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Bundestagswahl

Bericht aus Berlin-Neukölln am Tag der Bundestagswahl 2025

Robert Habeck - Wahlplakat DEU, Deutschland, Germany, Berlin, 06.02.2025 Zerstoertes Wahlplakat mit Fragezeichen mit Foto von Robert Habeck , Bundesminister f�r Wirtschaft und Klimaschutz und Vizekanz ...
Der Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck wirbt mit dem Wort «Zuversicht». Wo er diese Heiterkeit wohl hernimmt?Bild: imago

watson in Berlin-Neukölln: «Wie der Phönix aus der Asche!»

watson-Redaktorin Elena Lynch war am Wahlsonntag in Berlin-Neukölln unterwegs, wo sie lebt. Im Ticker kannst du nachlesen, was sie erlebt und beobachtet hat.
23.02.2025, 12:5926.02.2025, 17:12
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22:47 Uhr, Berlin-Treptow-Köpenick, Eichenstrasse:

Beim Gehen entdecke ich die «Silberlocke» Gregor Gysi, wie er von seiner Entourage umgeben und mit Burger (ob Fleisch oder Seitan kann ich nicht erkennen) in der Hand rausläuft. Ein junger Mann ruft ihm zu: «Lassen Sie es sich schmecken, Herr Gysi!»

22:35 Uhr, Berlin-Treptow-Köpenick, Eichenstrasse:

Betritt man die Wahlparty des Berliner Landesverbandes der Linke, hat man erstmal Sand unter den Füssen. Vor der Arena Berlin wurde ein kleiner «Strand» aufgeschüttet, die Spree ist schliesslich nicht weit. Da kommt mir direkt ein 68er-Zitat in den Sinn: «Unter den Pflaster liegt der Strand.»

Der Sand wird an den Schuhen von aussen nach innen getragen. Dort spielt der Song «Pump Up the Jam» von Technotronic. Die Gästedichte hat sich etwas gelichtet. Das Publikum? Lockerer als davor bei den Grünen, weniger Wollpullis mit Zipper, mehr Antifa- und Sea Watch-T-Shirts.

epa11919330 Heidi Reichinnek (C), top candidate for the Left Party (Die Linke), co-leaders Jan van Aken (C-R) and Ines Schwerdtner (C-L), react with party members to initial results during the party e ...
Die Linke hat mit ihren 8,7 Prozent alle Erwartungen übertroffen. Mitte rechts die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek.Bild: keystone

Die Reden sind durch. Die meisten sind schon am Gehen. So wie das Schauspieler-Paar aus Treptow-Köpenick, die von sich sagen, dass sie Linke-Wähler sind, aber keine Mitglieder, und dass ihre Enkel auch alle links wählen. Beide sind im Osten geboren und 67 Jahre alt – zumindest wenn es nach ihm geht. Sie sagt nämlich: «Ne, ich bin schon 70.» Und er: «Echt? Das hast du mir noch nie gesagt.»

Wie ihre Stimmung denn sei nachdem die Linke deutschlandweit 8,7 Prozent der Stimmenanteile sichern konnte? «Sehr geteilt», sagt sie, «Wir freuen uns wahnsinnig für die Linke.» «Wie der Phönix aus der Asche sind sie auferstanden!», sagt er.

«Aber das AfD-Ergebnis macht mir Angst», sagt sie. «Was, wenn die CDU doch mit der AfD koaliert und sagt: Wählerwillen! Was dann?» «Ja, man muss da sehr bewusst bleiben», sagt er und fügt hinzu:

Es braucht diese linke Stimme im Bundestag, weil es von den anderen überhaupt nicht mehr abgedeckt wird, obwohl sie das behaupten.»
67-jähriger Schauspieler

Mit «den anderen» dürfte er die SPD und die Grünen meinen. Diese haben 16,4 respektive 11,61 Prozent der Stimmenanteile eingeheimst und werden die nächsten vier Jahre mit 120 respektive 85 Sitzen im Bundestag vertreten sein.

