Die Nato hat einen neuen Chef: Der niederländische Premier Mark Rutte. Er wird ab Oktober neuer Generalsekretär der Verteidigungsallianz werden und vom scheidenden Norweger Jens Stoltenberg übernehmen. Dieser hatte das Amt während zehn Jahren ausgeübt und die Nato durch einige ihrer grössten Krisen navigiert.
Nun ist der 57-jährige Rutte an der Reihe. Viel Zeit zum Einarbeiten wird ihm nicht bleiben. Als Generalsekretär steht Rutte vor fünf grossen Herausforderungen:
Bereits einen Monat nach Amtsantritt könnte in den USA Donald Trump zurück ins Präsidentenamt gewählt werden. Dieser ist bekanntlich alles andere als ein Nato-Fan und selbst wenn er die grösste Militärmacht der Welt nicht aus dem Bündnis abziehen sollte, dürfte es für die Alliierten ungemütlich werden. Ruttes Hauptaufgabe wird es sein, Trump einigermassen zu besänftigen und ihn davon abzubringen, die Ukraine-Hilfen gänzlich einzustellen.
In den Nato-Hauptstädten findet man, dass Rutte dafür der Richtige ist. Mit seiner umgänglichen Art findet er leicht den Zugang zu jedermann, inklusive Trump. «I like this Guy» («Ich mag diesen Typen»), hat dieser einst über Rutte gesagt. Seine Qualitäten als «Trump-Flüsterer» dürften mit den Ausschlag gegeben haben, weshalb er nun den Job am Nato-Steuer erhält.
Die andauernde Unterstützung der Ukraine ist nicht nur in den USA gefährdet. Nach zwei Jahren Krieg gilt es überall gegen Ermüdungserscheinungen anzukämpfen. Dabei helfen könnte ihm, dass er als niederländischer Regierungschef mit gutem Beispiel vorangegangen ist.
Nicht nur haben die Niederlande in Zusammenarbeit mit Partnern der Ukraine bereits ein Patriot Luftabwehrsystem geliefert und sind gerade daran, ein zweites zusammenzustellen. Auch sind es die Niederlande, die als erstes Land der Ukraine diesen Sommer F-16 Kampfjets übergeben werden. Dem von Rutte eingefädelten Kauf von rund 96 Leopard-1-Panzern der Schweizer Ruag in Italien machte hingegen der Bundesrat ein Strich durch die Rechnung.
Als Nato-Chef muss Rutte vor allem die europäischen Alliierten unermüdlich dazu drängen, ihre Verpflichtungen zu den Verteidigungsausgaben einzuhalten. Das wird auch zentral sein, um einen möglichen US-Präsidenten Trump bei der Stange zu halten. In den vergangenen Jahren hat sich hier zwar einiges getan, aber auch 2024 werden erst 23 der insgesamt 32 Mitglieder das Ziel erreichen.
Für Rutte unangenehm: Während seiner 14 Jahre als Premierminister verfehlten die Niederlande das zwei-Prozent-Ziel jeweils konsequent. Erst dieses Jahr, rechtzeitig zu seinem Amtsantritt, dürften die Niederlande die Schwelle mit prognostizierten 2,05 Prozent knapp reissen.
Neben der Pflege der transatlantischen Beziehung muss Rutte in der Rolle des Gruppentherapeut auch im Rest der zunehmend heterogenen Allianz für Ausgleich sorgen. Obwohl es in letzter Zeit einigermassen ruhig geblieben ist, gibt es mit der Türkei ein schwieriges Mitglied.
Aber auch Ungarn macht zunehmend Anstalten, seinen politischen Konfrontationskurs in der Nato fortzusetzen. Zudem könnte in Frankreich das Nato-skeptische «Rassemblement National» von Marine Le Pen die Wahlen gewinnen. Immerhin: Als langjähriger Premier in einem Land mit rekordhoher politischer Zersplitterung hat Rutte viel Erfahrung, wenn es darum geht, schwierige Koalitionen zusammenzuhalten.
In Europa gehört Rutte zu den entschiedensten Putin-Gegner und scheut sich nicht, klare Kante zu zeigen. Das hat auch mit dem niederländischen Trauma nach dem Abschuss der MH14-Passagiermaschine im Jahr 2014 durch Putin-treue Truppen über der Ostukraine zu tun, bei dem viele Niederländerinnen und Niederländer, darunter 80 Kinder, getötet wurden. Als Nato-Generalsekretär muss Rutte die Abschreckung an der Ostflanke vorantreiben und dafür vor allem die West-Europäer überzeugen, noch mehr Gerät und Truppen dorthin zu verlegen. (aargauerzeitung.ch/lyn)