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Den Haag beantragt Haftbefehl gegen Netanjahu

Sinwar und Benjamin Netanjahu
Sowohl gegen Hamas-Anführer Jahia al-Sinwar als auch gegen den israelischen Präsidenten Benjamin Netanjahu beantragte Den Haag einen Haftbefehl.Bild: keystone

Haftbefehl gegen Netanjahu beantragt – dieser spricht von «Verzerrung der Realität»

Der Internationale Strafgerichtshof wirft dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Anführern der Hamas Kriegsverbrechen vor. Das Gericht in Den Haag hat deshalb Haftbefehle beantragt. Ein Überblick.
20.05.2024, 20:09
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Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Karim Khan verfolgt Verbrechen während des Gaza-Krieges. Am Montag verkündete er den Antrag von Haftbefehlen gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sowie gegen hochrangige Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen.

Ein Überblick über die Vorwürfe, die Reaktionen und die Bedeutung dieses Entscheids.

Haftbefehl gegen Netanjahu und Galant

Nebst Netanyahu will Khan laut Mitteilung des IStGH auch Haftbefehle gegen den israelischen Verteidigungsminister Joav Galant einreichen.

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Chefankläger Karim Khan.Bild: keystone

Auf der Grundlage der gesammelten und geprüften Beweise bestehe «hinreichender Grund zu der Annahme, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant die strafrechtliche Verantwortung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen», so der internationale Strafgerichtshof.

Israeli Defense Minister Yoav Gallant pauses while making a brief statement to the media with U.S. Secretary of State Antony Blinken, not pictured, at The Kirya, Israel's Ministry of Defense, Mon ...
Verteidigungsminister Yoav Galant.Bild: keystone

Für folgende Verbrechen werden die zwei Männer laut Antrag verantwortlich gemacht:

  • Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung als Kriegsverbrechen
  • Vorsätzliche Verursachung grosser Leiden oder schwerer Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit
  • Vorsätzliche Tötung
  • Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen
  • Ausrottung und/oder Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe h);
  • andere unmenschliche Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit

In seinem Antrag kritisiert Khan das Vorgehen Israels:

«Israel hat, wie alle Staaten, das Recht, Massnahmen zur Verteidigung seiner Bevölkerung zu ergreifen. Dieses Recht entbindet jedoch weder Israel noch einen anderen Staat von seiner Verpflichtung, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Ungeachtet etwaiger militärischer Ziele sind die Mittel, die Israel zur Erreichung dieser Ziele im Gazastreifen gewählt hat – nämlich die vorsätzliche Verursachung von Tod, Hunger, großem Leid und schwerer körperlicher oder gesundheitlicher Schädigung der Zivilbevölkerung – kriminell.»

Die israelische Regierung hatte kürzlich bereits Befürchtungen geäussert über mögliche strafrechtliche Verfolgung. Netanjahu schrieb bei X, Israel werde unter seiner Führung «niemals irgendeinen Versuch des Strafgerichtshofs akzeptieren, sein inhärentes Recht auf Selbstverteidigung zu untergraben». Der Regierungschef hatte vor einem «gefährlichen Präzedenzfall» gewarnt, «der die Soldaten und Repräsentanten aller Demokratien bedroht, die gegen brutalen Terrorismus und rücksichtslose Aggression kämpfen».

Chefankläger Khan zeigte sich ob dieser Aussagen unbeeindruckt. Gegenüber CNN sagte er als Reaktion darauf:

«Niemand steht über dem Recht.»

Wenn Israel mit dem IStGH nicht einverstanden sei, so stehe es ihnen Frei, vor den Richtern des Gerichtshofes Klage zu erheben, so Khan weiter.

So reagiert Israel

Der israelische Aussenminister Israel Katz sprach am Montag von einer «skandalösen Entscheidung». Diese stelle «einen frontalen, zügellosen Angriff auf die Opfer des 7. Oktober und unsere 128 Geiseln in Gaza» dar.

