Während der UNO-Sicherheitsrat erstmals eine Resolution verabschieden konnte, die eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen zwischen der Hamas und Israel fordert, geht das Sterben im Gazastreifen weiter. Nicht nur wegen israelischer Angriffe, sondern auch wegen Hunger.
Die UN-Palästinenserhilfsorganisation UNRWA schlägt deshalb Alarm und fordert mehr Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft. Gleichzeitig stehen gegen die UNRWA schwerwiegende Vorwürfe im Raum. Jonathan Fowler, Sprecher der UNRWA, nimmt zu diesen und den neusten Entwicklungen im Gazastreifen Stellung.
Der UNO-Sicherheitsrat fordert erstmals eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen. Welche Bedeutung hat dieser Schritt in der aktuellen Lage?
Jonathan Fowler: Der Aufruf des UNO-Sicherheitsrats zu einem Waffenstillstand ist absolut notwendig. Wir müssen einfach hoffen, dass dieser vor Ort auch tatsächlich etwas bewirken wird.
Sie wirken nicht optimistisch.
Nun, es sind nicht die ersten Forderungen nach Waffenruhe, die international laut werden. Zu einer anhaltenden Waffenruhe ist es bisher trotzdem nicht gekommen. Deshalb: Mehr als hoffen kann ich nicht. Ich weiss nur, je länger dieser Krieg andauert, desto grösser wird der Bedarf nach humanitärer Hilfe seitens der palästinensischen Zivilbevölkerung.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu scheint an der Rafah-Offensive festzuhalten. Die Stadt im Süden des Gazastreifens soll die letzte Hochburg der Hamas sein. Netanjahu erhofft sich mit deren Angriff einen «finalen Sieg» gegen die Hamas. Was würde die Rafah-Offensive für die Menschen in Gaza bedeuten?
Die Mehrheit der Zivilbevölkerung – 1,2 Millionen Menschen – ist in den Süden des Gazastreifens geflohen. Wo sollen sie bei diesem Angriff hin? Nirgends im Gazastreifen ist es mehr sicher. Aber die Rafah-Offensive gefährdet nicht nur das Leben tausender Zivilisten. Sie gefährdet auch die Gesundheit der Menschen, deren Aufenthaltsort nicht direkt attackiert wird, weil sie humanitäre Hilfe zu leisten noch schwieriger macht. Rafah ist kein Ort für eine Attacke wie diese. Die Kosten wären enorm.
Aus Sicht der UNRWA ist Israels Angriff auf Rafah also klar unverhältnismässig?
Das humanitäre Völkerrecht legt den Grundsatz der Verhältnismässigkeit im Krieg fest. Seit dem 7. Oktober haben über 32'000 Menschen in Gaza ihr Leben verloren und fast 75'000 sind verletzt worden. Zusammengenommen sind das etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Die grosse Mehrheit der Opfer sind Zivilisten. Darunter überwiegend Kinder und Frauen. Daher ist die Frage der Verhältnismässigkeit von entscheidender Bedeutung.
Vergangene Woche warnten zahlreiche Hilfsorganisationen vor einer Hungersnot, die in Gaza kurz bevorsteht. Können Sie dieses Bild bestätigen?
Absolut. Sicher 30 Personen sind bereits an Hunger gestorben. Die meisten von ihnen waren Kinder. Diese Zahl ist gesichert, weil sich diese Menschen zum Zeitpunkt ihres Todes in medizinischer Obhut im Norden des Gazastreifens befanden. Die Dunkelziffer der Hungertoten in Gaza muss weit höher sein.
Das heisst, eine Hungersnot steht nicht bevor, sie ist bereits eingetreten.
Im Norden schon, ja. Der Norden ist seit dem Ausbruch des Kriegs die am stärksten isolierte Region des Gazastreifens. Hilfslieferungen kommen seit dem 7. Oktober kaum bis zu den Menschen. Auch unsere nicht. Diese Woche teilten die israelischen Behörden der UN ausserdem mit, dass die UNRWA keine Genehmigungen mehr für die Lieferung von Hilfsgütern in den nördlichen Gazastreifen erhalten wird. Die Folgen davon sind offensichtlich und unvermeidbar.
Hungertod.
Ja. Das ist eine menschengemachte Katastrophe.
Hat Israel eine Begründung abgegeben, Ihrer Organisation Hilfslieferungen in den Norden zu verweigern?
Nein. Aber die Tatsache, dass die israelischen Behörden nun offiziell mitgeteilt haben, dass sie uns keine Genehmigungen mehr ausstellen wird, um Hilfsgüter in den Norden zu liefern, spiegelt die tragische Realität wider, in der wir uns bereits befanden. Seit Januar konnten wir keine Hilfslieferungen mehr in den Norden senden. Obwohl wir immer wieder um Erlaubnis baten, lehnten die israelischen Behörden unsere Genehmigungsanträge wiederholt ab. Immer, ohne uns einen Grund zu nennen.
Dass man in Israel der UNRWA misstraut, scheint nicht komplett unbegründet. In den letzten Monaten häuften sich Vorwürfe gegen Ihre Organisation. Israel gab nicht nur an, dass sich Hamas-Terroristen in UNRWA-Gebäuden versteckt halten, die Regierung soll sogar Beweise haben, die belegen, dass zwölf UNRWA-Mitarbeitende aktiv am Terror am 7. Oktober beteiligt waren.
Als wir im Januar die Anschuldigungen gegen zwölf unserer Mitarbeitenden erhalten haben, reagierten wir sofort. Wir entliessen sie. Seither ist eine unabhängige Stelle der UN daran, die Vorwürfe abzuklären. Bisher haben sich die Anschuldigungen Israels noch nicht bestätigt. Wir haben noch keine Beweise erhalten.
