Am 7. Oktober 2023 entführten Hamas-Terroristen die Familie von Yoni Asher. Dann begannen die 49 schlimmsten Tage seines Lebens. Während seine Frau Doron und seine beiden Töchter Raz und Aviv – damals zwei und vier Jahre alt – im Gaza-Streifen festgehalten wurden, kämpfte der Vater aus der Distanz um sie. Er startete eine Medienkampagne und sprach mit Politikern wie dem deutschen Bundeskanzler.
Dann kamen seine Liebsten endlich frei. Seither ist ihr Leben geprägt vom Glück, überlebt zu haben, aber auch von den Traumatisierungen. Das Privat- und das Berufsleben des 38-Jährigen geriet deshalb aus den Fugen.
Auch heute, mehr als ein Jahr nach der Rückkehr seiner Familie, reist er noch um die Welt, um das Bewusstsein für die Situation von israelischen Geisel-Familien zu stärken.
Diese Woche ist Yoni Asher in Zürich an einer Schule und an einer Spendengala aufgetreten. Vorher hat er die «Schweiz am Wochenende» zu einem Gespräch getroffen.
Am 12. Februar sind Sie erneut Vater geworden. Wie geht es dem Baby?
Yoni Asher: Es ist ein Mädchen und es ist bezaubernd. Ich bin so froh, dass sie gesund geboren wurde. Das ist nicht selbstverständlich unter diesen Umständen. Ihre Geburt ist für uns ein Akt des Optimismus. Sie ist der Beweis dafür, dass wir an eine bessere Zukunft glauben – trotz allem, was passiert ist.
Der Tag, der alles verändert hat, war der 7. Oktober 2023. Ihre Familie wurde entführt. Woran erinnern Sie sich?
Meine Frau Doron und meine Töchter Raz und Aviv waren an diesem Tag zu Besuch bei ihrer Grossmutter im Kibbuz Nir Oz, nahe der Grenze zu Gaza. Als die ersten Schüsse fielen, telefonierten wir. Plötzlich erzählten sie mir, dass Hamas-Kämpfer ihren Grossvater mitgenommen haben. Dann brach die Verbindung ab. Niemand konnte mir sagen, wo meine Familie ist. Dann fiel mir ein, dass ich Dorons Handy am Laptop orten kann. So sah ich, dass sie im Gaza-Streifen war. Am liebsten wäre ich auf dem Motorrad gefolgt, aber das war zu gefährlich. Also postete ich Vermisstmeldungen auf Social Media und gab meine Telefonnummer im nationalen Fernsehen bekannt, in der Hoffnung, Hinweise zu erhalten.
Was für Reaktionen erhielten Sie?
Am selben Abend erhielt ich ein Video, auf dem meine Familie auf einem Traktoranhänger zu sehen war, umgeben von bewaffneten Hamas-Terroristen. Diesen Moment werde ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen. In den nächsten Tagen erhielt ich noch viele weitere Hinweise. Menschen, die mir Bilder schickten und fragten, ob darauf meine Familie zu sehen ist. Viele sprachen mir Mut zu. Aber ich erhielt auch anonyme Nachrichten von Hamas-Anhängern in Gaza.
Wie lauteten die?
«Willkommen in Gaza, willkommen in der Hölle» oder «Deine Familie wird nie zurückkommen». Solche Nachrichten erhielt ich während der 49-tägigen Entführung immer wieder. Am schlimmsten war aber der Moment, als ich von den Gräueltaten der Hamas erfahren habe. Ich konnte meine Gedanken nicht mehr kontrollieren. Meine Babys, das Wichtigste, was ich im Leben habe, waren in den Händen dieser Terroristen, und ich konnte nichts tun. Das fühlte sich an, als wäre ich tatsächlich in der Hölle.
In dieser Zeit starteten Sie eine Medienkampagne, um Ihre Familie zurückzuholen. Weil Ihre Frau und Ihre Kinder auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben, kontaktierten Sie deutsche Politiker und trafen nach einer Woche sogar die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock. Wie war diese Begegnung?
