Die Wahlplakate sind überklebt, die Menschen laufen zügig durch die Fussgängerzone, den Schal gegen den eisigen Wind ins Gesicht gezogen. In Singen deutet am Mittwoch fast nichts mehr auf die Wahl vom Wochenende hin – für viele Deutsche eine Schicksalswahl.
Am Bahnhof steigt weisser Rauch aus dem langen Kamin der nahen Eisengiesserei. Derweil ist Deutschland nach der Bundestagswahl noch weit von einer neuen Regierung entfernt. Der Weg zur Grossen Koalition mit der SPD wird für die Wahlsiegerin CDU/CSU steinig werden.
Für eine Mehrheit der Deutschen überwiegt aber die Erleichterung: Die AfD, die in ihren Reihen Rechtsradikale duldet, hat zwar massiv zulegen können und geht als zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervor, sie dürfte politisch aber isoliert bleiben. Obenaus schwang die AfD vor allem im Osten. Im Süden dominierten CDU und CSU das Geschehen.
So auch in in Grenznähe zur Schweiz. Mit einer prominenten Ausnahme: In der Stadt Singen verdoppelte die AfD ihren Wähleranteil und holte mit 28.6 Prozent die meisten Stimmen und signifikant mehr als im Durchschnitt des Bundeslandes Baden-Württemberg, wo die AfD 19.8 Prozent der Stimmen auf sich versammelte.
Wie kommt das in einer Stadt, die mit vier Prozent Arbeitslosen besser dasteht als der deutsche Durchschnitt, die prosperiert und als Arbeiterstadt schon lange an Zuwanderung gewöhnt ist?
Es liege an der Unzufriedenheit, sagt ein Rentner auf der Strasse wie aus der Pistole geschossen. «Die Leute wollten den etablierten Parteien einen Denkzettel verpassen.» Die Regierung habe Geld verschwendet, wirtschaftlich gehe es mit Deutschland bergab. «Und viele haben den Eindruck, die Politik mache nichts für sie.»
«Deutschland kümmert sich mehr um andere als um sich selber», sagt eine Rentnerin. «Die Schule meiner Enkelin zum Beispiel ist total marode.» Demgegenüber gehe es ihren Nachbarn, drei Familien aus der Ukraine, gut. «Sie fahren alle einen teuren Mercedes und machen mit dem Bürgergeld Ferien in ihrer Heimat», behauptet sie. Trotzdem sei sie über das gute Abschneiden der AfD in Singen erschrocken.
Vielleicht, mutmasst die Frau, liege der Grund für das Resultat in der Kriminalität. Heute habe Sie Angst, nach 22 Uhr allein unterwegs zu sein. Dabei sei sie nicht fremdenfeindlich, ihr Mann sei Italiener. «Er musste sich selber Deutsch beibringen mit dem Wörterbuch. Heute kriegen die Flüchtlinge eine Schulung, obwohl sie nicht arbeiten.»
Eine Frau Mitte Dreissig sagt: «Die AfD ist tabu, darüber spricht man nicht.» Sie habe die Partei gewählt, sei aber keine Rassistin. «Ich bin aus Polen.» Auch die junge Mutter bewegen Sicherheitsbedenken. Ihren zehnjährigen Sohn hat sie mit einem Tracker ausgerüstet, so weiss sie immer, wo er ist. Es störe sie, dass die Geflüchteten meist junge Männer seien, sagt sie. Dabei habe sie viele Freunde mit Migrationshintergrund, feiere den Ramadan mit und gehe zum Fastenbrechen. «Ich bin kein Nazi, wenn man für Familie und Sicherheit kämpft, ist man doch nicht gleich rechts!»
In den letzten Jahren war Deutschland wiederholt das Ziel von Terrorakten, ausgeführt von Einzeltätern mit Migrationshintergrund. Mit der Autoindustrie ist der wichtigste Industriezweig des Landes in einer Krise. Warum aber verfängt die Angst vor Überfremdung und Abstieg in Singen überdurchschnittlich?
Die örtliche Vertretung der AfD sieht den Grund für ihren Erfolg im Umstand, dass Singen eine Arbeiterstadt ist. «Hier verdienen die meisten Menschen ihr eigenes Geld und legen somit Wert auf einen beständigen Arbeitsplatz», sagt André Rehm, Sprecher der AfD in Singen. Zudem habe seine Partei erfolgreich den Kontakt zur Bevölkerung gesucht.
Das bestätigen auch andere Parteien. Saskia Frank, Landtagsabgeordnete der Grünen, sagt: «Die AfD hatte ihren Stand schräg gegenüber von uns hier in der Fussgängerzone, die hatten immer eine grosse Menschentraube.» Entsprechend müsse ihre Partei jetzt über die Bücher und schauen, wie sie näher an die Anliegen der Wählerinnen und Wähler komme.
Walafried Schrott, der für die SPD im Gemeinderat von Singen sitzt, führt den Erfolg der AfD ebenfalls auf die soziale Struktur der Arbeiterstadt zurück. Während es in der Vergangenheit gelungen sei, die Italiener und Portugiesen, die mit den Produktionsanlagen in die Stadt gekommen seien, zu integrieren, habe sich heute bei einigen ein Gefühl der Unsicherheit ausgebreitet. «Im Strassenbild von Singen sieht man schon auch schwarz gekleidete Frauen mit schwarzem Kopftuch.» Das wecke Abwehrreflexe, dass sich die Leute denken: «Das ist meine Stadt!» Dieser Reflex überlagere heute Singens Tradition, ausländische Nationalitäten einzubinden.
Bernd Häusler, Oberbürgermeister von Singen und Parteimitglied der CDU, nennt keine Gründe für das Abschneiden der AfD. Auch er betont ganz präsidial die Tradition der Stadt, Menschen aus anderen Ländern zu integrieren. «Singen ist für viele Menschen aus dem Ausland zur Heimat geworden. Gerade auch für unsere Industrie haben ausländische Mitarbeitende einen wichtigen Beitrag geleistet.»
Stephan Freissmann, Leiter der Lokalredaktion Singen des Südkuriers, sagt, es handle sich um eine gefühlte Unsicherheit. «Die Zahlen sagen etwas anderes, nämlich dass die Kriminalität insgesamt abnimmt.» Die AfD sei offensichtlich besser darin, das Gefühl der Angst zu bearbeiten. Und sie beherrsche Tiktok besser als die etablierten Parteien.
Freissmann hat bereits vor den Wahlen dazu recherchiert, warum die AfD in Singen auf so viel Anklang stösst. Eine Erklärung, die er für plausibel hält, geht so: Nach Singen kamen über die Jahre viele Menschen, die nicht unbedingt auf der Sonnenseite des Lebens stehen, weil sie hier Wohnraum gefunden haben. Und diese Menschen haben oft Erfahrungen von Stigmatisierung und Ausschluss gemacht. Wenn Menschen sich benachteiligt fühlten, gehe das Vertrauen in etablierte politische Kräfte verloren, so Fleissmann. Und darauf kapitalisiere die AfD. Freissmann relativiert aber auch: «Die eine Erklärung dafür, warum die AfD gerade in Singen so stark abschneidet, kenne ich nicht.»
Wo aber ist in Singen die Angst vor der AfD? Ist sie für vier Jahre gebannt? Freissmann vom «Südkurier» sagt, für ihn sei fragwürdig, wie sehr man die AfD, wäre sie Regierungspartei, einhegen könne: «Wir sehen ja jetzt in den USA, wie schnell eine jahrhundertealte Demokratie beschädigt werden kann.»
Eben, deshalb. Weil Singen nahe der Schweiz liegt.