Die meisten UNRWA-Mitarbeitenden kommen direkt aus der Zivilbevölkerung. Das muss doch automatisch gewisse Risiken bergen.
Es ist nicht die Aufgabe der UNRWA, die unterschiedlichen Narrative, die es in diesem Konflikt gibt, miteinander zu versöhnen. Aber wir verfügen über einen soliden Rahmen, der sicherstellt, dass alle UN-Mitarbeiter die Neutralität wahren. Wir nehmen Anschuldigungen immer ernst und gehen ihnen nach. Ausnahmslos. Von 2022 bis 2023 haben wir zum Beispiel 60 Untersuchungen wegen verschiedener Arten von angeblichen Neutralitätsverletzungen durchgeführt. Nicht nur im Gazastreifen, sondern in der gesamten Region.
Zu 100 Prozent sicherstellen, dass sich keine Hamas-Anhänger oder Sympathisanten unter ihren Mitarbeitenden befinden, kann die UNRWA nicht?
Alle unsere Mitarbeitenden sind verpflichtet, neutral zu sein. UN-Vorschriften verbieten es ihren Mitarbeitenden entsprechend etwa in einer militanten oder bewaffneten Gruppe aktiv zu sein. Bevor wir jemanden einstellen, nehmen wir darum immer Hintergrunduntersuchungen vor. Solche Überprüfungen finden aber auch statt, wenn jemand bereits bei uns angestellt ist. Denn unsere Mitarbeitenden sind auch dazu verpflichtet, ein neutrales Bild in der Öffentlichkeit zu wahren. Zum Beispiel, indem sie keine problematischen Beiträge in den sozialen Medien veröffentlichen. Wir können jedoch niemandem das Recht auf eine private Meinung absprechen.
Dass UNRWA-Mitarbeitende am 7. Oktober aktiv an Massakern beteiligt waren, sind allerdings schwerere Vorwürfe, als einfach eine private Meinung zu haben.
Es handelt sich dabei um Behauptungen, die nicht bewiesen sind. Auf jeden Fall hat die UNRWA die abscheulichen Angriffe vom 7. Oktober wiederholt auf das Schärfste verurteilt. Und zwar von Anfang an. Seit diese Anschuldigungen aufgetaucht sind, hören wir jedoch immer wieder Aussagen wie: «Die gesamte UNRWA ist von der Hamas infiltriert.» Aber das ist schlichtweg falsch. Es geht hier um Anschuldigungen gegen 12 von insgesamt 30'000 UNRWA-Mitarbeitenden. Das ist nicht die «gesamte UNRWA». Das sind 0,04 Prozent.
Es klingt, als zweifelten Sie daran, dass sich die Vorwürfe Israels bewahrheiten werden.
Ich kann nur so viel sagen: Es ist eine Tatsache, dass es eine ganze Reihe von Versuchen gegeben hat, die UNRWA aufzulösen. Und seit dem 7. Oktober haben diese zugenommen. Es gibt also Leute, die meinen, dass wir ganz von der Bildfläche verschwinden sollten. Aber die UNRWA gibt es nicht schon seit 75 Jahren, weil wir gerne hier sind. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat unser Hilfswerk 1949 ins Leben gerufen und wiederholt beschlossen, unser Mandat für humanitäre Hilfe fortzusetzen, bis eine gerechte und dauerhafte Lösung für den Nahostkonflikt gefunden ist. Der einzige Grund, warum wir nach so vielen Jahrzehnten immer noch hier sind, ist, dass es der internationalen Gemeinschaft bisher nicht gelungen ist, eine dauerhafte und gerechte Lösung für diesen Konflikt zu finden. Ein Konflikt, der für die am längsten andauernde Flüchtlingskrise der modernen Geschichte verantwortlich ist. Es wäre auch mein Traum, dass es die UNRWA bald nicht mehr brauchen würde.
Die Vorwürfe hatten zur Folge, dass viele Länder ihre finanzielle Unterstützung für die UNRWA zurückzogen. Auch die Schweiz hält derzeit 20 Millionen Franken zurück. Wird dies die UNRWA zerstören?
Von den 16 Ländern, die ihre Finanzhilfe für die UNRWA ausgesetzt haben, sind bisher vier zurückgekehrt: Kanada, Australien, Island und Schweden. Auch Deutschland hat uns wieder Mittel für unsere Arbeit ausserhalb des Gazastreifens zur Verfügung gestellt. Andere Länder haben ihre Fördergelder dafür aufgestockt: Saudi-Arabien, Irland und der Irak zum Beispiel. Aber es stimmt, dass dies nicht genug ist. Um genau zu sein: Uns fehlen etwa 363 Millionen Dollar für das Jahr 2024. Das sind rund 43 Prozent. Unser Kerngeschäft können wir voraussichtlich darum nur noch bis Ende Mai weiterführen.
Und was käme danach?
Das ist die grosse Frage. Wir wissen es nicht. Ich will nicht spekulieren, aber das humanitäre Völkerrecht verlangt von den Besatzungsmächten, dass sie für das Wohlergehen der Menschen unter ihrer Besatzung sorgen. Nach internationalem Recht gelten das Westjordanland und der Gazastreifen als besetzt. Wenn also die UNRWA nicht mehr existiert, fällt die Verantwortung für die humanitäre Hilfe jemand anderem zu. Möglicherweise Israel.
Wie andere schon schrieben: Dass ein Kommandobunker direkt unter dem UNRWA-Hauptsitz eingerichtet war, ohne dass dies jemandem aufgefallen ist, kann man nicht glauben.