Als sie in den Raum kam, lief gerade eine Medienkonferenz. Es waren viele Leute da. Sie forderte alle auf, rauszugehen, weil sie alleine mit mir sprechen wollte. Ich erzählte ihr meine Geschichte und zeigte Fotos meiner Töchter. Ihr liefen die Tränen über die Wangen. Sie hat selbst zwei Töchter, die damals acht und zwölf Jahre alt waren. Diese Begegnung werde ich nie vergessen. Später traf ich Kanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Auch sie waren sehr verständnisvoll und versprachen mir, sich für die Rückführung der Geiseln einzusetzen. Was sie auch taten.
Israeli man Yoni Asher offers himself to Hamas in exchange for his wife and children. #Israel #Palestine #Hamas pic.twitter.com/txMhCoGNbh
— Natalka (@NatalkaKyiv) October 9, 2023
Nach 49 Tagen kam Ihre Familie als eine der ersten Geiseln frei. Lag das auch an Ihrer Kampagne?
Damals hatte ich das Gefühl, dass meine Aktivitäten wirkungslos waren. Ich wollte viel lieber etwas Konkretes machen. Selbst nach Gaza fahren und sie rausholen. Meine Schuldgefühle nahmen mir den Hunger. Ständig fragte ich mich, was meine Frau und Kinder zu essen bekommen. Ob sie überhaupt essen. Ich hatte das Gefühl, mir läuft die Zeit davon. Heute denke ich, dass Aufmerksamkeit zu schaffen, bedeutungsvoll war. Vor allem glaube ich aber, dass wir Glück hatten. Ich machte eine schreckliche Erfahrung und dennoch hatte ich von allen Geisel-Angehörigen am meisten Glück.
Wie haben Sie Ihre Familie erlebt, als Sie sie erstmals wieder trafen?
Als ich Doron, Raz und Aviv im Krankenhaus in die Arme schliessen konnte, lächelten sie. Das ist ein gutes Zeichen, dachte ich mir. Sie waren müde, blass, mager, hatten Bakterien wie Salmonellen oder E.coli, weil sie unter schlechten Bedingungen festgehalten worden waren. Aber sie begannen gleich wieder, mit mir zu sprechen.
Was haben Ihnen die Mädchen erzählt?
Als Doron für Untersuchungen aus dem Zimmer ging, legten sich meine Töchter links und rechts von mir auf das Bett. Meine ältere Tochter Raz erzählte, dass sie von bösen Menschen in einem Traktor mitgenommen wurden. Sie erzählte von Messern, Gewehren und grossen Feuern, die sie gesehen hat. Die jüngere, Aviv, hatte damals noch einen Schnuller im Mund. Sie konnte sich noch nicht richtig ausdrücken. Sie fragte mich, warum ich nicht bei ihnen war und ob ich ihre Grossmutter gefunden habe. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nicht, dass die Mutter von Doron – Efrat Katz – am 7. Oktober getötet wurde.
Was hat Ihnen Ihre Frau erzählt?
Meine erste Frage war, ob jemand ihr oder den Mädchen körperlich Schaden zugefügt habe. Das war zum Glück nicht der Fall. Sie wurden aber in einem Zimmer im Al-Nasser-Spital unter entsetzlichen Bedingungen festgehalten. Ohne Toilette, Dusche und mit sehr wenig Nahrung. Aviv bekam starkes Fieber. Doron musste sie unter kaltes Wasser halten, um sie etwas abzukühlen, weil sie nicht mehr aufhörte zu schreien. Medikamente bekam sie keine. Das ist Kindesmissbrauch. Raz, meine ältere Tochter, glaubte meiner Frau irgendwann auch nicht mehr, wenn sie ihr versicherte, dass sie bald freikämen. «Mama, ich glaube nicht, dass wir jemals wieder nach Hause gehen werden», habe sie ihr gesagt.
Und dann kamen sie am 24. November 2023 frei. Das Rote Kreuz fuhr sie an die Grenze, wo das israelische Militär auf sie wartete und sie zu Ihnen ins Spital flog.