Über Berlin-Neukölln:
In Berlin-Neukölln wohnen laut der Einwohnerregisterstatistik 329’319 Menschen (Stand Juni 2024). Der Bezirk ist divers, bis zu 160 Nationen sind hier vertreten. Im Norden ist Berlin-Neukölln ein gentrifizierter Bezirk, mit unzähligen Bars, Cafés, Yogastudios, wo junge Kreative in Y2K-Klamotten wohnen, vorwiegend Englisch gesprochen wird und ein Kilo Sauerteigbrot schon mal mehr als sieben Euro kosten kann. Gleichzeitig ist Berlin-Neukölln ein migrantischer Bezirk, in den es seit dem Syrienkrieg 2011 viele Syrerinnen und Syrer verschlagen hat. Auf der Sonnenallee gibt es daher Restaurants und Konditoreien mit «Damaskus» im Namen. (lyn)

21:47 Uhr, Berlin-Treptow-Köpenick, Eichenstrasse:

Auf dem Weg zur Wahlparty der Linken beobachte ich, wie zwei Frauen aufeinandertreffen Die eine geht gerade auf die Wahlparty, die andere verlässt sie. Sie fallen sich wegen des Wahlergebnisses der Linke freudig in die Arme. Die eine sagt zur anderen: «Ja, hallo! Gratuliere! Das ist ja der Hammer, oder?» Die andere antwortet: «Ja, das ist der Hammer!»

Die Linke hat an dieser Bundestagswahl einen endrücklichen Aufschwung erlebt. Dann hielt Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek Ende Januar im Bundestag eine Wutrede, die viral ging. Allein auf Reichinneks TikTok-Account wurde der Auftritt fast 7 Millionen Mal aufgerufen.

@heidireichinnek

Die spontane Rede nach dem Dammbruch.

♬ original sound - Heidi Reichinnek, MdB

Ob der Aufschwung Reichinneks Auftritt zu verdanken ist oder auch Gregor Gysi, der seine Skincare-Routine – «Jeden Tag einmal, morgens, Gesichtscrème.» – auf Instagram teilte? Wer weiss.

Gysi ist Teil der «Mission Silberlocke» der Linke, die ihn und weitere Alt-Linke wie Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow auf die Bundestagswahl 2025 aufs Tapet rief. Die «Mission Silberlocke» sollte die Linke retten und mit starken Persönlichkeiten für Direktmandate – mit Erfolg. Gysi sicherte sich am Sonntag das Direktmandant im Wahlkreis Berlin-Treptow-Köpenick.

Dabei ist es noch nicht lange her, dass mit der Partei überhaupt nicht zu rechnen war, weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt war. Seit Sahra Wagenknecht aber ausgetreten ist und ihre eigene Partei gegründet hat, sei die Partei viel Ballast losgeworden, sagte Reichinnek gegenüber DIE ZEIT.

Jetzt ist es jedenfalls so, dass seit Anfang des Jahres so viele neue Mitglieder beigetreten, dass der Linke die Ausweise in der Parteizentrale ausgegangen seien. Am Sonntagabend waren es 90'000 neue Mitglieder.

Das Team von Reichinnek während des Wahlkampfes ständig neue, grössere Hallen anmieten mussten, so Reichinnek im selben Interview. Der Berliner Landesverband ist jedenfalls in der Arena Berlin an der Spree gelandet.

20:35 Uhr, Berlin-Neukölln, Sonnenallee:

Die Linke hat in Berlin-Neukölln 30,0 Prozent der Stimmen erhalten, damit ist ihrem Kandidat das gewünschte Direktmandat garantiert. Alle Kräfte auf Berlin-Neukölln zu konzentrieren dürfte sich also gelohnt haben. Siehe dazu der Eintrag von 13:01 Uhr.

