Beim historischen «Voice»-Referendum in Australien sprach sich am Samstag eine klare Mehrheit von rund 60 Prozent der Teilnehmer gegen das Vorhaben aus, den Aborigines ein in der Verfassung verankertes Beratungsgremium im Parlament einzuräumen. Wahlberechtigt waren 18 Millionen Menschen, darunter 530'000 Indigene.
Worum es im Referendum genau ging und mit welchen Argumenten die Nein-Befürworter das Referendum zum Scheitern brachten.
Hinter dem Referendum steckt der australische Premierminister Anthony Albanese. Erklärtes Ziel seiner sozialdemokratischen Labor-Regierung ist es, die Lebensrealität der bis heute stark diskriminierten Ureinwohner zu verbessern. Indigene machen etwa vier Prozent der Bevölkerung aus und leben vielerorts am Rande der Gesellschaft. Ihre Lebenserwartung ist deutlich geringer als die der weissen Australier und die Kindersterblichkeit höher, gleichzeitig haben sie einen schlechteren Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt.
Was ändert das Referendum an der Situation?
Auf der offiziellen Seite der australischen Regierung wird das Referendum wie folgt erklärt:
Konkret wäre «die Stimme» in Form eines Gremiums präsent gewesen. Dieses hätte das Parlament und die Regierung in Fragen beraten, welche die Aborigines und Torres-Strait-Insulaner betroffen hätten. Ziel wäre es gewesen, die Stimme in einem möglichst frühen Stadium der Ausarbeitung von Gesetzes- und Politikvorschlägen um eine schriftliche Stellungnahme zu bitten. Für die Entwicklung und Recherche dieser Stellungnahme wären dem Gremium eigene Ressourcen zur Verfügung gestanden.
Die Mitglieder des Gremiums wären von den Indigenen selbst gewählt worden, wobei diese den Aborigines oder Torres-Strait-Insulanern hätten angehören müssen. Gemäss einem Entwurf hätte jeder Staat seine eigene Vertretung gehabt.
Um sicherzustellen, dass alle Indigenen berücksichtigt worden wären, hätte sich die Stimme mit Gemeinschaften und regionalen Einrichtungen beraten.
Die Ratschläge des Gremiums wären für das Parlament nicht bindend gewesen, zudem hätte das Gremium auch kein Veto-Recht innegehabt.
Über zehn Jahre lang wurde über die Anerkennung der First Nation Peoples in der Verfassung diskutiert. Erste konkrete Schritte wurden 2010 mit der Einrichtung eines Expertengremiums für die Anerkennung der Indigenen in der Verfassung eingerichtet.
2017 forderten die First Nations mit einer Petition, dem «Uluru Statement aus dem Herzen», eine in der Verfassung verankerte Stimme. Entstanden war sie nach Dialogen mit über 1200 Aborigines und Torres-Strait-Insulanern vom ganzen Land. Die Uluru-Erklärung wurde in Form eines Kunstwerks angefertigt und im August 2017 dem Premierminister und Oppositionsführer überreicht.
The most beautiful thing about this artwork is the room it leaves for all of us. For all Australians.
— Anthony Albanese (@AlboMP) October 10, 2023
Today I was honoured to meet the Aṉangu women who painted the Uluru Statement from the Heart. pic.twitter.com/lPlXy8DIWk
Im Uluru-Statement verweisen die Indigenen auf die Tatsache, dass die Stämme der Aborigines und der Torres-Strait-Insulaner die ersten souveränen Nationen des australischen Kontinents gewesen wären. Nach dem Verständnis ihrer Kultur hätte ihnen der Kontinent seit der Schöpfung gehört, gemäss der Wissenschaft seit 60'000 Jahren.
Die Souveränität über das Land sei für sie eine spirituelle Vorstellung. Es sei eine Verbindung zwischen ihnen und der Mutter Natur – das Land, auf dem sie geboren wurden, mit dem sie verbunden seien und in das sie eines Tages zurückkehren werden. Diese Verbindung sei die Grundlage für das Eigentum am Boden und könne auch innerhalb des australischen Staates fortbestehen, wie sie betonen:
Die Indigenen fragen sich: Wie kann es sein, dass ein Volk 60'000 Jahre ein Land besitzt und diese heilige Verbindung in den letzten 200 Jahren plötzlich aus der Weltgeschichte verschwindet?
Sie fahren fort:
Anthony Albanese löste mit dem Referendum – dem ersten in Australien seit 24 Jahren – ein Wahlversprechen ein. Zu Beginn mit Erfolg: Gemäss Umfragen wurde «die Stimme» letztes Jahr von einer Mehrheit noch unterstützt. Das änderte sich dieses Jahr plötzlich drastisch.
Vor allem die konservative Opposition um Frontmann Peter Dutton hatte in den vergangenen Monaten massiv Stimmung gegen die Pläne gemacht und damit die Meinung im Land gedreht. Eines der am häufigsten genannten Argumente gegen «die Stimme» war die angebliche Rassenspaltung. So argumentierte Dutton etwa:
Laut einer Umfrage von The Sydney Morning Herald im Vorfeld der Wahlen fanden das 22 Prozent aller Wählerinnen und Wähler ein überzeugendes Argument.
