Es ist dunkel auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Doch die Via Roma, die Hauptstrasse der Insel, ist von lila-weissen Lichterbögen erhellt. Auf dem Bürgersteig sitzt Michele, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, auf einem roten Plastikstuhl und schüttelt den Kopf: «Es sind einfach zu viele Menschen für die Insel», sagt er, während er eine kleine Gruppe von Migranten in staubigen Flipflops beobachtet, die sich unter die Touristen in Abendgarderobe mischen.
Wie alle Einwohner der Insel ist auch Michele an die Migranten gewöhnt. Schliesslich kommen sie hier seit Jahrzehnten an, weil Lampedusa Italiens Aussenposten im Mittelmeer ist: Keine 200 Kilometer liegt es vor der tunesischen Küste und ist daher für viele Migranten, die nach Europa wollen, das erste Ziel. Doch was sich in diesen Tagen abspielt, ist selbst für Lampedusa aussergewöhnlich: In weniger als 48 Stunden haben über 7000 Migranten die Insel erreicht, so viele wie nie zuvor in einem so kurzen Zeitraum.
Insgesamt kamen seit Wochenanfang mehr als 9000 Menschen an. Damit befanden sich zwischendurch mehr Migranten auf der Insel als die 6300 Einwohner, die sie zählt. Denn die italienischen Behörden schaffen es nicht, die Menschen so schnell von der Insel in die grossen Migrationszentren auf dem Festland zu bringen, wie sie ankommen. Der Stadtrat hat daher am Mittwoch den Notstand ausgerufen, um auf die Ausnahmesituation aufmerksam zu machen.
Auch das Erstaufnahmezentrum ist vollends überfordert: Der sogenannte Hotspot ist nur für 400 Personen ausgelegt, daher passen die vielen Menschen nicht mal auf sein Gelände. Immer wieder brechen zwischen den zusammengepferchten Migranten unter der heissen Sonne Streitigkeiten aus. Oft geht es darum, wer in den nächsten Bus darf, der die mitnimmt, die von der Insel gebracht werden. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes bemühen sich, die Streits zu schlichten. Doch die Lage ist unübersichtlich.
Diejenigen Migranten, die gerade erst angekommen sind und noch auf ihren Transfer warten, verteilen sich indes über die ganze Insel. Sie sind auf der Suche nach etwas Schatten, einem Stück Brot oder einer Scheibe Pizza. Viele von ihnen kommen dabei auch zur Via Roma, wo Michele ein kleines Lebensmittelgeschäft betreibt.
Er berichtet, dass er am Vorabend einigen von ihnen Essen geschenkt habe, doch dann seien immer mehr gekommen. Schliesslich habe er seinen Laden absperren müssen. «Wir geben ihnen, was wir können. Aber die Situation ist einfach zu gross, als dass wir sie alleine bewältigen könnten», sagt er. «Die Regierung hat uns alleingelassen.»
Selten wird auf einen so kurzen Zeitraum komprimiert klar, wie sehr die EU-Migrationspolitik gescheitert ist: Denn es ist nur rund eineinhalb Monate her, dass die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Tunis gemeinsam mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Unterzeichnung eines Abkommens mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied feierte. Die EU versprach Tunesien darin Millionen, um das Land vor dem drohenden Wirtschaftskollaps zu bewahren. Im Gegenzug sollte es dafür sorgen, dass weniger Migranten von seinen Küsten in Richtung Europa aufbrechen.
Doch das genaue Gegenteil passierte: Es sind nicht weniger Migranten von Tunesiens Küsten aufgebrochen, sondern mehr. Insgesamt erreichten in diesem Jahr bereits mehr als 127'000 Migranten und Flüchtlinge übers Mittelmeer Italien und die grosse Mehrheit von ihnen legte in Tunesien ab. Auch der Grossteil der Menschen, die dieser Tage nach Lampedusa gekommen sind, ist in der tunesischen Hafenstadt Sfax losgefahren.
