15 Jahre lang regierte Sheikh Hasina Bangladesch, dann wurde sie aus dem Land gejagt: Am 5. August floh die 76-jährige Premierministerin – zu diesem Zeitpunkt die am längsten amtierende Regierungschefin weltweit – per Helikopter ins Nachbarland Indien und gab ihren Rücktritt bekannt. Zuvor hatten wochenlange blutige Proteste Hunderte Todesopfer gefordert.
Wer ist Sheikh Hasina, wie kam es zu ihrem plötzlichen Abgang? Welche Faktoren prägen die Politik in Bangladesch – und wie geht es dort nun weiter?
Bangladesch ist der am dichtesten bevölkerte Flächenstaat der Welt: Auf nicht ganz 150'000 Quadratkilometern – das ist etwa dreieinhalbmal so gross wie die Schweiz – drängen sich mehr als 170 Millionen Einwohner. In der Liste der bevölkerungsreichsten Ländern liegt der südasiatische Staat auf Platz acht. Doch Bangladesch ist, allen Fortschritten der letzten Jahre zum Trotz, ein armes Land: Sein nominales Bruttoinlandsprodukt lag 2021 bei lediglich 416 Milliarden Dollar (Schweiz: 905,7 Mia. $ im Jahr 2023).
Dagegen galt die Region Bengalen, in deren Osten das heutige Bangladesch liegt, noch im 16. Jahrhundert wegen ihres Wohlstands als «Paradies der Völker». Danach geriet die bevölkerungsreichste indische Provinz unter britische Herrschaft. Zunächst florierte die Produktion von Textilien für den britischen Markt, doch im Zuge der Industrialisierung verdrängten billige britische Textilien das einheimische Gewerbe und es kam zu Verarmung und Massenareitslosigkeit. Die Region erlebte zudem mehrere verheerende Hungersnöte.
Als die Briten Indien 1947 in die Unabhängigkeit entlassen mussten, wurde der Subkontinent geteilt und das muslimische Ostbengalen wurde Teil des neuen Staates Pakistan. Ostpakistan, wie es bald genannt wurde, hatte damals mehr Einwohner als der grössere westliche Teil, wurde aber von diesem politisch dominiert und wirtschaftlich vernachlässigt.
Diese Benachteiligung befeuerte den bengalischen Separatismus. 1971 kam es zu einem blutigen Bürgerkrieg, in dem die pakistanischen Regierungstruppen in Ostpakistan einen Genozid begingen, dem etwa drei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dank der militärischen Intervention Indiens siegte Ostpakistan und erreichte seine Unabhängigkeit als Bangladesch.
Als Vater der bangladeschischen Unabhängigkeit gilt Scheich Mujibur Rahman, der in Ostpakistan die sozialdemokratisch ausgerichtete Awami-Liga mitbegründete, deren Vorsitz er 1963 übernahm. Von den pakistanischen Militärs inhaftiert, wurde er nach deren Niederlage Premierminister des neuen Staates Bangladesch. Zu Beginn orientierte er sich an sozialistischen und nationalistischen Idealen und verfolgte eine Politik der Vertstaatlichungen. Diese war einer der Faktoren, die zur Hungerkrise von 1974 führten, einer der schlimmsten Hungersnöte des 20. Jahrhunderts.
Das staatliche Versagen angesichts des Massenhungers rief wachsende Kritik hervor, auf die Rahman mit einer Hinwendung zu konservativ-islamischen Kreisen und einer zunehmend autoritären Politik reagierte. Die Pressefreiheit wurde eingeschränkt und Rahman liess die Verfassung zu seinen Gunsten ändern.
Am 15. August 1975 putschten junge Armee-Offiziere und ermordeten Rahman sowie 34 weitere Personen in seiner Residenz. Nahezu die gesamte Familie des Politikers wurde dabei ermordet – nur zwei Töchter, die sich gerade im Ausland aufhielten, kamen davon. Eine davon, die älteste Tochter Hasina, sollte in der Politik des Landes noch eine wichtige Rolle spielen.
