«Bereit?», fragt Tilde, schliesst die Tür und legt den Schalter um. Plötzlich flackert das Deckenlicht, Helikopterdonnern ist zu hören, dann Salven aus einem Maschinengewehr. Der Luftalarm dröhnt ohrenbetäubend. Dazwischen Schreie, Explosionen lassen den Boden erzittern. Der Geruch von Verbranntem füllt den Raum. Schweden wird attackiert.
Wir sind in Lund, einer Universitätsstadt ganz im Südwesten Schwedens. Genauer: in einem Container auf dem Uni-Parkplatz. Hier simuliert das schwedische Militär den Ernstfall - einen Luftangriff aufs eigene Land. «Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es auch in Schweden Krieg geben kann», sagt die junge Soldatin Tilde, die Besucher in den Container und wieder hinaus führt.
Um die Simulation glaubhaft zu machen, hat die Armee den Container wie ein typisches Studentenzimmer eingerichtet und anschliessend mit einer echten Granate in die Luft gejagt.
Das Ergebnis: Von der zerfetzten Matratze sind nur noch die Metallfedern und ein Stück Schaumstoff übrig. Zerfledderte Bücher liegen unter dem Bett, angekokelte Seiten überall im Raum verteilt. Die Wände sind schwarz, der Teppichboden verbrannt. Mit dem schauderhaften Anblick sollen nun die friedliebenden Schweden wachgerüttelt werden.
Gemeinsam mit drei weiteren Frauen liess an diesem Morgen die Pensionärin Annika als Erste den simulierten Angriff im zerbombten Container über sich ergehen. Als sie aus dem Container tritt, ist ihr der Schreck noch ins Gesicht geschrieben. «Es war beängstigend», sagt die 72-Jährige. «Ich mache mir Sorgen um die Zukunft, darum wollte ich mir das ansehen. Es ist heute nicht mehr so friedlich auf der Welt, an vielen Ort herrscht Krieg. Wir müssen für alles bereit sein.»
Schweden ist eines der friedliebendsten Länder in Europa. Seit 200 Jahren waren die Skandinavier an keinem Krieg mehr beteiligt. Lange Zeit war man so neutral wie die Schweiz. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sahen die Schweden keine grosse Notwendigkeit mehr, über Krieg nachzudenken.
Mit Russlands Angriff auf die Ukraine änderte sich das schlagartig. Stockholm drängte in der Folge auf die Aufnahme in die Nato, die inzwischen kurz vor dem Vollzug steht. Und spätestens seit der dramatischen Warnung von Schwedens Minister für Zivilschutz Carl-Oskar Bohlin vor wenigen Wochen sitzt auch bei der Bevölkerung der Schock tief: «Es kann auch Krieg bei uns in Schweden geben», sagte Bohlin und rief seine Landsleute auf, Vorräte anzulegen und sich auf den möglichen Ernstfall vorzubereiten.
Peter Zander geht mit gutem Beispiel voran. Er arbeitet für das schwedische Militärmuseum, das ebenfalls an der Ausstellung mit dem Container beteiligt ist. «Wir haben zwei Frischwassertanks für insgesamt 600 Liter gekauft, einen Gaskocher und einen Vorrat an haltbaren Lebensmitteln wie Fertignudeln und Dosensuppen», sagt er. Das reiche für etwa drei Wochen. Zudem könne er in seinem Haus mit Gas und mit Holz heizen. «Ich bin schon ein bisschen ein Prepper», sagt er.
Begonnen habe er damit schon vor fünf Jahren. Seither sei immer klarer geworden, dass die wirkliche Gefahr direkt von Russland ausgehe. «Wir Schweden haben uns in der Vergangenheit etwas zu sehr auf Autoritäten wie den Staat verlassen, um uns zu helfen.» Inzwischen hätten die Schweden einsehen müssen, dass «wir uns und unseren Nachbarn, Freunden und Familien selber helfen müssen».
Schwedens Verteidigung ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt: Im Kriegsfall müssten sämtliche Einwohner zwischen 16 und 70 Jahren, Männer, Frauen, Schweden und Nicht-Schweden, im Land bleiben und mit anpacken. Nicht zwingend an der Waffe, aber im Dienst für die Gesellschaft.