Fragt man die Lampedusani nach ihrer Meinung zur Politik, zucken viele nur mit den Schultern. Politik ist hier ein abstraktes Konzept, das nichts mit ihrer Realität zu tun hat. Man ist daran gewöhnt, Ankündigungen zu hören, die keine Folgen haben. «Hier auf der Insel haben wir doch nicht mal ein Spital. Wer krank wird, muss nach Palermo fliegen, um sich behandeln zu lassen», sagt Giovanna Bolino, um zu beschreiben, wie wenig die Regierung sich für Lampedusa interessiert. Sie verkauft in ihrem Geschäft «Un mare d'Arte» kleine Kunstwerke, die ihr Mann aus dem Holz von Migrantenschiffen fertigt.
«Wer kein Geld gespart hat, hat keine Chance darauf, behandelt zu werden», sagt sie. Und nicht nur das: Auch auf Lampedusa hat die Inflation für steigende Preise gesorgt, doch Arbeit ist weiterhin knapp. Auch deshalb leiden die Einwohner so sehr unter den vielen Migranten, denn sie schaden ihrer wichtigsten Einnahmequelle: dem Tourismus.
Gleichzeitig zeigen sie Verständnis für das Leid der Migranten: «Hier spielt sich eine humanitäre Krise ab», sagt Bolino. «Das ist traurig für uns alle.» Ihre Anteilnahme zeigen sie, indem sie ihnen geben, was sie haben: In einem Restaurant steht am Eingang Wasser und Brot bereit, um es den Migranten zu geben.
In der Bäckerei legt die Verkäuferin zum Brötchen noch ein dickes Stück Focaccia dazu, wenn sie sieht, dass eine Passantin für einen Migranten einkauft. Andere Einwohner laden die Fremden auf eine Portion Pasta zu sich nach Hause ein und an der Kirche hat eine Gruppe Freiwilliger eine Essensausgabe organisiert. Doch selbst mit vereinten Kräften kommen sie nicht gegen den allgegenwärtigen Hunger an.
«Es gibt zu wenig Essen», sagt auch Modou Congira, 20 Jahre alt, aus Gambia, einer der Migranten, die hinter der Kirche auf dem Bürgersteig sitzen, und deutet in Richtung des Hotspots. Er berichtet, dass er seine Heimat vor eineinhalb Jahren verlassen habe, um in Europa eine bessere Zukunft zu finden. «In Gambia reicht das Geld nur, um zu essen. Man kann nicht mehr verdienen.» Darum sei er aufgebrochen und im tunesischen Sfax in eines der Metallboote gestiegen. Zwei Nächte und einen Tag habe die Überfahrt gedauert. Wohin er möchte, weiss Congira nicht. «Hauptsache, Arbeit.»
Die Mehrheit der Migranten auf Lampedusa sind junge Männer, teils noch deutlich jünger als Congira. Sie kommen aus Guinea, von der Elfenbeinküste, aus Mali, Ghana und dem Sudan. Wer von ihnen Französisch spricht, möchte nach Frankreich, manche in die Schweiz. Doch die meisten von ihnen wollen nur eins: weg von dort, wo sie herkommen. Esam Boush aus dem Sudan etwa antwortet auf die Frage, warum er seine Heimat verlassen hat, mit einem Wort: «Krieg».
Für die Menschen auf Lampedusa ist all das weit weg, hier wird nur von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag gedacht. Am Donnerstagabend haben sie einen Trauerzug durch das Zentrum organisiert, um den Migranten zu gedenken, die die gefährliche Überfahrt nicht überlebt haben - allen voran dem fünf Monate alten Baby, das am Dienstag vor Lampedusas Küste ertrunken ist.
Die Lage im Hotspot bleibt indes weiter angespannt: Zwar konnten die italienischen Behörden bis Freitagmittag rund 5000 der Migranten auf Schiffen und mit Flügen aufs Festland bringen. Doch mit rund 4000 Migranten sind Hotspot und Insel weiterhin überlastet. Und die nächsten Boote legen bereits an. (aargauerzeitung.ch)