Auf dem zweiten Platz liegt in Berlin-Neukölln die CDU mit 19,7 Prozent und auf dem dritten die SDP mit 18,1 Prozent. Bisher ging das Direktmandat immer an eine dieser beiden Parteien. Es ist das erste Mal, dass der Linke im ehemaligen Westdeutschland ein Direktmandat zugesprochen wird.

Also ab auf die Wahlparty der Linken, wo heute Abend in Berlin wahrscheinlich am meisten gefeiert werden dürfte.

19:56 Uhr, Berlin-Neukölln, Rollbergstrasse:

Vor kurzem wurden in der ARD die Hochrechnungen durchgegeben. Die Gäste buhten, wenn jemand von der CDU dazu interviewt wurde, und klatschten, wenn es jemand von den Grünen oder der Linke war. Überhaupt zeigte sich die Grünen an diesem Abend sehr solidarisch mit der Linken.

Das SchwuZ ist so voll, dass die Gäste nicht die Leinwand sehen, die vorne bei der Bühne hängt, und darum mit ihren Handykameras die Resultate fotografieren, um diese dann auf ihren Handys analysieren zu können. Man freut sich hier darüber, dass die AfD nach aktuellem Stand unter 20 Prozent und die Linke über 8 Prozent liegt. «Das Resultat würde ich nehmen», sagt eine junge Frau zu ihren Freundinnen und Freunden.

Grundsätzlich gibt man sich hier zufrieden mit den 13 Prozent der Grünen. Es ist schliesslich das zweitbeste Resultat: 2021 das beste, 2025 das zweitbeste. Im Vergleich zur CDU und der SPD, die ihr zweitschlechtes respektive schlechtes Ergebnis aller Zeiten eingefahren haben, stehen die Grünen stabil da. Es scheint, dass sie sich auf eine solide Basis stützen können.

Der Berliner Landesverband der Grünen feiert seine Wahlparty in einem Boiler Room. Wird die CDU eingeblendet, wird hier gebuht.
Der Berliner Landesverband der Grünen feiert seine Wahlparty in einem Boiler Room. Wird die CDU eingeblendet, wird hier gebuht.bild: watson

Dann werden alle möglichen Koalitionen durchgegangen. Jemand sagt «Kenia-Koalition», worauf jemand anders in der Gruppe sagt, dass die FDP nicht schon wieder Königmacher werden solle. Zu dem Zeitpunkt lag die FDP noch knapp über der Fünf-Prozent-Hürde, später würde sie auf 4,3 Prozent stehen bleiben und damit die nächsten vier Jahre nicht um Bundestag vertreten sein.

Alle schauen ständig auf ihre Handys. Im Liveticker des ZDF steht, dass die AfD der CDU Koalitionsverhandlungen angeboten hat. Kopfschütteln. Eine junge Frau fragt ihre Freundinnen und Freunde, ob sie glauben, dass die CDU mit der AfD koalieren würde. Sie selbst sagt: «Nicht sofort.» Sie denkt, dass die CDU sich während den Koalitionsverhandlungen weiter radikalisieren werde und dann, irgendwann, auch vor einer Koalition mit der AfD nicht zurückschrecken werde.

19:27 Uhr, Berlin-Neukölln, Rollbergstrasse:

Die Wahlparty des Berliner Landesverbands der Grünen findet im SchwuZ, einem bekannten Queer Club, in Berlin-Neukölln statt, vor dem an diesem Sonntagabend viele Velos stehen.

Der Einlassstempel ist ein grüner Igel. Der Club ist so voll und die Schlange vor der Bar so lang wie an einem Samstag nach Mitternacht. Und ähnlich heiss ist es auch.

