Eine tiefe Wut hat die USA erfasst. Nach dem Tod des Schwarzen George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz ist diese Wut in vielen Städten des Landes zu sehen. New York, Los Angeles, Dallas, Louisville, Denver – und natürlich Minneapolis, wo Floyd starb. Überall gehen die Menschen auf die Strassen, teilweise kommt es zu Ausschreitungen und Plünderungen.
Die Bilder wecken Erinnerungen. 2014 war es der Tod des jungen Schwarzen Michael Brown in der Kleinstadt Ferguson, der für Proteste und Empörung gesorgt hatte.
«Polizeigewalt gegen Schwarze ist ein altes Thema in den USA», sagt auch Thomas Jäger, Politikwissenschaftler und Experte für die USA, gegenüber watson. «Die Chance für einen schwarzen Mann, von der Polizei erschossen zu werden, ist dreimal so gross wie bei einem Weissen.»
Doch im aktuellen Fall in Minneapolis ist etwas anders als zuvor. Ein Umstand, der auch erklären kann, warum die Proteste derart wuchtig ausfallen: Der Tod von George Floyd wurde gefilmt. In dem rund achtminütigen Video ist zu sehen, wie ein Polizeibeamter auf ihm kniet, während Floyd immer wieder fleht: «Ich bekomme keine Luft».
Eine ganze Nation habe live miterlebt, wie ein Polizeibeamter auf offener Strasse einen Menschen umgebracht habe, sagt Jäger, der Professor für Internationale Politik und Aussenpolitik an der Universität zu Köln ist. «Man muss kein Staatsanwalt sein, um zu sehen, dass hier jemand umgebracht wurde. Das ist in dieser Brutalität, in dieser Selbstverständlichkeit des Missbrauchs von Macht durch die Polizei selten so klar sichtbar gewesen.» Einer der beteiligten Polizisten wurde inzwischen wegen Mordes angeklagt.
Anders als bei ähnlichen Fällen von Polizeigewalt gibt es deshalb bisher keine Diskussionen über die Fakten dieses Falles. Keine Fragen wie: Hat der Polizist in Notwehr gehandelt? Waren Waffen im Spiel?
«Hier kann man nicht diskutieren. Acht Minuten Mord sind zu sehen», sagt Jäger. «Das hat zu einem Aufschrei geführt, der ja nicht nur Black Lives Matter – die Organisation, die sich genau gegen Polizeigewalt gebildet hat – auf den Plan gebracht hat, sondern das hat im Prinzip 90 Prozent der Amerikaner hinter dieser Beobachtung vereint, hier bringt ein Polizist einen Mann um, weil er schwarz ist.»
Dass es zu Ausschreitungen kommt, liegt womöglich auch an der Corona-Isolation, meint Jäger. Und: «Da mag es auch einen gewissen Gewalttourismus gegeben haben.»
Die Aufmerksamkeit von US-Präsident Donald Trump in den vergangenen Tagen jedenfalls lag bei den Ausschreitungen. Nach Plünderungen drohte er den Demonstranten auf Twitter, bei weiteren Plünderungen werde geschossen. «Eine blanke Drohung gegen die eigene Bevölkerung», kommentiert Jäger. Trump heize die Gewalt damit geradezu an und verhindere, dass es zu einem Dialog mit den Bürgern kommen kann.
Die grosse Frage nun ist nach fünf Nächten von Ausschreitungen und Demonstrationen im ganzen Land: Wie geht es weiter? Die Ereignisse könnten auch die politische Ebene in den USA beeinflussen, immerhin wird im November voraussichtlich gewählt.
«Da muss man in Szenarien denken», sagt Experte Jäger. «Wenn die Ausschreitungen wirklich weiter eskalieren sollten, andere Grossstädte erreichen sollten und wenn der Konflikt zwischen Bevölkerung und Polizei so weitergeht, dann könnte Trump in der Versuchung sein, sich als Law-and-Order-Präsident zu präsentieren.»
Sollten die Proteste abebben, stünden vermutlich eher Fragen nach einer Reform der Polizeikräfte im Raum.
Politologe Jäger sieht Trumps Herausforderer Joe Biden jedenfalls in einer kniffligen Position. «Für Biden sind diese Proteste eine enorme Schwierigkeit.»
Als Kandidat der weissen Mittelschicht will Biden die Wähler des US-Präsidenten zurückgewinnen. Würde er aber die Polizeikräfte rhetorisch scharf kritisieren, würde das Trump erlauben zu sagen: «Seht, doch nur ein linker Sozialist, ein Wolf im Schafspelz.»
Trump treibt derzeit sein altes Spiel und heizt die Stimmung weiter an. «Die Gewalt und der Vandalismus werden von der Antifa und anderen gewaltsamen Gruppen des linken Flügels angeführt», sagte Trump am Samstagabend nach dem Start von US-Astronauten vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral. «Meine Regierung wird Mob-Gewalt beenden.»
Biden verurteilte am Sonntag Polizeigewalt. «Gegen solche Brutalität zu protestieren, ist richtig und notwendig», erklärte er. «Es ist eine absolut amerikanische Reaktion.» Er kritisierte aber auch Brandstiftungen und «unnötige Zerstörung».
Sollte sich die Debatte weiterdrehen und Strafrechtsreformen diskutiert werden, dann hat Biden ebenfalls keine guten Karten. Er hat hier nicht viel vorzuweisen. Trump dagegen brachte überraschend Ende 2018 eine Reform zum Strafrecht durch, die auf mehr Rehabilitation setzt.
Biden könnte Trump aber unter Druck setzen, indem er eine schwarze Vize-Präsidentschaftskandidatin wählt. Jeder wisse, dass die nur einen Herzschlag vom Präsidentenamt entfernt sei, sagt Jäger. «Deswegen fällt Biden die Wahl auch so schwer.»
Bei der Wahl der Vize-Präsidenten spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle: Will Biden eine Politikerin, die eher links des Establishments bei den Demokraten anzusiedeln ist, um die Wählerschaft von Ex-Konkurrent Bernie Sanders abzugreifen? Oder schadet er sich damit bei Wählern, die auch Trump ansprechen könnte?
Auf den nächsten Präsidenten jedenfalls warten Mammutaufgaben. Und eine davon wird auch sein, weiter zu versuchen, eine Aussöhnung zwischen den ethnischen Gruppen in den USA zu schaffen.
«Ein Rezept, wie das gelingen kann, hat noch keiner gefunden», sagt Jäger. Letztlich werde der Dialog immer wieder durchbrochen durch die Dynamik «Wir gegen euch».
Als Übel sieht er dabei die Identitätspolitik in den USA an, sie sei immer noch wichtiger Bestandteil der Politik. «Auf demokratischer Seite stehen unterschiedliche sexuelle Orientierungen im Vordergrund. Bei den Republikanern ist es ganz häufig doch Rassismus.»
Wie lange man in den USA wohl jemanden würgen muss, bis Tötungsabsicht gegeben ist? Wäre auch keine Tötungsabsicht gegeben, wenn ein Schwarzer einen Weissen während 8:46 Min. nicht hätte atmen lassen?