwert zum Handy sehen, werden sie die Brillen auch nutzen. Also tüftelt Zuckerbergs Heer weiter an unschlagbaren Anwendungen, welche die Menschen mindestens so faszinieren wie Instagram und Facebook.
Ich setzte meine Brille wieder auf und logge mich ins Metaverse ein.
Dieses Mal lädt mich Tomislav zu sich nach Hause ein. Im Metaverse bewohnt er ein riesiges Loft. Samtsofa in der Mitte des Raumes, ein etwas gar ordentlich bestücktes Büchergestell, ein allzu regelmässig knisterndes Kaminfeuer und ausladende Dachfenster durch die Sternschnuppen zu sehen sind. Es wirkt als hätte sich ein Bitcoin-Millionär seine Einrichtung aus einem Ikea-Katalog zusammengestellt.
Ehe ich über den schlechten Geschmack meines Freundes nörgeln kann, kommt er mir zuvor: «Das alles ist noch in der Betaphase. Man kann sich sein Loft noch nicht selber einrichten», sagt er entschuldigend. Nicht einmal aufs Sofa könne man sich setzen.
Ich wundere mich, dass es keinen TV gibt. Doch Fernseher sind Relikte aus einer anderen Zeit. Tomislav schnippt mit seinen Finger und schon befinden wir uns inmitten eines 360-Grad-Films des preisgekrönten Naturfilmers Sir David Attenborough. Um uns herum paaren sich haushohe Käfer mit Mundwerkzeugen so gross wie Baggerschaufeln. «Das reicht», sage ich.
Tomislav schnippt noch einmal mit den Fingern. Dann steht er in meinem Wohnzimmer. Und zwar in meinem richtigen Wohnzimmer, nicht in jenem im Metaverse. Technisch geht das so: Die Oculus-Brille ist mit mehreren Kameras bestückt, die mein reale Umgebung filmen und sie aufs Display übertragen. So sehe ich unter der Brille sowohl mein Wohnzimmer als auch das virtuelle Abbild meines Freundes Tomislav, der jetzt eine Ritterrüstung und einen Helm trägt.
Noch gespenstischer ist die ganze Szene, da mein Wohnzimmer in ein Giftgrün getaucht ist, das an die «Matrix» erinnert. Vielleicht, so denke ich, ist das Metaverse gar nicht die Zukunft des Internets, sondern die Zukunft der Realität. Vielleicht verschmelzen physische Realität und virtuelle Realität zu einer Super-Realität oder einer Über-Realität.
Für langes Sinnieren bleibt keine Zeit. Das Monster in Ritterrüstung – beziehungsweise mein Freund Tomislav - schiesst auf mich. Die Geschosse fliegen in Zeitlupe auf mich zu. Ich geb mir Mühe, elegant auszuweichen, verbiege mein Rückgrat wie Neo in der Matrix. Es hilft alles nichts. Tomislav ist der geübtere Kämpfer. Zum Glück tut Sterben im Metaverse nicht weh und ist auch nicht endgültig.
Schon stehe ich wieder bereit zur nächsten Runde. Besser als Minigolf denke ich, und versuche meinem Namensvetter Hiro Protagonist, dem Kämpfer mit den Samuraischwertern aus Stephensons Roman die Ehre zu erweisen. Doch auch im Metaverse fällt kein Held vom Himmel. Einmal gewinne ich doch gegen Tomislav. Was für ein Gefühl! Schöner wäre nur eine Umarmung. «Geht nicht», meint Tomislav und schwafelt scherzhaft was von Social Distancing. «Aber ein Gruss mit der Faust.»
Wir treffen uns in der Mitte des Wohnzimmers. Unsere Fäuste knallen aufeinander. Mein Kontroller simuliert den Widerstand. Es fühlt sich wie echt an. Fast.
Was hältst du vom Metaverse. Ist das die Zukunft des Internets? Schreib uns via Kommentarfunktion.
(aargauerzeitung.ch)
Tönt wie ein Bericht eines Fans.
Meta ist nichts anderes als ein bisschen 3D mit dieser bekloppten Brille.
Geht raus in die Natur, geht in den Wald, geht wandern. Das ist 3D in real.
In Social Apps kann man zwar gemeinsam an einem Cheminee im Wohnzimmer sitzen und plaudern und dabei gestikulieren. Aber der Zusatznutzen gegenüber einem Videoanruf ist gering.
Spiele wie Autorennen, Flugsimulator, Ego-Shooter wirken immersiver, aber das wars dann schon. Kommen nicht ganz neue Konzepte, denke ich nicht, dass das Metaverse erfolgreich wird.