«Während die Mörder und Vergewaltiger der Hamas Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen unsere Brüder und Schwestern begehen, erwähnt der Chefankläger im gleichen Atemzug unseren Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister, neben den verabscheuungswürdigen Nazi-Monstern der Hamas – eine historische Schande, die für immer in Erinnerung bleiben wird.»
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Der israelische Aussenminister Israel Katz.Bild: keystone

Er habe die sofortige Einrichtung eines Lagezentrums im Aussenministerium angeordnet, in dem Spezialisten gegen die Entscheidung kämpfen sollten, deren Hauptziel es sei, «dem Staat Israel die Hände zu binden und ihm das Recht auf Selbstverteidigung zu verwehren».

Er wolle mit den Aussenministern führender Staaten sprechen, damit diese sich gegen die Entscheidung des Chefanklägers wenden «und mitteilen, dass sie auch im Fall von Haftbefehlen diese nicht gegen die Anführer des Staates Israel umsetzen werden».

Auch der israelische Kriegsminister Benny Gantz machte seinem Ärger über die Entscheidung Luft:

«Parallelen zwischen den Führern eines demokratischen Landes, das entschlossen ist, sich gegen den verabscheuungswürdigen Terror zu verteidigen, und den Führern einer blutrünstigen Terrororganisation (Hamas) zu ziehen, ist eine tiefe Verzerrung der Gerechtigkeit und ein eklatanter moralischer Bankrott.»

Der israelische Präsident Itzchak Herzog hat den Antrag auf Haftbefehl gegen Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant als «mehr als empörend» zurückgewiesen. Jeder Versuch, Parallelen zwischen den Terroristen der Hamas und der demokratisch gewählten Regierung Israels zu ziehen, könne nicht akzeptiert werden, sagte Herzog am Montag. «Wir werden nicht vergessen, wer diesen Krieg begonnen hat und wer unschuldige Bürger und Familien vergewaltigt, abgeschlachtet, verbrannt, misshandelt und entführt hat», sagte Herzog mit Blick auf den Gaza-Krieg.

«Wir erwarten von allen Führern der freien Welt, dass sie diesen Schritt verurteilen und ihn entschieden ablehnen.»

Am Abend meldete sich schliesslich auch noch Netanjahu selbst zu Wort. Dabei zeigte er sich empört über den Antrag. «Das ist eine vollständige Verzerrung der Realität», sagte er in einer auf der Plattform X veröffentlichten Videobotschaft. Der «absurde» und falsche Antrag richte sich nicht nur gegen ihn und Verteidigungsminister Joav Galant, «er richtet sich gegen den gesamten Staat Israel», so Netanjahu. Der Antrag sei ein Beispiel eines «neuen Antisemitismus», der von Universitätsgeländen nach Den Haag gezogen sei, sagte Netanjahu mit Anspielung auf die propalästinensischen Proteste an Hochschulen in verschiedenen Ländern.

Haftbefehl gegen Hamas-Anführer

Auf der palästinensischen Seite hat Chefankläger Khan drei Haftbefehle beantragt: gegen den Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, Jahia al-Sinwar, sowie gegen Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif und gegen den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija.

Yehia Sinwar, head of Hamas in Gaza, greets his supporters during a meeting with leaders of Palestinian factions at his office in Gaza City, Wednesday, April 13, 2022. The chief prosecutor of the Inte ...
Hamas-Anführer Jihia al-Sinwar.Bild: keystone

Auf der Grundlage der gesammelten und geprüften Beweise bestehe laut Khan «hinreichender Grund zu der Annahme», dass die drei Männer für folgende Verbrechen verantwortlich sind:

  • Ausrottung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Geiselnahme als Kriegsverbrechen
  • Vergewaltigung und andere Akte sexueller Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Andere unmenschliche Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
  • Grausame Behandlung als Kriegsverbrechen
  • Verletzung der persönlichen Würde als Kriegsverbrechen

Bei den Attacken der Hamas im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober waren rund 1200 Menschen getötet und mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden. Die Angriffe waren Auslöser für die militärische Offensive Israels im Gazastreifen, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 35'400 Menschen getötet worden sind.