Hasina Wajed kehrte 1981 aus dem Exil nach Bangladesch zurück, wo sie die Führung der nunmehr oppositionellen Awami-Liga übernahm. Als Oppositionspolitikerin wandte sie sich gegen die Militärregierung und forderte Demokratie. Mehrere Male wurde sie deswegen unter Hausarrest gestellt. 1996 siegte die Awami-Liga bei den Wahlen und Sheikh Hasina wurde erstmals Premierministerin. Sie blieb es bis 2001 und kehrte dann 2009 ins Amt zurück, das sie danach bis zu ihrem Sturz im August 2024 innehatte.
Die Politik Bangladeschs wurde nach der Rückkehr zur Demokratie ab 1991 von der erbitterten Rivalität zwischen Sheikh Hasina und ihrer Gegenspielerin Khaleda Zia geprägt. Khaleda Zia, die von 1991 bis 1996 und danach noch einmal von 2001 bis 2006 das Amt der Premierministerin bekleidete, ist Vorsitzende der religiös-konservativen Bangladesh Nationalist Party (BNP). Sie ist die Witwe des Offiziers Ziaur Rahman, der nach dem Putsch gegen Mujibur Rahman an die Macht gekommen, aber 1981 bei einem weiteren Putsch ermordet worden war.
Den jahrzehntelangen Machtkampf zwischen den beiden Politikerinnen nennt man in Bangladesch «The Battle of the Begums», was man etwa mit «Duell der Damen» übersetzen könnte («Begum» ist eine respektvolle Anrede für Frauen). Die Feindschaft zwischen den beiden beruht dabei nicht nur auf politischen Differenzen, sondern ist persönlich gefärbt: Khaleda Zias vestorbener Mann war stellvertretender Generalstabschef, als Sheikh Hasinas Vater beim Militärputsch getötet wurde. Er dürfte über die Putschpläne nicht informiert gewesen sein, doch er war es, der den Mördern von Mujibur Rahman Immunität gewährte.
Weder Sheikh Hasina noch Khaleda Zia haben sich während ihrer jeweiligen Amtszeiten als wahre Demokratinnen hervorgetan. Beiden wurde Korruption vorgeworfen, beide legten eine Neigung zum Autoritarismus an den Tag und gingen gegen gezielt ihre Kritiker vor. Insbesondere Sheikh Hasina, die seit 2009 ununterbrochen regierte, schränkte die Meinungs- und Pressefreiheit ein und liess tausende verhaften. Selbst die Ermordung von unliebsamen Personen durch Todesschwasronen wurde ihr zur Last gelegt. Ihre Rivalin Khaleda Zia verbrachte Jahre in Haft und Hausarrest, wurde nun aber auf Geheiss des Präsidenten freigelassen.
Auslöser der wochenlangen gewalttätigen Unruhen, die nun Sheikh Hasina aus dem Amt getrieben haben, war die geplante Wiedereinführung einer umstrittenen Quotenregelung für die Vergabe von Stellen im öffentlichen Dienst: Mehr als die Hälfte der begehrten Posten sollte für bestimmte Gruppen reserviert sein, beispielsweise für ethnische Minderheiten oder die Nachkommen von Veteranen des Unabhängigkeitskrieges gegen Pakistan vor mehr als 50 Jahren.
Besonders Letzteres erzürnte viele Studenten, die auf der Strasse eine Jobvergabe nach Leistung und nicht nach Verdiensten früherer Generationen forderten. Sie warfen Sheikh Hasina zudem vor, die neue Regelung bevorzuge Anhänger ihrer Regierungspartei, der Awami-Liga. Die Studentenproteste weiteten sich bald zu Massenprotesten aus, auch weil die Regierungschefin mit aller Härte reagierte – sie ordnete Ausgangssperren an, liess zeitweise das Internet blockieren und setzte Militär gegen die Demonstranten ein.
