Luftalarm. In der Stadt Kersch auf der Krim sind am Donnerstagabend Flugabwehrfeuer und Explosionen zu hören. Über der von Russland annektierten Halbinsel wurden offenbar ukrainische Drohnen gesichtet, die russische Armee will nach eigenen Angaben drei Objekte abgeschossen haben. Vor allem der russische Nachschub wird weiterhin immer wieder zum Ziel von ukrainischen Angriffen, Kersch liegt an der Eisenbahn- und Strassenbrücke – die Lebensader für die Krim, die die Halbinsel mit dem russischen Festland verbindet. Eben diese Brücke macht die Versorgung der russischen Armee an der südlichen Front verwundbar.
Die erneuten Explosionen zeigen: Russische Militäranlagen auf der Krim sind nicht mehr sicher. Der Kreml reagiert auf dieses Sicherheitsproblem und zieht nach Angaben westlicher Geheimdienste einen Teil der Kampfflugzeuge und Hubschrauber von der Halbinsel ab. Das ist ein erneuter Rückschlag für Wladimir Putin im Ukraine-Krieg.
Die Ukraine hat durch moderne Waffensysteme aus dem Westen mit hoher Reichweite nun andere strategische Möglichkeiten. Trotzdem bleibt der Grossangriff aus, den die ukrainische Führung schon vor Monaten in der Region Kherson angekündigt hat. Das könnte aber die Strategie der ukrainischen Führung gewesen sein, denn Putins Truppen sitzen im Süden zunehmend in der Falle.
Beide Seiten verlegten in den vergangenen Wochen viele Truppen und militärisches Gerät in die Region Kherson. Im Süden sei es ukrainischen Soldaten gelungen, einen Vorstoss russischer Truppen nordöstlich von Kherson zu verhindern, sagte ein ukrainischer Militärexperte am Donnerstag. Präsident Selenskyjs Berater Olexij Arestowytsch erklärte in einer Videobotschaft, derzeit herrsche eine strategische Pattsituation. Seit dem vergangenen Monat seien russische Truppen nur «minimal vorangekommen», und in einigen Fällen hätten die ukrainischen Streitkräfte Boden gutgemacht.
Trotzdem verzeichnete auch die ukrainische Armee kaum Geländegewinne um Kherson. Die Region ist strategisch besonders wichtig und im Süden des Landes könnte sich womöglich das Schicksal der Ukraine im Angesicht des russischen Angriffskrieges entscheiden.
Das hat folgende Gründe:
Das Gelände im Süden der Ukraine ist relativ weitflächig und begünstigt militärisch somit die angreifende Seite. Deswegen gab es in der Region Kherson anfangs ein andauerndes Hin und Her: Wenn beispielsweise die russische Armee einige Dörfer erobern konnte, gelang es der Ukraine oft, sie mit einem Gegenangriff wieder zurückzuerobern.
An einigen Stellen der Front ist dieses militärische Schachspiel noch immer zu beobachten, aber die Lage hat sich grundlegend verändert:
Besonders der Kampf um die genannten Brücken ist erbittert. So haben ukrainische Streitkräfte zuletzt drei Brücken über den Dnipro attackiert, dabei wurde auch die Antonovsky-Brücke getroffen – die letzte und grösste Verkehrsader, die den südlichen Teil der Region mit dem nördlichen verbindet.
«Diese Schläge erlauben Russland derzeit nicht, die Brücken für den Transport von schwerem Gerät zu nutzen», sagte Nataliya Humenyuk, eine Sprecherin des südlichen Operationskommandos der Ukraine. In den sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die zeigen sollen, wie eine Brücke von der Ukraine mit Raketen des US-Raketenwerfers HIMARS attackiert wurde.
Local sources say that Antonivsky bridge in occupied Kherson has been hit again.Waiting for official information. pic.twitter.com/NOAhMB7oMV— Anton Gerashchenko (@Gerashchenko_en) August 7, 2022
Die Zerstörungen der Brücken werden in der Ukraine zwar als Erfolg gefeiert, aber sie stehen natürlich nicht für eine erfolgreiche Gegenoffensive, denn ukrainische Kräfte müssten natürlich auch den Dnipro überqueren, wenn sie Kherson zurückerobern wollen würden.
Dazu scheint die Ukraine derzeit nicht in der Lage zu sein. Wenn tatsächlich ein Grossangriff geplant ist, läuft dem ukrainischen Militär die Zeit davon. Im Herbst erhalten die russischen Truppen mutmasslich Nachschub an Soldaten, weil Wehrdienstleistende Verträge als Berufssoldaten bekommen können.
Ausserdem beginnt dann die Regenzeit, im weitläufigen Gelände der Südukraine bleiben die Panzer dann im Matsch stecken. Während Putin damit droht, die Region Kherson mit einem Referendum im September zu annektieren, werden Angriffe mit Beginn der kälteren Jahreszeit kaum noch möglich sein.