Genau. Auf eine verdrehte Art und Weise war das der schlimmste Moment für meine Töchter. Als sie in das Fahrzeug des Roten Kreuzes stiegen, wurden sie vom Mob fast gelyncht. Die Leute schlugen gegen die Türen. Raz und Aviv hatten grosse Angst, haben sie mir später erzählt.
Wie war die Rückkehr nach Hause?
Es war Nacht, als wir zu Hause ankamen. Obwohl es draussen dunkel und kühl war, rannten die Mädchen sofort in den Garten. Sie wollten gar nicht mehr ins Haus kommen. Sie wollten den Wind spüren und das Gras an den Füssen. Später, als sie den Kühlschrank öffneten, sagten sie: «Wow, wir haben so viel zu essen!» In den ersten Wochen haben sie unzählige Geschenke zugeschickt bekommen, von Menschen aus dem ganzen Land. Das hat sie sehr gefreut. Sie haben aber auch von ihren Erlebnissen erzählt. Meine jüngere Tochter wurde beispielsweise am Fuss verletzt.
Wie gingen Sie damit um?
Am Anfang war es für mich enorm schwierig, wenn sie ihre Gefühle und das Erlebte mit mir teilten. Es kam mehrmals vor, dass ich in einen anderen Raum gehen musste, um zu weinen, ohne dass sie es sehen. Ich konnte nicht hören, was ihnen passiert ist. Heute habe ich mich an ihre Geschichten gewöhnt. Was mich aber nicht loslässt, ist die Angst, dass ihnen wieder etwas passieren könnte oder dass ich sie wieder verliere.
Kurz nach der Freilassung Ihrer Familie, im Dezember 2023, hatten wir schon einmal mit Ihnen gesprochen. Damals waren Sie optimistisch gewesen, dass Sie schnell wieder in Ihr normales Leben zurückfinden würden. War dem so?
Nun, ich habe sicherlich begonnen, gewisse Elemente meines Lebens wieder in den Griff zu bekommen. Die Auswirkungen des Geschehenen spüren wir aber. Der Krieg dauert ja immer noch an. Bis heute warten viele Menschen auf die Rückkehr ihrer Liebsten. Ich fühle mich schuldig und gesegnet zugleich, weil meine Familie wieder zurück ist. Um die Schuldgefühle loszuwerden, habe ich weiter an Veranstaltungen und mit Medien gesprochen. Irgendwann konnte ich aber nicht mehr. Ich brach zusammen. Sogar als die damalige Trump-Kampagne anrief, um mich zu einem Treffen mit Donald Trump einzuladen, sagte ich ab. Ich hatte keine Kraft mehr und wollte meine Mädchen nicht allein lassen. Daraufhin schaltete ich für zwei Monate mein Handy ab. Nur meine Familie konnte mich noch kontaktieren.
Geht es Ihnen heute besser?
Wir alle sind in Therapie. Diese ist zwar nicht die Lösung, aber sie hilft. Ich habe mich knapp neun Monate lang voll und ganz auf meine Familie konzentriert, war nur zu Hause und habe sie unterstützt, wo ich nur konnte. Meinen Töchtern geht es heute schon viel besser. Sie sind jetzt im Kindergarten. Aber ich spüre, dass sie anders sind als vor der Entführung.
Inwiefern?
Sie sind viel emotionaler und zeigen manchmal unverhältnismässige Reaktionen. Sie sind schneller frustriert und haben grössere Wutanfälle. Sie haben Mühe damit, alleine zu sein. In der Nacht haben sie oft Albträume von bösen Menschen auf Traktoren, die sie holen.
Yoni Ashers Handy klingelt. Es ist seine Tochter Raz (6). Er stellt den Anruf auf Lautsprecher. «Abba», sagt ein helles Stimmchen. Asher und seine sechsjährige Tochter reden auf Hebräisch. Die anfängliche Freude in der Stimme der Tochter kippt plötzlich. Raz weint und schreit. Asher versucht sie zu beruhigen – mit Erfolg. Dann beendet er das Gespräch und seufzt.
Was erzählte Ihre Tochter gerade?
