Als der deutsche Aussenminister Johann Wadephul (CDU) Mittwochnacht in Antalya landet, ist die Umgebung des Flughafens in der türkischen Urlaubsregion bereits in tiefe Finsternis gehüllt. Mitten im Ferienparadies versammeln sich im nahegelegenen Ort Belek am Donnerstag die Aussenministerinnen und Aussenminister der NATO zu einem informellen Treffen. Doch bereits am Vorabend war klar: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die NATO-Gespräche von Ereignissen überschattet werden, die circa 700 Kilometer weiter nördlich stattfinden.
Denn in Istanbul kommt es wohl zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland. Wie genau diese ablaufen werden, ist zwar vollkommen unklar. Fest steht aber seit dem späten Mittwochabend: Vorerst reisen weder Wladimir Putin noch sein Aussenminister Sergej Lawrow in die Türkei.
Die russische Delegation aus Beratern und Vizeministern ist vor allem für diejenigen ein Schlag ins Gesicht, die an ernsthafte Verhandlungen geglaubt haben. Dabei ist der Kremlchef aktuell in Not. Der internationale Druck auf ihn wächst, und er kommt nicht nur von den westlichen Verbündeten der Ukraine.
Das ist besonders deswegen bemerkenswert, da sich Russland selbst in diese politische Misslage gebracht hat. Nun sucht Putin nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse – und stösst dabei auch Verbündete vor den Kopf.
Noch kurz vor Beginn des NATO-Treffens in Belek wissen viele der Teilnehmer noch nicht wirklich, wie lange sie in der Türkei sein werden. Im Hintergrund läuft Krisendiplomatie auf Hochtouren. Die Lage ist volatil, jeden Moment kann sich etwas ändern. Es herrscht Chaos, weil Russland sich lange nicht in die Karten blicken liess.
Davon betroffen ist auch der deutsche Aussenminister Johann Wadephul. Eigentlich sollte er bereits am Donnerstagabend in Estland bei einem Treffen des Ostseerates sein. Aber noch am Mittwoch wurde klar, dass sich die Pläne ändern werden. Denn im Zuge des NATO-Treffens kommen am Donnerstagnachmittag noch einmal die Aussenminister der USA, Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Grossbritanniens im sogenannten «Quint»-Format zusammen. Gesprochen wird vor allem über die Ukraine.
Das zeigt, dass in den vergangenen Tagen etwas in Bewegung geraten ist. Mehr noch: Es könnte eine Chance für Diplomatie entstehen – trotz Putins Absage. Deswegen sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des NATO-Treffens sicherlich immer mit einem Auge bei den Geschehnissen in Istanbul.
Dabei gibt es auch innerhalb der NATO ausreichend anderen Gesprächsbedarf. Die Aussenministerinnen und Aussenminister müssen den nächsten NATO-Gipfel im Juni in Den Haag vorbereiten. Dabei geht es vorrangig darum, sich auf ein neues Ausgabenziel für Verteidigungsausgaben zu verständigen.
Einerseits möchte die westliche Allianz damit auf die Bedrohungen durch Russland und China reagieren. Andererseits wäre eine Anpassung auch eine Antwort auf US-Präsident Donald Trump, dessen Anhänger mit einem Austritt der Amerikaner aus der NATO kokettieren.
Trump fordert, dass NATO-Mitgliedsländer mindestens fünf Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben – eine Maximalforderung, die die Amerikaner selbst nicht erreichen. Es gilt als wahrscheinlich, dass sich die Allianz auf Ausgaben von 3,5 Prozent bis zum Jahr 2032 einigen wird.
Die Bundesregierung möchte hierbei eine Vorreiterrolle einnehmen, nachdem Deutschland viele Jahre selbst in der Frage auf der Bremse gestanden hatte. Trotzdem ist es eine Überraschung, dass sich Aussenminister Wadephul öffentlich hinter Trumps Forderung nach einer massiven Erhöhung der Verteidigungsausgaben der NATO-Staaten auf jeweils fünf Prozent ihrer Wirtschaftsleistung stellt. Man folge Trumps Einschätzung, dass dies notwendig sei, sagte der CDU-Politiker in der Türkei nach einem Gespräch mit US-Aussenminister Marco Rubio.
Die Idee dahinter: Die Bundesregierung möchte Trump Entgegenkommen signalisieren, nicht zuletzt um die Amerikaner als sicherheitspolitischen Akteur in Europa zu halten. Dabei kann Deutschland davon ausgehen, dass sich die Militärallianz am Ende nicht auf fünf Prozent verständigen wird. Denn Länder wie Spanien oder Italien haben grosse Probleme damit, selbst das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen.
Auch für Wadephul persönlich ist es ein besonderes NATO-Treffen. Immerhin ist er erst wenige Tage im Amt, einige der Aussenminister treffen ihn das erste Mal persönlich. Deswegen steht er unter besonderer Beobachtung. Viele Aussenministerinnen und Aussenminister suchen das Gespräch mit ihm – ein Händedruck, ein kurzer Scherz –, und auch auf dem «Familienfoto» wird der CDU-Politiker in der Mitte positioniert.
Das Hauptaugenmerk liegt an diesem Donnerstag dennoch auf dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. NATO-Generalsekretär Mark Rutte sieht trotz des Fernbleibens von Putin bei den Ukraine-Verhandlungen Chancen auf Fortschritte. Er sei weiterhin vorsichtig optimistisch, dass es in den nächsten Wochen zu Durchbrüchen kommen könnte, äussert der Niederländer in Belek. Die Russen müssten aber bereit sein, mitzuspielen.
