Am ersten Arbeitstag verkündete US-Präsident Joe Biden ein vermeintlich ambitioniertes Ziel: In seinen ersten 100 Amtstagen sollten in den USA eine Million Menschen pro Tag gegen das Coronavirus geimpft werden. In der Realität wurde die Vorgabe weit übertroffen: Auf dem Höhepunkt der Kampagne waren es bis zu drei Millionen Impfungen täglich.
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Die USA schienen auf bestem Weg, die Corona-Pandemie zu besiegen. In immer mehr Bundesstaaten wurden die Massnahmen gelockert oder ganz aufgehoben. Nun ist Biden ein halbes Jahr im Amt, und es sieht längst nicht mehr so gut aus wie im Frühjahr. Die Impfkampagne hat an Elan verloren, dafür nimmt die Zahl der Neuinfektionen deutlich zu.
In einer Ansprache zum Nationalfeiertag am 4. Juli rief der Präsident seine Landsleute eindringlich auf, sich impfen zu lassen. Das von ihm gesetzte Ziel von mindestens 70 Prozent Erstimpfungen in der erwachsenen Bevölkerung hatten die USA verfehlt. Seither wurden sie sogar von Ländern wie Deutschland und Italien überholt.
Der Immunologe und Biden-Berater Anthony Fauci ist entsprechend besorgt. «Wir bewegen uns in die falsche Richtung», sagte er am Sonntag dem Fernsehsender CNN. Wie zuvor andere Experten warnte er vor einer «Pandemie der Ungeimpften»: «Daher flehen wir die Menschen regelrecht an, rauszugehen und sich impfen zu lassen.»
Für den Anstieg der Fallzahlen ist auch in den USA die Delta-Variante verantwortlich. Gemäss der Gesundheitsbehörde CDC haben knapp 57 Prozent der gesamten Bevölkerung mindestens eine Impfung erhalten. Etwa 49 Prozent sind vollständig geimpft. Für das erlahmte Impftempo und die verbreitete Skepsis gibt es verschiedene Gründe.
So misstrauen viele Schwarze aufgrund übler historischer Erfahrungen der Medizin. Ein Beispiel ist die in Tuskegee (Alabama) durchgeführte Syphilis-Studie. Dabei hatten Ärzte schwarzen Landarbeitern, die sich mit der Geschlechtskrankheit infiziert hatten, absichtlich eine Behandlung vorenthalten, um den Krankheitsverlauf studieren zu können.
Die meisten Impfverweigerer aber findet man unter weissen Anhängern der Republikaner und von Ex-Präsident Donald Trump. Laut einer aktuellen Umfrage zweifeln 42 Prozent der Republikaner und nur 18 Prozent der Demokraten an der Wirksamkeit der Vakzine. Bei der Impfquote in den Bundesstaaten zeigt sich denn auch ein veritabler «Impfgraben».
Die 20 Staaten mit der höchsten Beteiligung (der District of Columbia inbegriffen) stimmten im letzten November alle für Joe Biden. Die niedrigste Impfbereitschaft findet man in den Hochburgen der Republikaner. Besonders stark steigen die Fallzahlen in Florida und Texas, die als Erste sämtliche Corona-Massnahmen aufgehoben hatten.
Einen Lichtblick gibt es bei den Todesfällen, bei denen die Kurve deutlich weniger steil ansteigt als bei den Infektionen. Es ist ein weiteres Indiz für die Wirksamkeit der Impfungen. Die Zahl der Spitaleinweisungen hingegen nimmt wesentlich stärker zu als in anderen Ländern. Sehr oft sind jüngere und natürlich ungeimpfte Menschen betroffen.
Für Aufsehen sorgte der Facebook-Eintrag von Brytney Cobia. Sie ist Spitalärztin in Birmingham in Alabama, dem Staat mit der niedrigsten Impfquote. Sie nehme junge gesunde Menschen mit sehr schweren Covid-Infektionen auf: «Bevor sie intubiert werden, bitten sie um die Impfung. Ich halte ihre Hand und sage: Tut mir leid, es ist zu spät.»
Fast noch eindrücklicher sind die Reaktionen der Angehörigen, wenn sie von Cobia die Todesnachricht erhalten und die Aufforderung, sich impfen zu lassen:
Auch republikanischen Politikern wird es zunehmend mulmig. Klartext sprach etwa Kay Ivey, die Gouverneurin von Alabama: «Wir müssen die Ungeimpften anprangern, nicht die normalen Leute. Die Ungeimpften lassen uns im Stich.» Ihr Amtskollege Asa Hutchinson aus Arkansas klagte auf CNN, der Widerstand habe sich in bestimmten Gruppen verstärkt.
Mitch McConnell, der Fraktionschef der Republikaner im US-Senat, forderte die Anhänger seiner Partei auf, alle Stimmen zu ignorieren, die «schlechte Ratschläge» erteilten. Alle Menschen müssten «so schnell wie möglich» geimpft werden. Auch Ron DeSantis, der Gouverneur von Florida, betonte in den letzten Tagen die Effektivität der Impfungen.
Allerdings hatte DeSantis, eine Art intelligente Version von Donald Trump, im Mai ein Gesetz unterzeichnet, das den Einsatz von Impfzertifikaten in Florida verbietet. Letzte Woche kündigte er Klagen gegen Kreuzfahrt-Unternehmen an, die solche Nachweise verwenden wollen. Sein Wahlkampfteam hat Werbeartikel produziert, die Anthony Fauci verhöhnen.
Hinter dem «Sinneswandel» unter Republikanern stecke wohl Druck aus der Wirtschaft, schreibt der «Washington Post»-Kolumnist E.J. Dionne. Sie fürchte neue Einschränkungen oder sogar Lockdowns. Ein gewisser Effekt ist spürbar: In mehreren republikanisch regierten Staaten hat die Impfquote zuletzt stärker zugelegt als im nationalen Durchschnitt.
Das Engagement der Republikaner sei erfreulich, meint Dionne, aber sie müssten auch ein anderes Virus ernst nehmen: «Die Ausbreitung des Extremismus in eurer Partei ist tödlich – für unsere Gesundheit und unsere Demokratie». Das aber bleibt ein frommer Wunsch.