Sie ist enttäuscht, dass ich sie heute nicht vom Kindergarten abhole. Ich habe ihr gesagt, dass ihre Grossmutter kommen werde. Für sie ist es noch schwieriger als für andere Kinder in diesem Alter, ihre Gefühle zu kontrollieren.
Wissen Ihre Töchter, dass sie bekannt sind?
Am Anfang hatte ich es ihnen nicht erzählt. Als uns plötzlich Menschen auf der Strasse anhielten, um uns zu grüssen oder zu umarmen, waren sie deshalb verwirrt. Heute wissen sie, dass ich im Fernsehen war, um mich für sie einzusetzen, als sie weg waren.
Was halten sie davon?
Ihr Therapeut sagte mir, es sei wichtig für sie, die ganze Geschichte zu kennen. Deshalb wissen sie inzwischen, wo ich war, was ich gemacht habe und dass ich für sie gekämpft habe. Das gilt bis heute. Sie wissen, dass ich manchmal verreisen muss, um Israel und den Geiseln zu helfen.
Hilft es Ihnen auch persönlich, die Geschichte immer wieder zu erzählen?
Ja, weil ich das Gefühl habe, dass sie von Bedeutung ist. Ich glaube, es ist wichtig, ein Bewusstsein für die Familien zu schaffen, die bis heute auf ihre Angehörigen warten. 59 Geiseln sind immer noch in Gaza.
Sind Sie zurzeit berufstätig?
Ja. Ich habe meine Immobilienfirma. Ich war lange weg. Nun muss ich zurückkehren und die Scherben aufsammeln. Ich musste Eigentum verkaufen, um meine Schulden zu bezahlen. Das tat weh. Ausserdem habe ich noch heute grosse Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Der Prozess braucht Zeit. Ich bin noch nicht am Ort, an dem ich vorher war – und das werde ich vielleicht auch nie mehr sein.
Wie ist heute Ihre Beziehung zu Ihrer Frau Doron?
Nun, die Folgen des 7. Oktober sind nicht einfach zu verarbeiten. Wir leben getrennt. Es ist kompliziert – das war es schon vorher. Die Folgen der Entführung waren zu viel für unsere Beziehung. Also haben wir entschieden, dass wir uns trennen. Lieber haben unsere Kinder zwei getrennte, aber glückliche Eltern, anstatt dass wir zusammen unglücklich sind. Ich möchte so stark wie möglich sein, für meine Familie, für meine Töchter. Sie brauchen mich. Das hat mich die ganze Zeit über am Laufen gehalten. Ich habe keine andere Wahl, als für sie da zu sein.
Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft Ihrer Familie?
Ich bin eine optimistische Person. Aber ich habe Angst, dass irgendwann, vielleicht wenn sie Teenager sind, irgendetwas in ihnen explodiert. Wenn sie zum Beispiel eine grosse Enttäuschung erleben oder Angst haben. Am liebsten würde ich sie deshalb immer bewachen und beschützen. Das ist anstrengend. Nichtsdestotrotz bin ich ein Glückspilz. So viele andere Familien verloren ihre Liebsten und mussten mitansehen, wie ihre Verwandten ermordet wurden. Wie kann ich mich da beschweren?
Was wünschen Sie sich für Ihre Töchter?
Sie sind noch jung. Aber sie sind sehr intelligent und werden sicher sehr ambitioniert sein. Mädchen sind für mich etwas Besonderes. Sie haben eine einzigartige Sichtweise auf viele Dinge. Das Wichtigste für mich ist, sie als Gewinnerinnen grosszuziehen und nicht als Opfer. (aargauerzeitung.ch)
Und danke, die Taten des 7.
Oktober sowie alles, was seither noch immer den Opfern angetan wird, in Erinnerung zu halten.
Wie geht man mit einer solchen Traumatisierung um? Ich mag gar nicht daran denken, wie die erst kürzlich Freigelassen je wieder in ein normales Leben zurückfinden sollen.
Ich mag nicht daran denken, was die im Laufe der Geiselhaft Ermordeten vor ihrem Tod erlebt haben.
Und - ich will nicht das eine Leid gegen das anderen Leid ausspielen.