Gleich drei Reden wird Wolodymyr Selenskyj in den kommenden Tagen vor verschiedenen UN-Gremien in New York halten. Gleichzeitig wird er sich mit anderen Staatsoberhäuptern treffen, auch mit Olaf Scholz und Joe Biden. Der Präsident der Ukraine wird dabei um Munition und Waffen ersuchen, vor allem um weitreichende Marschflugkörper wie die amerikanischen ATACMS – sie haben eine Reichweite von 300 Kilometern – und die deutschen Taurus. Britische und französische Marschflugkörper setzt die ukrainische Armee bereits erfolgreich ein.
Gleichzeitig muss Selenskyj versuchen, die Staatsoberhäupter der Schwellenländer von seiner Sache zu überzeugen. Vor allem die afrikanischen Vertreter haben Angst vor neuen Hungerkatastrophen, weil die Getreidelieferungen infolge des Krieges massiv eingeschränkt sind.
Selenskyj ist gefordert. Im Westen ist die Euphorie über die Erfolge der Ukrainer verraucht. Weil der erhoffte Blitzsieg in der Gegenoffensive ausgeblieben ist, macht sich Ernüchterung breit. Die Stimmen, die von einem Abnutzungskrieg mit sinnlosen Opfern sprechen, mehren sich.
Äusserungen des amerikanischen Oberbefehlshabers Mark Milley haben die Zweifel noch genährt. Dieser sprach kürzlich davon, dass der Ukraine gerade mal noch 30 bis 35 Tage bleiben würden, um die Gegenoffensive zu einem Erfolg zu machen. Danach würden es die Wetterbedingungen verunmöglichen. Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, widersprach jedoch umgehend: «Wir sind doch nicht in Afrika mit einer Regenperiode», erklärte er.
Tatsächlich hat Milley seine Äusserungen inzwischen präzisiert und den Ukrainern wichtige strategische Erfolge attestiert. Bei Bachmut ist es ukrainischen Truppen offenbar gelungen, die strategisch wichtigen Ortschaften Klischkiiwa und Andriiwka zurückzuerobern. Im Süden haben sie bei Saporischja die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen. Zudem haben sie mit Drohnen- und Marschflugkörper-Angriffen russisches Militärmaterial im grossen Stil zerstört, so etwa ein Truppenlandeschiff und ein Unterseeboot im Hafen von Sewastopol.
Schon vor Milleys unglücklichen Äusserungen sind in den USA kritische Stimmen zum Vorgehen der ukrainischen Armee laut geworden. Die «New York Times» und die «Washington Post» vermeldeten Zweifel an der ukrainischen Strategie und bemängelten, die Kräfte würden verzettelt eingesetzt. Diese Kritik war nicht berechtigt und ist auch weitgehend verstummt. So erklärt beispielsweise ein Kommandant des 78th Regiments mit dem Pseudonym Suleman gegenüber der «Financial Times»: «Wäre ich dem Rat der westlichen Experten gefolgt, dann wäre ich jetzt tot.»
Inzwischen hat sich die Meinung durchgesetzt, wonach sich die ukrainischen Truppen mit ihrer neuen Taktik zwar langsam, aber stetig ihrem Ziel, dem Asowschen Meer, nähern. Ebenso hat sich die Ansicht verfestigt, dass dieser Krieg wahrscheinlich noch lange dauern wird. Der Grund liegt darin, dass es sich um einen merkwürdigen Zwitterkrieg handelt:
Einerseits erinnern die zähen Grabenkämpfe an den Ersten Weltkrieg. Anderseits spielen die Drohnen eine zentrale Rolle. Sie sorgen dafür, dass beide Seiten in Echtzeit wissen, was sich auf dem Schlachtfeld abspielt und sofort darauf reagieren können. Auch deshalb sind Angriffe mit grossen Verbänden praktisch unmöglich geworden.
Der Krieg ist eine gewaltige Materialschlacht. Wladimir Putin hat deswegen sogar den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un um Waffenlieferungen angebettelt. Will er dem russischen Bären die Stirne bieten, braucht Selenskyj nach wie vor die Unterstützung des Westens, und zwar im grossen Stil.
Diese Unterstützung ist in Gefahr. In verschiedenen EU-Ländern, hauptsächlich im Osten, mehren sich die Stimmen, welche die Hilfe an die Ukraine kappen wollen. Ungarns Putin-Versteher Viktor Orban hatte die EU-Sanktionen gegen Russland von Anfang an nur zähneknirschend mitgetragen. In der Slowakei wird möglicherweise Ende Oktober Robert Fico einmal mehr zum Premierminister gewählt, und der Populist hat bereits erklärt, er werde keine Patrone mehr an die Ukraine liefern.
In Bulgarien haben russenfreundliche Populisten Aufwind, in Deutschland ist die AfD im Vormarsch. An Talkshows darf Sahra Wagenknecht immer noch Stimmung gegen weitere Waffenlieferungen machen, derweil Olaf Scholz die Lieferung der Taurus verschleppt. Die Genossen der SPD haben anscheinend immer noch Mühe, ihrer Zuneigung zu Russland abzuschwören.
Entscheidend ist jedoch einmal mehr, was in den USA abgehen wird. Vor allem die Trump-Basis der Republikaner wendet sich von der Ukraine ab. Eine CNN-Umfrage hat kürzlich ergeben, dass bloss noch rund ein Drittel der Republikaner die Hilfe an die Ukraine unterstützt. Trump-Klone wie Vivek Ramaswamy wollen sie daher sofort einstellen. Trump selbst prahlt damit, dass er den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden würde.
Es gibt jedoch auch bei den Republikanern noch gewichtige Stimmen, die hinter der Ukraine stehen. So erklärt beispielsweise Mitch McConnell, Minderheitsführer im Senat: «Solange die Ukraine heldenhaft ihre Souveränität verteidigt und Russland schwächt, geziemt es sich nicht, dass wir nachlassen.»
Generell hat die westliche Allianz bisher allen Unkenrufen zum Trotz erstaunlich gut gehalten. Das ist auch gut so, denn Friedensgespräche mit Putin sind verschwendete Zeit. «Europa und die Vereinigten Staaten müssen Putin zeigen, dass er auf dem Holzweg ist», schreiben Liana Fix und Michael Kimmage in «Foreign Affairs». «Westliche Indifferenz und Ungeduld sind Putins ultimative Waffen in diesem Krieg. Ohne sie befindet er sich in einer strategischen Sackgasse.»
Die Erwartungen im Westen waren einfach viel zu gross und die Kriegsmaterial-Lieferungen viel zu langsam.
Und trotzdem geht es langsam aber stetig vorwärts.
Die Ukrainer machen das Beste aus dem was sie bekommen!
Also nicht nachlassen!
Bei den Panzern, bei den F-16, jetzt die Taurus...