Herr Baskin, bei der Ankunft eines Hilfsgüterkonvois in Gaza-Stadt starben über 100 Menschen. Was ist aus Ihrer Sicht passiert?
Gershon Baskin: Hilfskonvois, die dringend benötigte Dinge für den Grundbedarf bringen, sind zu selten. Über hunderttausend Menschen warten im Norden des Gazastreifens verzweifelt auf Nahrungsmittel. Nun kam es laut der israelischen Armee dazu, dass es bei einer Lieferung ein Chaos unter den in Massen wartenden Menschen gab. Dabei wurden zehn Personen durch Warnschüsse der israelischen Soldaten getötet und fast 100 Menschen starben durch das Gedränge der Menschenmenge.
Der palästinensische Uno-Botschafter Riad Mansur glaubt, dass es genau umgekehrt war: Dass die Menschen vor allem durch die Schüsse israelischer Soldaten starben.
In so einer Situation ist es absolut möglich, dass ein Gedränge fast 100 Todesopfer fordert. Auch in Israel sorgte vor drei Jahren eine Massenpanik dafür, dass innert Minuten fast 40 Menschen ums Leben kamen. Solche Tragödien passieren, wenn man keine Kontrolle über eine Menschenmenge hat, wie das in Gaza aktuell der Fall ist. Auch Drohnenbilder zeigen klar, wie sich die Menschenmenge um die Hilfskonvois drängt. Man darf dabei eines nicht vergessen.
Erzählen Sie.
Zurzeit erleben die Menschen im Gazastreifen eine Hungersnot. Kinder sterben, weil sie nichts zu essen haben. Und der Schwarzmarkt treibt die Lebensmittelpreise und andere Dinge für den Grundbedarf in die Höhe, wie mir ein Freund vor Ort sagte. Viele würden weit gehen und auch Gewalt anwenden, um für ihre Familie Nahrungsmittel zu beschaffen.
Denken Sie, die Tragödie um den Hilfskonvoi markiert einen Wendepunkt?
Jeden Tag werden rund 250 Palästinenser getötet. Ich denke darum leider, dass dieser Vorfall nichts daran ändert.
Was ist die Lösung, damit so eine Situation aber nicht mehr vorkommt?
Erstens braucht es sofort einen Waffenstillstand. Zweitens muss Israel klar wissen, dass es, solange der Krieg andauert, und auch danach, für die humanitäre Situation im Gazastreifen Verantwortung übernehmen muss.
Wie lange müssen die Menschen im Gazastreifen noch warten, bis sich Israel auf einen Waffenstillstand einlässt?
Auch die israelische Armee ist erschöpft und braucht eine Pause. Genauso wie die Hamas eine Pause braucht und das palästinensische Volk. Für einen Waffenstillstand muss es eine Abmachung über die Befreiung der Geiseln geben. Meine Hoffnung ist, dass danach schnell ein Waffenstillstand eintritt für 40 bis 50 Tage. In dieser Zeit hätte die internationale Gemeinschaft die Möglichkeit, diesen Krieg diplomatisch zu beenden – ohne dass Israel die Stadt Rafah einnimmt und ohne, dass die Hamas weiterhin den Gazastreifen kontrolliert.
Glauben Sie wirklich an diese Lösung, wenn man bedenkt, dass viele Palästinenser und auch gewisse Regierungen wie etwa die Kolumbianische von einem Völkermord Israels im Gazastreifen sprechen?
Israel begeht keinen Völkermord, aber sie verüben – wie es die internationale Gemeinschaft nennt – Kriegsverbrechen. Klar ist: Wenn Israel einen Völkermord begehen wollte, wäre es nicht schwer für sie, das zu tun. Es stimmt, dass viele unschuldige Menschen starben. Aber ein Völkermord ist nicht das Ziel. Auch Israel weiss, dass es nur ein diplomatisches Ende für diesen Krieg geben kann. Dafür muss vor allem auch die internationale Gemeinschaft den Palästinensern zu erkennen geben, dass sie einen Staat Palästina anerkennen würden. Die Hamas war nie an einer Zweistaatenlösung interessiert. Doch in den Köpfen der Menschen im Gazastreifen lebt diese Idee.
Sie sagen einerseits, die Menschen im Gazastreifen sind traumatisiert und leiden an einer Hungersnot. Und gleichzeitig glauben sie, sie halten am Glauben an eine Zweistaatenlösung fest?
Kurzfristig wird es schwierig, das ist offensichtlich. Die Menschen auf beiden Seiten sind traumatisiert. Diese Lösung ist der einzige Weg, damit beide Völker dieselben Rechte erhalten. Ein Freund von mir in Gaza sagt: Die Palästinenser werden niemals Freiheit haben, wenn Israel keine Sicherheit hat, und Israel hat keine Sicherheit, wenn die Palästinenser keine Freiheit haben. Israel und Palästina sind nicht das Problem des anderen, sie sind die Lösung des anderen.
Ist denn Israel wirklich an einer Zweistaatenlösung interessiert?
Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung will die Zweistaatenlösung. Man muss dazu sagen, dass beide Seiten lange davon überzeugt waren, dass die andere Seite nicht bereit war, in Frieden nebeneinander zu leben. Das hat sich seit dem 7. Oktober verändert. Wir betreten eine neue Ära. Beide Regierungen sind am Ende. Die Hamas hat keine Zukunft als treibende Kraft im Gazastreifen. Die Regierung Netanjahus wird keine Mehrheit mehr in Israel haben. Die Zukunft wird chaotisch werden, aber mit vielen Möglichkeiten.
Eine Zukunft ohne Grenzzäune scheint aber noch in weiter Ferne.
Beschränkungen wie Zäune an den Grenzen wird es noch eine Weile geben. Aber das Ziel ist, dass es dazwischen auch Brücken gibt. So, dass die Menschen beginnen können, zusammenzuarbeiten. Und beide Seiten das Gefühl entwickeln, in Sicherheit zu leben. Offene Grenzen wie in der EU sind zwar noch ein Traum, doch auch in Europa dauerte es eine Weile, bis es so am heutigen Punkt angelangt war.
Am besten man würde alle Siedler, vor allem die, die auch in der Regierung tätig sind (wie der Finanzminister), in Europa und USA sanktionieren.
Das wäre ein klares Signal, dass der Westen genug hat von Fanatikern auf beiden Seiten, und es würde den Grundstein legen, für eine Zweistaatenlösung.
Für Israel war das Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung nie das, was die meisten darunter verstehen würden. Sogar Rabin hat von „Less than a state“ geredet. Also eher von Autonomie als von einem souveränen Staat.
Die Weltgemeinschaft müsste eher darauf hinarbeiten, dass die Palästinenser volle Bürgerrechte bekommen. Ob dies dann in einem oder in zwei Staaten ist, sollen (alle) Menschen vor Ort entscheiden.