Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Karim Khan verfolgt Verbrechen während des Gaza-Krieges. Am Montag verkündete er den Antrag von Haftbefehlen gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sowie gegen hochrangige Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen.
Ein Überblick über die Vorwürfe, die Reaktionen und die Bedeutung dieses Entscheids.
Nebst Netanyahu will Khan laut Mitteilung des IStGH auch Haftbefehle gegen den israelischen Verteidigungsminister Joav Galant einreichen.
Auf der Grundlage der gesammelten und geprüften Beweise bestehe «hinreichender Grund zu der Annahme, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant die strafrechtliche Verantwortung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen», so der internationale Strafgerichtshof.
Für folgende Verbrechen werden die zwei Männer laut Antrag verantwortlich gemacht:
In seinem Antrag kritisiert Khan das Vorgehen Israels:
Die israelische Regierung hatte kürzlich bereits Befürchtungen geäussert über mögliche strafrechtliche Verfolgung. Netanjahu schrieb bei X, Israel werde unter seiner Führung «niemals irgendeinen Versuch des Strafgerichtshofs akzeptieren, sein inhärentes Recht auf Selbstverteidigung zu untergraben». Der Regierungschef hatte vor einem «gefährlichen Präzedenzfall» gewarnt, «der die Soldaten und Repräsentanten aller Demokratien bedroht, die gegen brutalen Terrorismus und rücksichtslose Aggression kämpfen».
Chefankläger Khan zeigte sich ob dieser Aussagen unbeeindruckt. Gegenüber CNN sagte er als Reaktion darauf:
Wenn Israel mit dem IStGH nicht einverstanden sei, so stehe es ihnen Frei, vor den Richtern des Gerichtshofes Klage zu erheben, so Khan weiter.
Der israelische Aussenminister Israel Katz sprach am Montag von einer «skandalösen Entscheidung». Diese stelle «einen frontalen, zügellosen Angriff auf die Opfer des 7. Oktober und unsere 128 Geiseln in Gaza» dar.
Er habe die sofortige Einrichtung eines Lagezentrums im Aussenministerium angeordnet, in dem Spezialisten gegen die Entscheidung kämpfen sollten, deren Hauptziel es sei, «dem Staat Israel die Hände zu binden und ihm das Recht auf Selbstverteidigung zu verwehren».
Er wolle mit den Aussenministern führender Staaten sprechen, damit diese sich gegen die Entscheidung des Chefanklägers wenden «und mitteilen, dass sie auch im Fall von Haftbefehlen diese nicht gegen die Anführer des Staates Israel umsetzen werden».
Auch der israelische Kriegsminister Benny Gantz machte seinem Ärger über die Entscheidung Luft:
Der israelische Präsident Itzchak Herzog hat den Antrag auf Haftbefehl gegen Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant als «mehr als empörend» zurückgewiesen. Jeder Versuch, Parallelen zwischen den Terroristen der Hamas und der demokratisch gewählten Regierung Israels zu ziehen, könne nicht akzeptiert werden, sagte Herzog am Montag. «Wir werden nicht vergessen, wer diesen Krieg begonnen hat und wer unschuldige Bürger und Familien vergewaltigt, abgeschlachtet, verbrannt, misshandelt und entführt hat», sagte Herzog mit Blick auf den Gaza-Krieg.
Am Abend meldete sich schliesslich auch noch Netanjahu selbst zu Wort. Dabei zeigte er sich empört über den Antrag. «Das ist eine vollständige Verzerrung der Realität», sagte er in einer auf der Plattform X veröffentlichten Videobotschaft. Der «absurde» und falsche Antrag richte sich nicht nur gegen ihn und Verteidigungsminister Joav Galant, «er richtet sich gegen den gesamten Staat Israel», so Netanjahu. Der Antrag sei ein Beispiel eines «neuen Antisemitismus», der von Universitätsgeländen nach Den Haag gezogen sei, sagte Netanjahu mit Anspielung auf die propalästinensischen Proteste an Hochschulen in verschiedenen Ländern.
Auf der palästinensischen Seite hat Chefankläger Khan drei Haftbefehle beantragt: gegen den Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, Jahia al-Sinwar, sowie gegen Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif und gegen den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija.
Auf der Grundlage der gesammelten und geprüften Beweise bestehe laut Khan «hinreichender Grund zu der Annahme», dass die drei Männer für folgende Verbrechen verantwortlich sind:
Bei den Attacken der Hamas im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober waren rund 1200 Menschen getötet und mehr als 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden. Die Angriffe waren Auslöser für die militärische Offensive Israels im Gazastreifen, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher mehr als 35'400 Menschen getötet worden sind.
Der ranghohe Hamas-Funktionär Sami Abu Zuhri kritisierte in einer Stellungnahme, die von dem Hamas-nahen TV-Sender Al-Aksa verbreitet wurde, dass die Forderung nach Haftbefehlen gegen die drei Hamas-Führer «das Opfer mit dem Henker gleichsetzt». Israel werde durch diesen Entscheid ermutigt, den «Vernichtungskrieg» fortzusetzen.
Die Ankündigung des IStGH steht in keiner Verbindung zur Anschuldigung Südafrikas, wonach Israel im Krieg gegen die Hamas Völkermord begehe. Die beiden Fälle werden separat verhandelt.
Der Haftbefehl gegen Netanjahu markiert das erste Mal, dass der internationale Gerichtshof einen engen Verbündeten der Vereinigten Staaten ins Visier nimmt, schreibt CNN.
Netanjahu wäre nicht der erste Machthaber, gegen den ein Haftbefehl vorliegt. Er würde sich damit zu einem Klub gesellen, in dem sich bereits Wladimir Putin und Muammar Gaddafi befinden. Gegen den russischen Präsidenten Putin wurde ein Haftbefehl wegen seines Kriegs gegen die Ukraine ausgestellt. Gegen den libyschen Machthaber Gaddafi lag zum Zeitpunkt seiner Ermordung im Oktober 2011 ein Haftbefehl wegen angeblicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.
Chefankläger Khan sieht im Antrag auf die Haftbefehle vor allem auch eine grosse symbolische Bedeutung und warnt:
Ob die beantragten internationalen Haftbefehle erlassen werden, müssen nun die Richter der IStGH entscheiden.
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Das Gericht hat aber keinerlei Möglichkeiten, Haftbefehle auch zu vollstrecken. Im Falle einer Vollstreckung ist die Bewegungsfreiheit der Gesuchten allerdings stark eingeschränkt ist. Denn eine Folge der Haftbefehle wäre, dass alle Vertragsstaaten des Gerichts verpflichtet sind, die Gesuchten festzunehmen und dem Gericht zu übergeben, sobald sie sich in ihrem Land befinden.
139 Staaten weltweit haben das Römische Statut – die vertragliche Grundlage des IStGH – unterzeichnet, 124 davon haben es ratifiziert, auch Deutschland. Israel gehört neben den USA, Russland und China zu den Staaten, die das Gericht nicht anerkennen. Aber die palästinensischen Gebiete sind Vertragsstaat. Daher darf der IStGH-Ankläger auch ermitteln.
Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.