Im Club, wo die Wahlparty der Grünen stattfindet, hängen Ketten und Lametta von der Decke.
Im Club, wo die Wahlparty der Grünen stattfindet, hängen Ketten und Lametta von der Decke.bild: watson

Zum Setting: Der Raum erinnert an einen Boiler Room. Links und rechts fette Betonsäulen und über allem eine grün angeleuchtete Discokugel. Mehr Berlin geht nicht. Die Grünen geben sich hip. Vor der Garderobe hängt ein grosses Neon-Herz, in dessen Innern der Reim «Cheers Queers» steht, überall sonst hängen Lametta und Ketten. Irgendwann spielt der Song «Sweet Dreams (Are Made of This)» von den Eurythmics.

Zum Publikum: Bürgerlich. Zwei junge Männer, beide Brille, stehen in der Schlange vor der Bar. Der eine fragt den anderen, ob er denn wisse, was seine Familie wähle. Dieser sagt: «Ja, ich bin gar nicht rebellisch. Die wählen alle die Grünen. Und du?» «Ach, wir reden nicht darüber», sagt der andere, «Doch ich denke nicht, dass die die Grünen wählen. Meine Schwester liebt ihr Auto zu sehr.»

17:55 Uhr, Berlin-Neukölln, Donaustrasse:

Ich sehe drei Frauen vor der Schule, auf deren Mauer übrigens «Scheiss Schule» gesprayt wurde, Halt machen: Die eine stellt sich vor das Schultor, hält ihren deutschen Pass in der einen und ihre Wahlbenachrichtigung in der anderen Hand und lässt sich von den anderen beiden fotografieren.

Weil ich wissen will, was es mit dem Foto auf sich hatte, fange ich sie nach ihrer Stimmabgabe auf dem Schulhof ab. Es stellt sich heraus, dass diejenige, die sich hat fotografieren lassen, vor zehn Tagen eingebürgert wurde und am Freitag – pünktlich zur Bundestagswahl – ihren Pass bekommen hat. Sie ist 33 Jahre alt, arbeitet an einer Sprachschule und kommt aus den USA.

Wie es denn sei, das erste Mal in Deutschland zu wählen? «Es war emotional», sagt sie. Warum? Aber noch bevor sie antworten kann, steigen ihr die Tränen in die Augen. Sie entschuldigt sich, schluckt kurz leer und setzt erneut zur Erklärung an, dieses Mal mit Erfolg:

«Dass meine Stimme in dieser wichtigen Wahl gehört wird, das ist sehr bedeutsam für mich.»
33-jährige eben eingebürgerte US-Amerikanerin

«Ja, schliesslich sind wir schon lange in Deutschland. Sie seit 9 und ich seit 12 Jahren», fügt die andere hinzu, die ebenfalls vor Kurzem eingebürgert wurde, 38 Jahre alt und Ärztin ist und aus Montenegro kommt. «Und die Tatsache, dass ich jetzt endlich mitreden kann und gehört werde, macht daraus einen wichtigen Tag für uns.»

Sie hätten aus dem Herzen heraus gewählt, sagen sie, oder das, was ihnen der Wahl-O-Mat (das deutsche Pendant zu smartvote in der Schweiz) angegeben habe. Was beim Wahl-O-Mat herausgekommen sei? Links-Links, beide Stimmen.

17:37 Uhr, Berlin-Neukölln, Donaustrasse:

Anders als das ältere Ehepaar und die Lehrerin, hat das junge Paar, das nach seiner Stimmabgabe gerade den Schulhof verlassen hat, dieses Mal nicht dieselbe Partei gewählt wie 2021.

Sie hätten strategisch die Linke gewählt, sagen sie, in der Hoffnung, ihr damit zum Direktmandat in Berlin-Neukölln zu verhelfen. Mehr dazu im Eintrag von 13:01 Uhr.

Er ist 22 und studiert Ingenieursinformatik, sie ist 24 und arbeitet im sozialen Bereich als Eingliederungshelferin. Mit Anfang 20 gehören sie der Generation an, bei der, seit sie wählen kann, die AfD auf dem Wahlzettel steht.