Vorangebracht werden könnten die Gespräche nur, wenn die Russen mit einer relevanten Delegation erschienen, ergänzt Rutte. «Klar ist: Der Ball liegt jetzt im Feld Russlands.» Es liege an den Russen, die notwendigen nächsten Schritte zu unternehmen.
Das ist eben das Problem. Dass Putin spontan tatsächlich nach Istanbul reist, damit hat im diplomatischen Zirkus niemand wirklich gerechnet. Trotzdem ist die Enttäuschung über die schwache Besetzung der russischen Delegation auch innerhalb der NATO gross. Der Kreml benannte vier Unterhändler und vier Experten, die nun in Istanbul sind. Demnach wird die russische Delegation von Präsidentenberater Wladimir Medinski, dem stellvertretenden Aussenminister Michail Galusin, dem Vize-Verteidigungsminister Alexander Fomin und dem Leiter des russischen Militärgeheimdienstes GRU, Igor Kostjukow, angeführt.
Kein Putin, deswegen reist auch Trump nicht in die Türkei. Die Folge: Es sind wahrscheinlich keine grossen Fortschritte in Istanbul zu erwarten. Der US-Präsident hatte eine Reise in die Türkei für Freitag in den Raum gestellt, sollte Putin kommen.
Der Ärger ist dementsprechend gross. Auch Wadephul wird deutlich. Die Welt würde darauf warten, dass Putin an den Verhandlungstisch kommt – und zwar mit einer Delegation, die der Notwendigkeit der Situation gerecht wird, sagt der Aussenminister. Nur der russische Stuhl würde leer bleiben. «Russland will den Krieg fortführen. Russland will zu diesem Zeitpunkt keine ernsthaften Verhandlungen. Und das wird Folgen haben.» Putin sei dabei, «seine Karten zu überreizen».
Damit ist vorwiegend ein neues Sanktionspaket gemeint, das die Europäische Union schon seit Längerem aufgesetzt hat. Vor allem russische Rohstoffexporte und Putins Schattenflotte sollen mehr als bisher in den Fokus westlicher Strafmassnahmen rücken. Die EU hat bisher allerdings gewartet – auf mögliche Verhandlungen in Istanbul und auf einen möglichen gemeinsamen Vorstoss mit den Amerikanern.
Denn auf Initiative des republikanischen Senators Lindsey Graham soll auch der US-Senat auf weitere Sanktionen gegen Russland drängen. Darauf hoffen die Europäer. Gemeinsam mit den USA hätten weitere Strafmassnahmen gegen Putin mehr Schlagkraft.
Der russische Präsident hat sich – und das wird mit Blick auf die Gespräche an diesem Donnerstag noch einmal besonders klar – ein Eigentor geschossen. Der Vorschlag für die Gespräche in Istanbul kam vom russischen Präsidenten, weil er offenbar westliche Massnahmen hinauszögern und auf Zeit spielen wollte. Nur rechnete der Kreml offenbar nicht damit, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj umgehend ein Gespräch auf der höchsten Ebene vorschlägt.
Letzten Endes hat sich Putin politisch also selbst ausgespielt. Er will eigene Stärke demonstrieren und sich weder vom Westen noch von Selenskyj nach Istanbul zitieren lassen. Nun steckt Putin in einem Dilemma. Wäre er seinem eigenen Vorschlag gefolgt, hätte er auf Augenhöhe mit Selenskyj verhandeln müssen – also mit dem ukrainischen Präsidenten, den die russische Propaganda als illegitimes Staatsoberhaupt mit Drogenproblemen verunglimpft.
Die Absage Putins zeigt nun aber klar: Moskau plant auch weiterhin, seine Kriegsziele militärisch zu erreichen. Das russische Narrativ, der Westen und die Ukraine seien nicht an Frieden interessiert, zerfällt. Und das hat Folgen für Russland.
Es ist dabei wenig überraschend, dass viele der westlichen Verbündeten der Ukraine Salz in Putins Wunde streuen. Fast alle von ihnen erinnern am Donnerstag daran, dass allein Russland dem Frieden in der Ukraine im Weg steht. Einerseits ist das ein Signal an Trump, von dem sie sich erhoffen, dass er nun endlich Druck auf Russland aufbaut. Andererseits ist es auch eine Botschaft an Staaten, die sich in dem Konflikt weitestgehend neutral verhalten, die aber unter den negativen Folgen von Putins Krieg auf die Weltwirtschaft leiden.
Damit gemeint sind vor allem Brics-Staaten wie China, Indien oder Brasilien. Brasiliens Präsident Lula etwa versuchte vergeblich, Putin von einer Teilnahme an den Gesprächen zu überzeugen. Er habe mit dem Kremlchef telefoniert, erklärte Lulas Büro. «Es kostet mich nichts zu sagen: 'Hey, Kamerad Putin, fahr nach Istanbul und verhandle verdammt noch mal'», erklärte Lula vor dem Telefonat.
Die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer haben sich gegenüber Russland in den vergangenen Tagen in eine bessere Position gebracht. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass bisher nichts Putin an den Verhandlungstisch zwingen konnte. Dass der Ball in der russischen Hälfte liegt, stimmt deshalb nur bedingt. Denn die NATO-Mitglieder ringen nun um Massnahmen, um die Ukraine zu stärken und den Druck auf Russland zu erhöhen.
Zur bitteren Realität gehört auch, dass die Ukraine heute einem Frieden nicht näher ist als gestern. Auch wenn der Schuldige daran nun noch einfacher zu erkennen ist.