Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag liess am Montag eine Bombe platzen. Karim Khan, ein britischer Jurist, beantragte Haftbefehle gegen drei Anführer der Terrororganisation Hamas und zwei Mitglieder der israelischen Regierung: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant.
Während Monaten hatte Khan zuvor wegen möglicher Kriegsverbrechen im Kontext des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023 und des anschliessenden Einmarsches Israels in den Gazastreifen ermittelt. Das Gericht muss nun entscheiden, ob die Haftbefehle erlassen werden. Die Empörung in Israel und bei seinen Verbündeten allerdings ist gross.
US-Präsident Joe Biden zeigte sich befremdet, dass Israel und Hamas quasi auf die gleiche Stufe gestellt werden. Von einem «völligen moralischen Versagen» sprach der israelische Oppositionsführer Jair Lapid. Sie treffen einen wunden Punkt. Taktisch ist Khans Vorgehen, gleichzeitig Haftbefehle gegen beide Seiten zu beantragen, zumindest ungeschickt.
Er erweckt damit den Eindruck, der grausame Hamas-Terrorangriff, bei dem mehr als 1200 Menschen starben und zahlreiche weitere vergewaltigt und gefoltert wurden, müsse gleich beurteilt werden wie der israelische Krieg im Gazastreifen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Proteste, die Israel einen «Genozid» vorwerfen und den Hamas-Terror ignorieren.
Die NZZ verweist auf ein weiteres Problem: «Israel ist ein demokratischer Rechtsstaat und hat eine unabhängige Justiz.» Zwar haben Netanjahu und besonders seine rechtsextremen Koalitionspartner mit der sogenannten «Justizreform» versucht, den Rechtsstaat faktisch auszuschalten. Doch mit dem Hamas-Terror dürften sich diese Bemühungen erledigt haben.
Die Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen der israelischen Justiz zu überlassen, wäre laut der NZZ «eine absolut vernünftige Option gewesen». Mit den Haftbefehlen zum jetzigen Zeitpunkt handle der ICC «unvermeidbar politisch». Angesichts der Reaktionen ist dieser Vorwurf nicht von der Hand zu weisen. Zu einer Entspannung trägt dies nicht bei.
Israel habe das Recht, seine Bevölkerung gegen Angriffe zu verteidigen, betonte Karim Khan. Dies entbinde Israel jedoch nicht von der Pflicht, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Dieses Argument ist nicht unbegründet. Es gibt einige Indizien, dass das israelische Vorgehen im Gazastreifen gegen völkerrechtliche Grundsätze verstösst.
So ordnete Verteidigungsminister Galant am 9. Oktober, zwei Tage nach dem Terrorangriff der Hamas, eine Blockade des Gebiets an: «Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel und keinen Treibstoff geben.» Der damalige Energie- und heutige Aussenminister Israel Katz verfügte einen Stopp der israelischen Wasserversorgung des Gazastreifens.
Dabei handelt es sich um eine gemäss Völkerrecht verbotene Kollektivstrafe gegen die Zivilbevölkerung. Sie bildet die Grundlage für den beantragten Haftbefehl gegen Joaw Galant. Vollends umgesetzt wurde sie nicht, doch Israel wird vorgeworfen, mit der Behinderung von Hilfslieferungen eine humanitäre Katastrophe in Gaza zu verursachen.
Ein weiterer für Israel problematischer Aspekt ist die hohe Opferzahl in den rund sieben Monaten seit Beginn des Kriegs in Gaza. Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen bislang mehr als 35’000 Palästinenser ums Leben. Diese Zahl ist umstritten, auch weil sie nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheidet.
Interessant aber ist ein Vergleich mit der Ukraine. In den ersten beiden Kriegsjahren kamen laut dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte etwa 10’500 Zivilpersonen ums Leben. Auch diese Zahl wird hinterfragt. So wurden gemäss ukrainischen Schätzungen allein in der von Russland eroberten Stadt Mariupol bis zu 25’000 Zivilisten getötet.
Opferzahlen in laufenden Kriegen zu ermitteln, ist eine delikate Angelegenheit, die gerne propagandistisch «ausgeschlachtet» wird. Der Haftbefehl gegen Wladimir Putin aber wird ausserhalb der «prorussischen Sphäre» von kaum jemandem hinterfragt. Der Antrag gegen Benjamin Netanjahu aber sorgt trotz der unbestreitbar hohen Opferzahl für Empörung.
Dem umstrittenen Regierungschef könnte er kurzfristig das politische Überleben sichern. Denn ausgerechnet der mitbeschuldigte Verteidigungsminister Galant forderte Netanjahu letzte Woche auf, endlich einen Plan für eine Nachkriegsordnung in Gaza vorzulegen. Benny Gantz, der dem Kriegskabinett angehört, legte am Samstag nach.
Benjamin Netanjahu aber weigert sich mit dem Argument, erst müsse die Hamas besiegt werden. Deshalb will er bislang auch nichts wissen von einer Untersuchungskommission zum Versagen am 7. Oktober und zum Gazakrieg. Faktisch klammert er sich damit an die Macht. Und der Strafgerichtshof verschafft ihm ungewollt einen Steilpass.
- Ronen Steinke, SZ -
Ist ein Land, das junge Soldaten so trainiert, damit sie die palästinensische Bevölkerung nicht als Menschen betrachten und entsprechend behandeln, ein Rechtsstaat? Ist ein Land, das die Gräueltaten der Siedler ungeahndet lässt ein Rechtsstaat?
Ist eine demokratisch gewählte Regierung, die Kriegsverbrechen begeht, die Hunger als Kriegswaffe einsetzt, nicht eine terroristische Regierung?
Und was sind das für Demokraten welche die Gewaltentrennung, in Frage stellen wenn ihnen etwas nicht passt?
"Deshalb will er bislang auch nichts wissen von einer Untersuchungskommission zum Versagen am 7. Oktober und zum Gazakrieg"
der Krieg im Gaza hat da den Ursprung, die Heftigkeit ist wohl diesem Versagen zu schulden, ein Versagen, das einige Handlungen in einem anderen Licht erscheinen lassen könnte.
Es ist doch offensichtlich, dass dieses Versagen für eine der besten Armeen der Welt einen Grund haben muss und der würde wohl einigen die Augen öffnen und Bibi wohl die Zellentür.