2021 war ihre erste Bundestagswahl. Dazu sagt er. «Dieses Mal habe ich gemerkt, dass ich mir genauere Gedanken darüber machen sollte, was ich wähle.»

Auf die Frage, wie sie denn in die Zukunft schauen würden, antwortet er:

«Das sehen wir dann. Man darf sich nicht zu früh freuen, wenn man auf Social Media sieht, dass alle Freundinnen und Freunde in die gleiche Richtung gehen wie wir. Das Gesamtbild in Deutschland dürfte ein anderes sein.»
22-jähriger Student

16:56 Uhr, Berlin-Neukölln, Donaustrasse:

Auf dem Schulhof halte ich eine 63-jährige Lehrerin an, die ihr Leben lang in Neukölln gewohnt hat.

Sofort stellt sie fest, dass viele Leute unterwegs seien, zumindest komme es ihr im Vergleich zu den Vorjahren so vor und schliesst daraus, dass die Wahlbeteiligung hoch sein müsse. Und sie hat recht: Die Wahlbeteiligung an dieser Bundestagswahl liegt bei über 80 Prozent und ist damit so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

A resident arrives to cast a vote at a polling station in Berlin, Germany, Sunday, Feb. 23, 2025, during the German national election. (AP Photo/Markus Schreiber)
Bei der Bundestagswahl 2025 dürfte die Wahlbeteiligung höher sein als 2021.Bild: AP

Ob sie denn die Partei gewählt habe, die sie immer wähle? «Schwer zu sagen. Eigentlich habe ich schon die Partei gewählt, die ich sonst wähle. Ich habe ein bisschen aus dem Bauch heraus entschieden, wofür eigentlich mein Herz schlägt. Also nicht so strategisch.» Welche Partei sie gewählt hat, will sie nicht verraten.

Auf die Frage, wie sie denn in die Zukunft blicke, antwortet sie:

«Ich glaube, es könnten schwierige Koalitionsverhandlungen werden. Es gibt ja nicht viele Möglichkeiten. Und, ehrlich gesagt, glaube ich, dass sich deswegen nicht grossartig etwas verändern wird.»
63-jährige Lehrerin

16:14 Uhr, Berlin-Neukölln, Donaustrasse:

Ich sehe sie schon von weitem: die Wählenden. In Zweierreihe, als wären sie eine Kindergartenklasse, gehen sie Richtung Wahllokal in der Rixdorfer Grundschule in der Donaustrasse.

Ich halte ein älteres Ehepaar an, das gerade gewählt hat und den Schulhof verlässt. Er ist 80 Jahre alt, sie ein Jahr älter. «Sieht man ja», scherzt er. Er war mal Industriekaufmann, sie Arzthelferin.

23.02.2025, Brandenburg, Potsdam: Ein W�hler gibt seine Stimme f�r die Bundestagswahl ab. Am Sonntag findet die vorgezogene Wahl zum 21. Deutschen Bundestag statt. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildf ...
Mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten am 23. Februar zählen zur Generation 60 plus.Bild: DPA

Was sie denn gewählt hätten? «Eigentlich die [Partei], die ich immer wähle», sagt er. Welche das ist, will er für sich behalten, «wegen des Datenschutzes». Weil er in Berlin-Wedding aufgewachsen ist, der sozialdemokratischen Hochburg der Stadt, würde ich aber auf die SPD tippen.

Er fühle sich jetzt «echt entlastet», das ganze Brimborium in den Medien, wochenlang, um diese «Scheisswahl», «schlimm!»

Was sie denn mit Blick in die Zukunft sehen würden? Da werde sich kaum was ändern, sagt er und holt zum Plädoyer aus: «Es ist ja so: Alle vier Jahre wird das Wahlvolk mal zur Urne getrieben und danach …» «… geht alles im gleichen Trott weiter», beendet seine Frau den Satz. «Hält sich ja keiner an das, was er verspricht. Das Volk wird verarscht», fügt er hinzu.