Peter Zanders Museum hat eigens einen Test entwickelt, mit dem Interessierte herausfinden können, für welche Tätigkeit sie am besten geeignet wären. Der Reporter von CH Media würde demnach als Lastwagenfahrer oder zum Dienst bei der Hundestaffel eingeteilt.
Gegen wen sie sich verteidigen müssten, wenn der Ernstfall einmal eintritt, ist den meisten Schweden klar: Russland. In einem solchen Szenario spielt die Insel Gotland eine entscheidende Rolle. Sie liegt mitten in der Ostsee, von hier sind es keine 300 Kilometer bis Kaliningrad – eine russische Exklave, auf der vermutlich Atomraketen stationiert sind.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski warnte im vergangenen Jahr, dass Russland noch in diesem Jahrzehnt nach der schwedischen Insel greifen könnte: «Die Besetzung von Gotland bedeutet die Kontrolle über die gesamte Ostseeregion», sagte Selenski, nachdem russische Staatspropagandisten die Einnahme der Insel forderten.
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs ist Gotland damit zur wichtigsten Insel Europas geworden. Deshalb wird die Truppenstärke hier massiv erhöht. Nachdem 2005 nahezu das gesamte Militär von der Insel abgezogen worden war, befindet sich das Gotland-Regiment nun mitten im Wiederaufbau - seit Russlands Einmarsch in die Ukraine im Eilverfahren. 2027 sollen dann bis zu 4000 Soldaten die Insel verteidigen können.
Wie die schwedische Armee hier den Abwehrkampf trainiert, dürfen wir hautnah erleben.
Wir sind auf dem Trainingsgelände des Militärs südlich des Hauptortes Visby. «Gleich geht's los, setz deine Ohrenschützer auf», ruft ein stämmiger Mann im Tarnanzug und zeigt auf ein Waldstück ein paar hundert Meter entfernt. Ein mächtiger Leopard-2-Panzer rollt in Stellung. Die Kanone spuckt einen Feuerball in die eiskalte Luft, der Donnerschlag ein paar Augenblicke später dringt durch Mark und Bein.
Diese Woche ist eine besondere für die Soldatinnen und Soldaten des Gotland-Regiments: Es wird scharf geschossen. «Sniper week», sagt Agnes, «Scharfschützenwoche». Die 20-Jährige ist Kommandantin eines der 64 Tonnen schweren Stahlmonster.
Der Wind peitscht so fest über das Übungsgelände, dass sich 3 Grad plus wie eine Winternacht in Lappland anfühlen. Der Presseoffizier macht Liegestütze, um sich warmzuhalten. Agnes macht's nichts aus. «Manchmal sind wir bei Übungen mehrere Tage draussen, dann schlafen wir im Panzer», sagt sie.
Vier Soldaten braucht es, um einen Leopard 2 zu bedienen. Reicht der Platz zum Liegen? «Mehr oder weniger», sagt Agnes. Als Kommandantin stehe ihr natürlich der bequemste Platz zu. Dann lacht sie und sagt: «Aber ich bin auch die Kleinste in meiner Crew, deshalb gebe ich ihn meistens ab.»
Die heutige Übung dauert nur ein paar Stunden. Geraderaus sagt es zwar niemand, aber jedem ist klar, worauf man sich hier vorbereitet: die russische Armee.
Von den vier Leoparden, die bei der heutigen Übung im Einsatz sind, werden zwei von Frauen kommandiert. Geschossen wird auf Ziele in 1,3 Kilometer Entfernung. Ein Witz für den Leopard 2 und seine Besatzung: «Mit unserer Kanone treffen wir auf eine Distanz von 4 Kilometern ein Fenster», sagt Agnes stolz.