Der tieferliegende Grund dürfte freilich die allgemein wachsende Unzufriedenheit im Land sein, die durch die hohe Inflation – sie liegt bei zehn Prozent – und hohe Arbeitslosigkeit genährt wird. Sie sorgen nach wie vor dafür, dass viele Menschen kaum über die Runden kommen. Dabei hat Bangladesch während Sheikh Hasinas langer Amtszeit durchaus einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt.
In den vergangenen zehn Jahren stieg die jährliche Wachstumsrate auf über acht Prozent. Selbst nach einem Einbruch während der Corona-Pandemie stieg sie wieder auf durchschnittlich fünf bis sechs Prozent. Die Wirtschaft ist hauptsächlich auf den Export von Textilgütern ausgerichtet: Die Textilindustrie – die zweitgrösste der Welt – erwirtschaftet 80 Prozent des Exportvolumens.
Parallel dazu halbierte sich der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der nationalen Armutsgrenze lebt, zwischen 2000 und 2016 auf rund 24 Prozent und sank bis 2022 weiter auf knapp 13 Prozent. Bangladesch steht kurz davor, aus der Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder aufzusteigen.
Doch der neue Wohlstand kommt nicht bei allen an: Immer noch haben nur sechs von zehn Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser und fast ein Viertel der Erwachsenen kann nicht lesen und schreiben. Die Ungleichheit nahm auf dem Land etwas ab, stieg aber in den Städten an. Kritiker bemängeln eine zunehmende Konzentration des Wohlstands auf eine kleine Elite und die Hauptstadt Dhaka. Überdies verschärft auch der Klimawandel die Lage der Armen in Bangladesch: Das mehrheitlich flache und tiefgelegene Land, das häufig unter Überschwemmungen leidet, ist wie kaum ein anderes durch den Anstieg des Meeresspiegels bedroht.
Die Lage in Bangladesch war auch nach der Flucht von Sheikh Hasina ins Exil explosiv. Es kam auch zu Racheakten an Vertretern der Awami-Liga. Faktisch hat nun die Armee die Macht übernommen. Armeechef Waker-Uz-Zaman versprach: «Diejenigen, die Morde und andere Gräueltaten verübt haben, werden bestraft werden.» Er kündigte zudem die Bildung einer Übergangsregierung an, schloss aber die Awami-Liga von Sheikh Hasina explizit aus. Präsident Mohammed Shahabuddin bestätigte inzwischen die Bildung einer Übergangsregierung.
Anführen soll sie der Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus, der als «Banker der Armen» bekannt ist. Laut seiner Sprecherin hat sich Yunus dazu bereit erklärt, die Amtsgeschäfte vorübergehend zu übernehmen. Die Entscheidung für Yunus fiel bei einem Treffen des Präsidenten mit Vertretern der Protestbewegung. Laut einem der Hauptoganisatoren der Studentenproteste, Nahid Islam, war Yunus der Wunschkandidat der Demonstranten. Islam hatte betont, die Protestbewegung werde keine von der Armee unterstützte oder von der Armee geführte Regierung akzeptieren.
Yunus und seine Grameen Bank erhielten 2006 den Friedensnobelpreis, weil er mit kleinen Darlehen – sogenannten Mikrokrediten – vielen Menschen ermöglicht hatte, der Armut zu entfliehen. Der 84-Jährige war bereits einmal politisch aktiv: Im Jahr 1996 diente er zwei Monate lang als Minister in einem Übergangskabinett. 2007 gründete er seine eigene Partei «Macht der Bürger».
Präsident Shahabuddin hat inzwischen das Parlament aufgelöst – dies war eine Forderung der Protestbewegung. In der Volksvertretung hatte die Awami-Liga seit der letzten Wahl im Januar die absolute Mehrheit, doch dieser Urnengang war von massenhaften Verhaftungen von Regierungsgegnern und einem Wahlboykott durch die Opposition überschattet. Für die Demokratie in Bangladesch besteht nun die Chance eines Neuanfangs – doch die Lage ist instabil und es drohen neue Konflikte.
Mit Material der Nachrichtenagentur SDA