Und sie sagt:

«Ick hoff’, nicht der scheiss Merz und die AfD.»
82-jähriger Berlinerin

«Na ja, dann hätte es BlackRock geschafft», sagt er und meint damit den weltweit grössten Vermögensverwalter, für der CDU-Kandidat Friedrich Merz jahrelang tätig war.

15:05 Uhr, Berlin-Neukölln, weiterhin Sonnenallee:

Auch wenn bei dieser Bundestagswahl eines der Motive der Grünen «Ein Mensch. Ein Wort» lautet, dürfte aller-aller-aller-spätestens nach der Aktion von Merz in Deutschland das Gefühl dominieren, dass man sich in der Politik auf nichts und niemanden mehr verlassen kann. Nicht auf Friedrich Merz, der offenbar seine Versprechen nicht hält, und auch nicht auf die drei Männer, die für das Scheitern der Ampelkoalition verantwortlich sind: Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner. Und bei denen nicht einmal klar ist, ob sie nach dieser Wahl Privatmänner oder Politiker sein werden. Die Mitte dürfte noch nie so schwache Kandidaten aufgestellt haben.

Robert Habeck - Gruene Wahlkampagne DEU, Deutschland, Germany, Berlin, 08.02.2025 Rede von Robert Habeck , Kanzlerkandidat von Buendnis 90 Die Gruenen und Bundesminister fuer Wirtschaft und Klimaschut ...
Robert Habeck, Kanzlerkandidat der Grünen, verspricht, Wort zu halten.Bild: imago

Abgesehen davon ist dieses Mal die Wahlkampfphase mit acht Wochen ausserordentlich kurz und die Auswahl mit drei Kanzlerkandidaten und einer Kanzlerkandidatin aussergewöhnlich gross. So viele haben sich noch nie für dieses Amt aufgestellt. Und am Ende könnten «alle» acht Parteien (SPD, Grüne, CDU, CSU, FDP, Linke, AfD, BSW) oder nur fünf (SPD, Grüne, CDU, CSU, AfD) in den Bundestag einziehen.

Die damit einhergehende Unsicherheit und Unübersichtlichkeit dürfte die Deutschen in ihrer Wahlentscheidung beeinflussen. Zwischen 34 und 40 Prozent der 60 Millionen Wahlberechtigen wussten eine Woche vor der Wahl noch nicht, wen und was sie wählen sollen.

Wären die Unentschlossenen eine Partei, schreibt die deutsche Wochenzeitung «DIE ZEIT», hätten sie damit die grössten Chancen, den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen.

Ich mache mich gleich auf den Weg zum Wahllokal in Berlin-Neukölln. Mal schauen, ob sich die Unentschlossenen inzwischen eine Meinung gemacht haben.

14:10, Berlin-Neukölln, immer noch Sonnenallee:

Es sind unsichere Zeiten, in denen jeder Tag mit einer neuen Undenkbarkeit aufwartet: Im Dezember brach die Ampelkoalition auseinander, etwas, was die FDP minutiös geplant haben soll, das dazugehörige Dokument enthielt die Worte «offene Feldschlacht». Im Januar machte CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz dann das, wovon er immer gesagt hat, dass er es nie und nimmer tun würde. Er liess seine Partei zum ersten Mal mit der AfD abstimmen, um einen Antrag zum Thema Asyl und Migration im Bundestag durchzubringen, und riss damit, wie ihm dann viele in Deutschland vorwarfen, die einst errichtete «Brandmauer» ein.

Gerechtfertigt hat Merz diesen Schritt mit der Messerattacke in Aschaffenburg, nach Magdeburg der zweite Anschlag auf die Zivilgesellschaft innert eines Monats. Gepokert hat er darauf, dass, wenn er mit Migration Politik macht, es ihm bei der Wahl zu Gute kommt.