So reagiert die Hamas

Der ranghohe Hamas-Funktionär Sami Abu Zuhri kritisierte in einer Stellungnahme, die von dem Hamas-nahen TV-Sender Al-Aksa verbreitet wurde, dass die Forderung nach Haftbefehlen gegen die drei Hamas-Führer «das Opfer mit dem Henker gleichsetzt». Israel werde durch diesen Entscheid ermutigt, den «Vernichtungskrieg» fortzusetzen.

Was bedeutet der Entscheid?

Die Ankündigung des IStGH steht in keiner Verbindung zur Anschuldigung Südafrikas, wonach Israel im Krieg gegen die Hamas Völkermord begehe. Die beiden Fälle werden separat verhandelt.

Der Haftbefehl gegen Netanjahu markiert das erste Mal, dass der internationale Gerichtshof einen engen Verbündeten der Vereinigten Staaten ins Visier nimmt, schreibt CNN.

Netanjahu wäre nicht der erste Machthaber, gegen den ein Haftbefehl vorliegt. Er würde sich damit zu einem Klub gesellen, in dem sich bereits Wladimir Putin und Muammar Gaddafi befinden. Gegen den russischen Präsidenten Putin wurde ein Haftbefehl wegen seines Kriegs gegen die Ukraine ausgestellt. Gegen den libyschen Machthaber Gaddafi lag zum Zeitpunkt seiner Ermordung im Oktober 2011 ein Haftbefehl wegen angeblicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Chefankläger Khan sieht im Antrag auf die Haftbefehle vor allem auch eine grosse symbolische Bedeutung und warnt:

«Lassen Sie uns heute über eine Kernfrage im Klaren sein: Wenn wir nicht unsere Bereitschaft zeigen, das Recht gleichermassen anzuwenden, wenn es als selektiv angewandt wird, schaffen wir die Voraussetzungen für seinen Zusammenbruch. Damit lockern wir die verbleibenden Bindungen, die uns zusammenhalten, die stabilisierenden Verbindungen zwischen allen Gemeinschaften und Individuen, das Sicherheitsnetz, auf das alle Opfer in Zeiten des Leids schauen. Das ist die wahre Gefahr, der wir in diesem Augenblick ausgesetzt sind.»

Was passiert als Nächstes?

Ob die beantragten internationalen Haftbefehle erlassen werden, müssen nun die Richter der IStGH entscheiden.

>>> Hier geht's zum Liveticker zum Israel-Gaza-Krieg <<<

Das Gericht hat aber keinerlei Möglichkeiten, Haftbefehle auch zu vollstrecken. Im Falle einer Vollstreckung ist die Bewegungsfreiheit der Gesuchten allerdings stark eingeschränkt ist. Denn eine Folge der Haftbefehle wäre, dass alle Vertragsstaaten des Gerichts verpflichtet sind, die Gesuchten festzunehmen und dem Gericht zu übergeben, sobald sie sich in ihrem Land befinden.

139 Staaten weltweit haben das Römische Statut – die vertragliche Grundlage des IStGH – unterzeichnet, 124 davon haben es ratifiziert, auch Deutschland. Israel gehört neben den USA, Russland und China zu den Staaten, die das Gericht nicht anerkennen. Aber die palästinensischen Gebiete sind Vertragsstaat. Daher darf der IStGH-Ankläger auch ermitteln.

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.

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492 Kommentare
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Rannen
20.05.2024 13:45registriert Januar 2018
Endlich wurde auch Zeit und war überfällig!
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Bejat
20.05.2024 13:52registriert Oktober 2015
Gut so. Das Gebaren von Bibi ist schon länger jenseits von allem, was Recht ist.
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Troll26
20.05.2024 13:50registriert März 2020
Und jetzt bin ich mal gespannt..
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