War die Ankündigung der ukrainischen Grossoffensive also nur eine Finte oder hat sich die Ukraine überschätzt? «Ich bin ehrlich zu Ihnen: Ich weiss es nicht, aber das ist etwas, das mich verrückt macht», erklärte Konrad Muzyka, ein Militäranalyst und Direktor von Rochan Consulting der US-Zeitung Politico. Experten wie Muzyka wissen nicht, warum die Ukraine diesen vermeintlichen Angriff so offen kommunizierte, weil Russland deshalb natürlich Truppen in den Süden verlegte. «Aus militärischer Sicht macht das absolut keinen Sinn.»
Ob nun die ukrainische Armee aus fehlender Kraft oder aufgrund einer Kriegslist auf den Grossangriff verzichtete, lässt sich aktuell noch nicht sagen. Sie verfügt zwar über viele Soldaten und Freiwillige, die in kurzer Zeit an der Waffe ausgebildet wurden, aber der Ukraine fehlt es noch immer an Waffen und schwerem Gerät. Das macht einen Angriffsplan unwahrscheinlicher.
Das ist auch eine bittere Lektion, die beide Seiten in diesem Krieg bisher lernen mussten: Im Kampf gegen moderne Waffen und Artillerie bringt es nichts, Tausende Soldaten auf einen Punkt in der Front zu schicken. Sie werden zu Kanonenfutter, die Verluste sind immens. Auch das erklärt die gegenwärtige Pattsituation im Süden.
Mit Blick auf den Ukraine-Krieg und das beeindruckende Durchhaltevermögen der ukrainischen Armee vergessen Beobachter gelegentlich, dass trotz westlicher Waffenlieferung dort noch immer ein grosses militärisches Ungleichgewicht herrscht – zugunsten Putins.
Deshalb kann der aktuelle Kriegsverlauf und der ausgebliebene Grossangriff auf den Süden als Erfolg gewertet werden:
Selbst wenn die angekündigte Grossoffensive der Ukraine nur eine Kriegslist war, es war trotzdem eine strategische Meisterleistung. Moskau zu zwingen, seine Schwerpunkte und seine Soldaten zu verlagern, sollte als «ein ziemlicher Erfolg» betrachtet werden, meinte auch Mykola Bielieskov, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ukrainischen «Nationalen Institut für strategische Studien», im Gespräch mit «Politico». «Es ist das erste Mal in dem Krieg, dass Russland seine Pläne aufgrund des Vorgehens der Ukraine korrigiert», sagte er. «Vorher lag die Initiative ausschliesslich in russischen Händen.»
Der Experte ist sich sicher, dass ein Grossangriff auf Kherson ein Fehler gewesen wäre, weil der Ukraine dafür die Waffen fehlen würden. Trotzdem wären Putins Angriffspläne «zunichte gemacht worden».
Natürlich kann die Ukraine wahrscheinlich nicht bis Herbst die Befreiung von Kherson feiern und eventuell muss Präsident Wolodymyr Selenskyj dabei zuschauen, wie dort von Russland mutmasslich gefälschte Referenden durchgeführt werden. Militärstrategisch hat die Ukraine aber die russische Armee in eine Falle gelockt.
Russische Angriffe werden über den Dnipro sehr verlustreich, wogegen der Nachschub der russischen Truppen mit modernen westlichen Waffen aus der Entfernung angegriffen werden kann und Partisanen auf der von Russland besetzten Seite der Region Kherson Anschläge und Sabotageakte verüben können. Das macht die Situation im Süden der Ukraine für Putin prekär und die Besetzung der Region zur Belastung für die Kampfmoral seiner Soldaten.
Es geht für die Ukraine demnach weniger um einen Grossangriff auf breiter Front, sondern laut Analyst Bielieskov um die «langsame und methodische» Zerschlagung der russischen Streitkräfte. Im Rahmen der Möglichkeiten der ukrainischen Verteidiger erscheint das auch als einzig denkbares Szenario.
Ein Angriff auf feindliche Stellungen ist aber wesentlich komplexer, man muss verschiedene Truppengattungen koordinieren, das notwendige Ausbildungsniveau ist dadurch höher, und es braucht eine starke Überzahl, um den Gegner erfolgreich zurückdrängen zu können.
Diese Offensive hat begonnen + für die UKR muss Priorität haben, Kherson ohne grosse Verluste zu erobern. Also kann die Taktik nur die jetzige sein, dass man die Versorgung abschneidet, auf weitere Waffen aus den USA (lend&lease) wartet, die RUS wie bisher punktuell so lange angreift, bis ihre Vorräte an Mensch+Material erschöpft sind + das gesamte westliche Dnjepr Ufer mehr oder weniger der UKR wie eine reife Frucht fällt.