Das Ganze hatte nicht nur wegen der «Brandmauer» einen bitteren Beigeschmack, sondern auch, weil am selben Tag im Bundestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 80 Jahren gedacht wurde. Der jüdische Pianist Igor Levid schrieb dazu auf Bluesky:

29. Januar 2025 Der Tag beginnt im Bundestag damit, dass man der Shoah gedenkt und er endet damit, dass Nazis jubeln.

— Igor Levit (@igorpianist.bsky.social) 29 January 2025 at 19:11

Mit den Nazis dürfte er die AfD gemeint haben.

Daraufhin mobilisierten sich viele gegen die CDU und versuchten ihre Verwandten davon zu überzeugen, doch wenigstens bei dieser Bundestagswahl, das Kreuz mal bei einer anderen Partei als der CDU zu machen. Die CDU ist eine alteingesessene Partei, viele Wahlberechtigten wählen sie, weil sie sie immer schon gewählt haben.

Wie etwa die Grossmutter einer gleichaltrigen Journalistin, die am Tag nach der Merz-Aktion in ihrer Story auf Instagram schrieb, dass es noch nie etwas genützt habe, mit ihrer Familie über ihre Wahlentscheidung zu diskutieren. Dann sei aber „gestern“ passiert und sie und ihre Schwester hätten sich entschieden, nochmal einen Versuch zu wagen und mit der Familie zu reden. Und tatsächlich sei passiert, was sie sich nie habe träumen lassen: «Omi, 83 Jahre alt, und seit 1990 nie woanders als bei der CDU ihr Kreuz gemacht, sagt: ‹Das kann ich mit meinem Herzen nicht vereinbaren.›»

13:01 Uhr, Berlin-Neukölln, Sonnenallee:

Wenn ich ein Wort finden müsste, das die Stimmung rund um die diesjährige Bundestagswahl beschreibt, dann würde ich wahrscheinlich «Verunsicherung» wählen. Jedenfalls nicht «Zuversicht», wie es der Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck auf sein Wahlplakat hat schreiben lassen. Der ARD-Wahlexperte hat es am Samstagabend auch noch einmal in der Tagesschau gesagt: «Die Zuversicht war kaum jemals so gering.»

Mit «Zuversicht» dürfte sich Robert Habeck das falsche Wort für diesen Wahlkampf ausgesucht haben.
Mit «Zuversicht» dürfte sich Robert Habeck das falsche Wort für diesen Wahlkampf ausgesucht haben.Bild: imago

Ich frage mich, woher Habeck seine Heiterkeit nimmt. Ist er wirklich so optimistisch (und wenn ja, wo schaut er da hin?) oder redet er sich mit diesem Wort die Welt schön, so wie es ihm sein ehemaliger Ampel-Kollege Christian Lindner von der FDP dauernd vorgeworfen hat. Ein Vorwurf, an dem Lindner bis heute festzuhalten scheint, hat er sich doch den Spruch «Schönreden ist keine Wirtschaftsleistung» auf sein Wahlplakat drucken lassen – ein Seitenhieb gegen den Wirtschaftsminister Habeck.

GER, Berlin, Wahl, Wahlplakat, Im Bild: Christian Lindner, FDP, Aussage: Schoenreden ist keine Wirtschaftsleistung, 19.01.2025, *** GER, Berlin, Election, Election poster, In the picture Christian Lin ...
Christian Lindner von der FDP teilt sogar mit seinem Wahlplakat Seitenhiebe gegen den Wirtschaftsminister Robert Habeck aus.Bild: imago

Ein Beispiel für die vorherrschende Verunsicherung ist, dass meine Bürokollegin, nachdem sie an der Urne war, zu mir meinte, dass sie noch nie so verunsichert gewesen sei bei einer Bundestagswahl. Noch in der Wahlkabine habe sie gewerweisst, wem sie ihre Stimme geben soll. Grund dafür seien die vielen Freundinnen und Freunde und Videos in den sozialen Medien gewesen, die dafür plädierten, «strategisch» zu wählen – und sich dabei teils widersprachen.

