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Scharfe Kritik nach tödlichem Angriff auf Gaza-Helfer

«Israel hat nicht genug getan»: Scharfe Kritik nach tödlichem Angriff auf Gaza-Helfer

Am Montagabend starben im Gazastreifen sieben Helfer einer internationalen Hilfsorganisation durch eine israelische Rakete. Benjamin Netanjahu spricht von einem «unbeabsichtigten» Angriff, die Hilfsorganisation von einem «gezielten» Anschlag. Die internationale Gemeinschaft ist währenddessen entrüstet.
02.04.2024, 14:2003.04.2024, 07:31
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Was ist passiert?

Bei einem israelischen Angriff auf einen Konvoi am Montagabend sind sieben Mitarbeitende des Hilfswerks World Central Kitchen getötet worden, dies bestätigte die Organisation am Dienstag.

Bei den Opfern handelte es sich um einen amerikanisch-kanadischen Doppelbürger, einen palästinensischen Arbeiter sowie Personen aus Australien, Polen und Grossbritannien.

Das sagt Netanjahu

Der israelische Premierminister, Benjamin Netanjahu, hat am Dienstag zugegeben, dass ein «unbeabsichtigter» israelischer Angriff «unschuldige Menschen» im Gazastreifen getötet hat.

In einer Videobotschaft auf Hebräisch sagte er:

«Leider gab es in den vergangenen 24 Stunden einen tragischen Fall, bei dem unsere Streitkräfte unabsichtlich unschuldige Menschen im Gazastreifen getroffen haben.»

Er ergänzt, dass so etwas im Krieg passiere. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sagte, Israels Armee sei an internationales Recht gebunden. «Wir werden eine Untersuchung eröffnen, um diesen schwerwiegenden Vorfall weiter zu prüfen.»

Der israelischen Zeitung «Haaretz» zufolge ging der Angriff auf einen Terrorverdacht zurück. Die Streitkräfte hätten den Hilfskonvoi wegen der Vermutung attackiert, ein Terrorist sei mit ihm unterwegs gewesen, berichtete das Blatt unter Berufung auf nicht näher genannte Verteidigungsbeamte. Eine Einheit hatte demnach kurz vor der Einfahrt in die Lagerhalle einen bewaffneten Mann auf einem Lastwagen identifiziert, der beim Verlassen der Halle nicht mehr Teil der Autokolonne gewesen war.

Israels Präsident Izchak Herzog entschuldigte sich am Abend bei der WCK. Herzog habe mit José Andrés telefoniert und ihm sein tiefes Bedauern über den «tragischen Verlust der Leben der WCK-Mitarbeiter» ausgedrückt, schrieb der israelische Staatspräsident auf der Plattform X (vormals Twitter). Er habe dabei auch eine aufrichtige Entschuldigung ausgesprochen und den Angehörigen der Getöteten sein Beileid bekundet.

Auch der israelische Militärchef Herzi Halevi meldete sich zu Wort:

«Dieser Vorfall war ein schwerer Fehler. Das hätte nicht passieren dürfen.»

Er erklärte zudem, dass es sich um eine falsche Identifizierung gehandelt habe, welche unter «sehr komplexen Bedingungen» zustande kam. Halevi bestätigte zudem, dass eine unabhängige Kommission den Vorfall untersuchen werde. Die israelische Armee werde die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sofort umsetzen, um solche Tragödien künftig zu verhindern.

«Gezielter Angriff» – der Vorwurf von World Central Kitchen

Erin Gore, CEO von World Central Kitchen, sprach gegenüber der «Washington Post» von einem «gezielten Angriff» der israelischen Streitkräfte. World Central Kitchen, eine gemeinnützige Organisation für Nahrungsmittelhilfe, wurde 2010 nach dem Erdbeben in Haiti vom aus Spanien stammenden Starkoch José Andrés gegründet.

Seit Kriegsbeginn war die Organisation massgeblich an den Hilfslieferungen in den Gazastreifen beteiligt und hatte sich jeweils mit den israelischen Behörden koordiniert:

«Obwohl die Bewegungen mit den israelischen Verteidigungskräften koordiniert worden waren, wurde der Konvoi getroffen, als er das Lagerhaus von Deir al-Balah verliess. Das Team hatte dort mehr als 100 Tonnen humanitäre Nahrungsmittelhilfe entladen, die auf dem Seeweg nach Gaza gebracht worden waren.»