Agnes kam als Wehrpflichtige zur Armee; 2017 führte Schweden den Militärdienst wieder ein - für Männer und Frauen. Hätte sie geglaubt, dass die Bedrohung aus Russland einmal so real wird wie heute? Mit einem Krieg in den nächsten paar Jahren rechne zwar niemand, sagt Agnes, auch sie nicht. Aber: «Mir war schon lange bewusst, dass die Bedrohung da ist.» In den letzten Monaten sei sie noch realer geworden. «Es ist wichtig, dass wir vorbereitet sind.»
Und wie sehen das die Bewohner Gotlands? Rund 60'000 Menschen leben hier - im Sommer, wenn die Hochsaison auf der beliebten Ferieninsel läuft, sind fünfmal so viele hier.
Der kopfsteingepflasterte, malerische Ort Visby ist umrahmt von einer gut erhaltenen, kilometerlangen Stadtmauer. Der Ukraine-Krieg ist durchaus präsent. Hier und da flattern die Farben Blau und Gelb untereinander statt in Form des skandinavischen Kreuzes an den Flaggenmasten. In einer Kunstgalerie hat jemand einen derben Gruss an Russlands Präsidenten ins pink beleuchtete Fenster geklebt: «Fuck Putin».
Von Angst vor einem russischen Angriff ist jedoch wenig zu spüren. «Wir fühlen uns sicher», sagt Simon, während er in der für einen Mittwochabend im Februar überraschend lebendigen Bar Bageriet ein Lager zapft.
Zu Beginn des Ukraine-Kriegs sei das noch anders gewesen. Damals musste man befürchten, dass es nach der Ukraine ein Land nach dem anderen treffen würde - «und Gotland wäre dann wohl eines der ersten Gebiete für einen russischen Angriff gewesen», sagt Simon, der auf der Insel gross geworden ist. «Aber heute habe ich diese Befürchtungen nicht mehr.» Möglich sei durchaus, dass die Armee die Warnungen herausgebe, um an mehr Geld zu kommen.
Einfach abtun sollte man die Drohungen aber dennoch nicht, meint Simon, sondern respektvoll und mit Ernsthaftigkeit behandeln. Denn letztlich «wissen wir Normalbürger vielleicht auch nicht alles, was vor sich geht».
Zuletzt warnte Schwedens Nachbar Dänemark, dass Russland «sehr wahrscheinlich» militärische Gewalt einsetzen werde, um «Nato-Staaten herauszufordern».
Auch die Regierung in Stockholm nimmt die Situation ernst. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen: Nachdem die Ausgaben fürs Militär während Jahrzehnten kontinuierlich heruntergeschraubt worden waren, pumpt Schweden die Armee jetzt im Eilverfahren wieder auf.
Die Ausgaben steigen in diesem Jahr um 30 Prozent; mit umgerechnet 9,8 Milliarden Franken für Verteidigung erreicht Schweden schon vor der offiziellen Mitgliedschaft das Nato-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Die Schweiz gibt derzeit 0,8 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Armee aus und tut sich schwer, die Ausgaben auf 1 Prozent zu erhöhen.
Freilich bleibt ein russischer Angriff auf Schweden vorerst ein Szenario. Den Soldaten des Gotland-Regiments ist allerdings bewusst, dass die Lage sehr schnell sehr ernst werden kann. Darum sei es gut, «dass das Thema jetzt die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient», sagt Panzerkommandantin Agnes.
Szenario hin oder her: Für die 20-Jährige steht ausser Frage, was sie tun würde, wenn ein russischer Soldat in feindlicher Absicht einen Fuss auf die Insel setzt: «Dann werde ich sie verteidigen», sagt sie. «Und ich werde es gerne tun.»
Richtungsweisend bleibt die kompromisslose Unterstützung der Ukraine.
Die Herausforderung für unsere Generation ist, dass unsere freiheitlichen Demokratie ihre Verteidigungsfähigkeit erlangt bzw. behält, ohne dass die Gesellschaft wieder dem Militarismus und Nationalismus verfällt.
Die Wehrpflicht, wie sie Schweden und die Schweiz kennt, ist der beste Garant dafür.
Was nicht mehr geht, ist die Absichten Russlands zu beschönigen. Seit dem Angriff auf die Ukraine ist klar, dass Verlautbarungen und Beteuerungen aus dem Kreml nichts wert sind.