Strategisch zu wählen heisst, seine Stimme einer anderen Partei zu geben als der, von der man sich am besten vertreten sieht. Das kann besonders bei Kleinparteien wie dem BSW, der FDP und der Linken einen Unterschied machen. (Dass gleich drei Parteien sich in diesem Prozentbereich bewegen, gab es noch nie.)

Nur wer die Fünf-Prozent-Hürde überschreitet, zieht in den Bundestag ein. Schafft die Lieblingspartei das nicht, kann es sein, dass die eigene Stimme gar nicht zählt – beziehungsweise sogar einer anderen Partei zugutekommt, auch der AfD. Kommen die kleinen Parteien nämlich nicht in den Bundestag, bekommen die anderen bei gleicher Stimmzahl automatisch mehr Sitze.

Im Fall meiner Bürokollegin war es so, dass sie vor allem die AfD verhindern wollte. Darum wollte sie ihre eigene Stimme da einsetzen, wo sie am meisten Wirkung hat, nämlich an der Fünf-Prozent-Hürde, und stimmte schlussendlich für die Linke statt – wie üblich – für die Grünen.

In ihrem Wahlkreis Berlin-Neukölln scheint das besonders sinnvoll, denn dort könnte die Linke Chancen auf ein Direktmandat haben. Es wäre das erste Direktmandat jemals, das die Linke im Westen bei einer Bundestagswahl gewinnt.

Laut einer Wahlkreisprognose vom 13. Februar liegt der Kandidat der Linken (der auf Instagram @der_neukoellner heisst) mit 23,4 Prozent einen Prozentpunkt vor der Kandidatin von der CDU. Bei der vergangenen Bundestagswahl 2021 hat ein Kandidat der SPD in Berlin-Neukölln am meisten Stimmen und damit das Direktmandat zugesprochen bekommen. Doch dieses Mal sehen die Umfragen nicht vielversprechend aus. Sie rechnen ihm 14,1 Prozent aus.

Gewinnt eine Partei mindestens drei Direktmandate, zieht sie so oder so in den Bundestag ein, egal, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde schafft oder nicht. Das erklärt, warum die Linke mit ihren Wahlkampfhelferinnen und -helfern in Neukölln mit Wahlplakaten so präsent war, von Tür zu Tür ging und am Tag vor der Wahl mit Fahrrädern, Fahnen und Lautsprechern durch die Strassen fuhr und Flyer in die Briefkästen warf.

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57 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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just right
23.02.2025 15:02registriert Februar 2025
Wenn Merz tatsächlich nur aus wahltaktischen Gründen die Migrations Politik versprochen hat und nach den Wahlen nicht umsetzt, wird es in 4 Jahren ein ganz böses Erwachen geben.
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Links & nett
23.02.2025 16:12registriert Juli 2024
Ich befürchte „unentschlossen“ ist nur beschönigend für „Ich wähle AfD. Weil das sozial nicht akzeptiert ist, sage ich das aber nicht.“.
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Re Ro
23.02.2025 15:42registriert November 2024
Wenn die CDU eine strengere Migrationspolitik fordert, die SPD & Grünen weiterhin das Thema ignorieren, bezweifle ich, dass auf dieser Grundlage tragfähige Mehrheitsentscheidungen getroffen werden können, die das Land voranbringen. (Dito Umweltschutz, Energie, Bürgergeld uvm.)

Egal welche Konstellation es gibt, sie wird entweder auseinanderbrechen oder mehr Stillstand als Fortschritt verursachen die Vergangenheit liefert hier zuverlässige Erfahrungswerte.

Ob in diesem Zusammenhang die Brandmauer nicht mehr Schaden anrichtete wird sich zeigen, ausreden gibt es jedenfalls keine mehr!
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