Zudem seien die Helfer in einer «konfliktfreien Zone» unterwegs gewesen, so Gore. Und mindestens zwei Autos des Konvois seien mit dem Logo von World Central Kitchen gekennzeichnet gewesen. Verifizierte Bilder zeigen ein geschwärztes Loch im Firmenlogo auf dem Dach eines Fahrzeugs.

epaselect epa11255114 A destroyed car of the NGO World Central Kitchen (WCK) sits along Al Rashid road, between Deir Al Balah and Khan Younis in the southern Gaza Strip, 02 April 2024. NGO World Centr ...
Bild: keystone

In einem Statement auf der Website von World Central Kitchen heisst es, dass der Betrieb in Gaza per sofort eingestellt werde. Zudem kündigte man baldige Entscheidungen «über die Zukunft unserer Arbeit treffen».

In einer Erklärung vom März gab World Central Kitchen an, seit Kriegsbeginn mehr als 35 Millionen Mahlzeiten serviert und mehr als 60 Gemeinschaftsküchen eröffnet zu haben. Auch die amerikanische Nahost-Flüchtlingshilfeorganisation, die in Zusammenarbeit mit World Central Kitchen täglich 150'000 warme Mahlzeiten in Gaza verteilt hatte, stellt den Betrieb ein, wie die «Washington Post» weiss.

Angriff sorgt für Angst bei verbliebenen Helfern

Der Angriff sorgt bei anderen in Gaza aktiven Hilfsorganisationen für grosse Verunsicherung und Angst. Das Vertrauen in die Zusammenarbeit mit Israel ist erschüttert, wie mehrere Helfende erklärten.

«Jeder fühlt sich jetzt bedroht», zitierte die «New York Times» am Dienstag (Ortszeit) Michael Capponi, Gründer der Hilfsorganisation Global Empowerment Mission. Es müsse der internationalen Gemeinschaft von Nichtregierungsorganisationen «garantiert werden, dass wir bei unserer Arbeit, die so wichtig ist, sicher sind», forderte Capponi.

Israel riskiere, am Ende ohne Partner für die Bereitstellung und Lieferung humanitärer Hilfe in den Gazastreifen dazustehen, zitierte die «Times of Israel» einen Beamten der US-Regierung. Tess Ingram, Sprecherin des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef), sagte der Zeitung «New York Times», sie hoffe, dass der Tod der Mitarbeiter von WCK im Gazastreifen «die Welt dazu bringen wird, zu erkennen, dass das, was hier passiert, nicht in Ordnung ist».

«Die Nachricht von dem Angriff ist entsetzlich – ein wahr gewordener Albtraum für uns», sagte Soraya Ali, Sprecherin der Organisation Save the Children, der US-Zeitung.

Was passiert mit den Leichen?

Die Palästinensische Rothalbmondgesellschaft (PRCS) gab bekannt, dass sie die toten Körper der sieben Helfer am Dienstagmorgen in einer «herausfordernden Operation» geborgen und in den südlichen Gazastreifen ins al-Najjar-Spital transportiert habe.

Der Direktor des Spitals sagte gegenüber der «Washington Post», dass bei einigen der Opfer nur noch einzelnen Gliedmassen vorhanden seien. Alle hätten sie jedoch Kleidung von Worlds Central Kitchen getragen.

Die Leichen bleiben vorerst im Spital in Gaza, bis die zuständigen Botschaften oder konsularischen Vertreter sie abholen kommen. Danach sollen sie über den Grenzübergang in Rafah in ihre Heimatländer geschafft werden.

Die Familie der getöteten Mitarbeiterin aus Australien sagte, die 43-Jährige sei ums Leben gekommen, «während sie die Arbeit verrichtete, die sie liebte». Sie werde «ein Vermächtnis des Mitgefühls, des Mutes und der Liebe für alle in ihrem Umkreis hinterlassen».

Internationale Kritik ist gross

In der Nacht auf Dienstag (Schweizer Zeit) meldete sich US-Präsident Joe Biden zu Wort. Er kritisierte Israel scharf: «Dieser Konflikt ist einer der schlimmsten in jüngerer Zeit, was die Zahl der getöteten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen angeht.» Der Demokrat sagte weiter:

«Israel hat nicht genug getan, um die Helfer zu schützen, die versuchen, die Zivilbevölkerung mit dringend benötigter Hilfe zu versorgen.»