Doch es gab auch Aborigines, die für ein «Nein» gegen «die Stimme» argumentierten. So etwa Senatorin Jacinta Nampijinpa Price und Senatorin Lidia Thorpe – allerdings aus verschiedenen Gründen. Price, Mitglied der oppositionellen Mitte-Rechts-Partei, argumentierte, dass mit «der Stimme» die Aborigines noch weiter ausgegrenzt würden. Als Lösung plädiert sie stattdessen dafür, traditionelle Lebensweisen zu ändern, die schädlich oder unvereinbar mit einer komplexen modernen Welt seien.
Für Aufsehen sorgte insbesondere ihre Antwort auf die Frage, ob indigene Menschen negative Auswirkungen der Kolonisation spüren würden. An einer Pressekonferenz Mitte September beantwortete Price diese Frage mit «Nein». Sie führte aus:
Auf der anderen Seite des Spektrums sitzt Lidia Thorpe. Zwar setzte auch sie sich für ein Nein gegen die «Stimme» ein, allerdings aus dem Grund, dass die Massnahme zu wenig weit gegangen sei. Sie gehörte somit zum Lager des progressiven «Neins». Statt einer «Stimme» fordert sie zunächst ein Abkommen zwischen den Indigenen und der australischen Regierung. Australien ist die einzige ehemalige britische Kolonie, die kein Abkommen mit der indigenen Bevölkerung hat.
«Warum wird uns keine Macht gegeben?», fragte sie. Auch der als Anwalt arbeitende Aborigine Michael Mansell war gegen die «Stimme». Die «Stimme» könne weder ein Gesetz erlassen noch beispielsweise verhindern, dass ein rassistisches Gesetz im Parlament erlassen werde, erklärte der Anwalt gegenüber der New York Times im Vorfeld der Abstimmung.
So entstanden im Wahlkampf drei Lager: die Ja-Kampagne, das konservative Nein und das progressive Nein. Für die Ja-Kampagne wurde es zunehmend schwieriger, sich gegen die anderen zwei – sehr lauten – Lager durchzusetzen. Hinzu kam gemäss einer Analyse von ABC-News, dass die Details zur Stimme nicht genügend klar kommuniziert worden seien. Davon hätten die beiden Nein-Lager profitiert. Insbesondere die Konservativen betrieben ihren Wahlkampf mit dem Slogan:
Eine weitere grosse Rolle dürfte die Verbreitung von Missinformationen gespielt haben. Ganz vorn mit dabei seien gemäss Reuters Influencer gewesen, die sich während der Pandemie gegen die Massnahmen gewehrt hätten. Auf einer Facebook-Seite mit über 142'000 Followern erklärte die rechtsextreme Senatorin Pauline Hanson in einem Interview etwa, dass «die Stimme» das australische Nordterritorium in einen abtrünnigen schwarzen Aborigine-Staat verwandeln würde.
Am 14. Oktober sprach sich schliesslich eine Mehrheit von 60 Prozent gegen das Referendum aus. Für viele Aborigines ein erschütterndes Ergebnis. «Das ‹Nein› zeigt meinen Kindern, die stolze Mitglieder des Birpai-Volkes sind, dass die Welt um sie herum sie nicht darin haben will oder dass es ihr egal ist, was sie zu sagen haben», schrieb der indigene Journalist Jack Latimore am Sonntag im «Sydney Morning Herald». Die Ministerin für indigene Australier, Linda Burney, sprach unter Tränen von einem «traurigen Tag für Australien».
To all Aboriginal and Torres Strait Islander people, I want to say this:
— Linda Burney MP (@LindaBurneyMP) October 14, 2023
I know the last few months have been tough.
Be proud of who you are.
Be proud of your identity.
Be proud of the 65,000 years of history and culture that you are a part of. pic.twitter.com/5tbs9pxwxy
Es werde vermutlich Jahre dauern, bis die Auswirkungen dieser Absage in voller Gänze klar würden, schrieb die indigene Kommentatorin Lorena Allam im australischen «Guardian». «Aber es ist bereits jetzt völlig klar, dass das Ergebnis für die Bevölkerung der First Nations zutiefst verletzend ist.» Letztlich sei das Referendum auch eine Abstimmung über das Existenzrecht indigener Völker in ihrem eigenen Land gewesen, «und unsere australischen Landsleute stimmten dafür, uns abzulehnen», so Allam. «Stellen Sie sich vor, wie sich das heute anfühlt.»
Together we must take our country beyond this debate – without forgetting why we had it in the first place. Because a great nation like ours can and must do better for the First Australians.
— Anthony Albanese (@AlboMP) October 14, 2023
Our government will continue to listen to people and to communities. pic.twitter.com/3IMTkkTlG1
In einer emotionalen Ansprache teilte Premierminister Albanese mit, dass er das Ergebnis respektiere, er aber weiter für Versöhnung und eine Überwindung der Kluft in der Gesellschaft arbeiten werde.
Mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa.
Ein Hoch auf unsere Demokratie.