Dies sei einer der Hauptgründe, warum die Verteilung der humanitären Hilfe im Gazastreifen so schwierig sei. Biden forderte zudem eine zügige Untersuchung und eine Veröffentlichung der Ergebnisse. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Der US-Präsident erklärte, er sei «empört und untröstlich» über den Tod der humanitären Helfer, unter denen ein Amerikaner gewesen sei.

«Sie versorgten mitten im Krieg hungernde Zivilisten mit Lebensmitteln. Sie waren mutig und selbstlos. Ihr Tod ist eine Tragödie.»

Ähnlich äusserte sich der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, Martin Griffiths. Er hob den Mut der sieben getöteten humanitären Helfer in Gaza hervor. Auf X schrieb er:

«Sie waren Helden. Sie wurden getötet, während sie versucht haben, hungernde Menschen zu ernähren.»

Bidens Aussenminister Antony Blinken fordert von Israel ebenfalls eine «rasche, gründliche und unabhängige Untersuchung». Er habe direkt mit der israelischen Regierung gesprochen und Aufklärung verlangt, sagte Blinken am Dienstag in Paris nach einem Treffen mit seinem französischen Amtskollegen Stéphane Séjourné.

«Wie schon während des gesamten Konflikts haben wir die Israelis darauf hingewiesen, dass sie unbedingt mehr tun müssen, um das Leben unschuldiger Zivilisten zu schützen – seien es palästinensische Kinder, Frauen und Männer oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen – und um mehr humanitäre Hilfe für mehr Menschen zu leisten.»

U.S. Secretary of State Antony Blinken speaks with UNESCO Director-General Audrey Azoulay during a meeting at the UNESCO Headquarters in Paris, Tuesday, April 2, 2024. Blinken is in Paris for talks on ...
Bild: keystone

Humanitäre Helfer müssten geschützt werden und es dürfe nicht die Situation entstehen, in der Helfer selber in Gefahr gerieten, sagte Blinken. Sowohl er als auch Präsident Joe Biden hätten bei jeder Gelegenheit von Israel mehr Platz für humanitäre Hilfe eingefordert. Hilfe müsse nicht nur in den Gazastreifen gelangen, sondern dort auch verteilt werden können.

Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez verurteilte den Angriff ebenfalls:

«Ich erwarte und fordere, dass die israelische Regierung so schnell wie möglich die Umstände dieses brutalen Angriffs aufklärt, der sieben Mitarbeitern einer Hilfsorganisation das Leben gekostet hat, die nichts anderes getan haben, als zu helfen.»

Der britische Aussenminister David Cameron sprach von einer «zutiefst erschütternden» Nachricht. Und auch Ägypten verurteilte den Angriff scharf. Ägypten fordere eine dringende und ernsthafte Untersuchung, um die Verantwortlichen «für diese systematischen und vorsätzlichen Verletzungen der palästinensischen Menschenrechte zur Rechenschaft zu ziehen».

Die deutsche Politikerin Sahra Wagenknecht fordert ein sofortiges Waffenembargo gegen Israel. «Das Sterben in Gaza und die Angriffe Israels in Nachbarländern müssen unverzüglich enden», sagte sie. «Dass Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen, die Hungernde versorgen wollten, ins Visier der israelischen Armee geraten sind, muss Konsequenzen haben.»

(yam/con, mit Material der sda)

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214 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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UriStier
02.04.2024 14:36registriert Mai 2019
Sorry das sind nicht die einzigen Unschuldigen die von der Israelischen Armee getötet worden sind.
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Sinndeslebens
02.04.2024 15:11registriert Januar 2023
Welch Überraschung. Kann da jetzt endlich wer Konsequenzen gegen den Amoklauf Israels einleiten? Ist doch in keinem Verhältnis mehr.
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Gabber_Gandalf
02.04.2024 14:45registriert Januar 2024
Und die welt schaut weiterhin zu und gibt israel das OK zum „sich verteidigen“ und die amis schicken weiterhin bomben.. tolle welt in der wir alle leben!
19744
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    Alle lachen über den Hühner-Trump
    Das Hin und Her in der Zollpolitik des US-Präsidenten sorgt für Spott an der Wall Street.

    Rund 50-mal hat Donald Trump grossmäulig Zölle verkündet und dann wieder aufs Eis gelegt. Ein ganzer Strauss von Begründungen hat diese Ankündigungen jeweils begleitet: Schutz vor der Droge Fentanyl, Schutz von Arbeitsplätzen, unfaire Handelspraktiken der anderen und Zolleinnahmen in so grosser Höhe, dass damit die horrenden Staatsschulden der USA getilgt werden können.

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