Mittlerweile ist es fast drei Monate her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Im Osten Europas tobt seither Krieg – und dieser setzt vielen Menschen zu. Nicht nur Leuten in der Ukraine, sondern auch Russinnen und Russen.
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Auch in der russischen Armee sind nicht alle zufrieden mit der Situation. So etwa ein junger Offizier. Dieser wollte nicht mehr am Krieg teilnehmen und reichte so bei seinem Kommandanten die Demission ein. Letzte Woche gab er dem US-amerikanischen TV-Sender CNN ein Interview – und ermöglichte so einen seltenen Einblick in die russische Seite des Krieges. «Wir waren schmutzig und müde. Leute um uns herum starben. Ich wollte mich nicht so fühlen, als sei ich Teil davon, doch ich war es», sagt er. Sein Name wurde, da er sich vor Konsequenzen sorgt, im Bericht nicht publiziert.
Am 22. Februar, zwei Tage vor der Invasion in die Ukraine, war der Soldat mit seiner Truppe noch in Krasnodar stationiert. An diesem Tag tat sich in der Armee einiges: Die Soldaten seien aufgefordert worden, ihre Handys abzugeben, berichtet der Offizier. In der Folge habe man damit begonnen, weisse Streifen auf die Panzer zu bemalen – ehe dann befohlen wurde, diese wieder wegzuwaschen. «Der Befehl hat sich geändert, zeichnet den Buchstaben ‹Z›, wie in ‹Zorro›», habe man ihnen damals gesagt.
Am nächsten Tag wurden die Soldaten umstationiert, von Krasnodar ging es auf die Krim. «Ich dachte ehrlich gesagt nicht, dass wir in die Ukraine gehen werden. Ich dachte nicht, dass es wirklich so weit kommen wird», so der Offizier. Kurz darauf gab Wladimir Putin den Beginn der sogenannten Spezialoperation bekannt. Davon habe sein Teil der Armee zu Beginn gar nichts mitbekommen, so der Soldat – schliesslich habe man keine Handys mehr gehabt. «Danach widersetzten sich einige sofort. Sie haben eine Demission eingereicht und sind gegangen. Ich weiss nicht, was mit ihnen passiert ist.» Er selbst sei geblieben, so der Offizier – obwohl er nicht sagen könne, warum genau. «Und einen Tag später marschierten wir ein.»
Der Offizier berichtet, dass man keine Begründung bekommen habe, warum man in die Ukraine einmarschieren soll. Die angebliche «Entnazifizierung der Ukraine», welche Putin als Grund angab, habe ihn nie erreicht. «Wir wurden nie mit einer Rhetorik von ‹ukrainischen Nazis› konfrontiert», sagt er. «Viele wussten nicht, was da genau los ist und was wir hier tun.» Er habe gehofft, dass man eine diplomatische Lösung finden würde, schliesslich habe er sich selbst auch schuldig gefühlt. Gleichzeitig fügte er aber an, er habe relativ wenige Kenntnisse über das politische Geschehen.
Der ehemalige Offizier berichtet auch von Erlebnissen in der Ukraine, die bei ihm Eindruck hinterlassen hätten. So schilderte er etwa die Geschehnisse aus einem der ersten Tage in der Ukraine, als er in einem Laster durch die Ukraine in Richtung Cherson fuhr. «Ich hielt mein Gewehr, hatte eine Pistole und zwei Granaten bei mir», führt er aus. Schliesslich habe man ein Dorf erreicht, wo sich ihnen ein Mann entgegengestellt habe. «Er kletterte fast ins Abteil, wo wir waren», so der Russe. «Seine Augen waren voller Tränen. Das hat einen starken Eindruck bei mir hinterlassen.»
Auch sonst hinterliessen Konfrontationen mit Einheimischen besonders Spuren. «Einige von ihnen hatten Waffen unter ihren Kleidern versteckt und feuerten auf uns, als wir näher kamen», berichtet er. Er habe manchmal sein Gesicht versteckt, da er sich derart dafür geschämt habe, in die Ukraine einzudringen.
Da er immer wieder in Gefechte involviert war, habe er praktisch gar nie richtig nachdenken können, erklärt er. «Ich war wie geschockt. Ich ging ins Bett und dachte: ‹Heute ist der 1. März. Morgen wache ich auf, dann ist der 2. März. Das Ziel ist, einen weiteren Tag zu überleben.›» Während diesen Tagen sei niemand von seiner Truppe gestorben, sagt er. «Das war ein Wunder. Die Bomben schlugen immer wieder sehr nahe bei uns ein.»
Nach einigen Wochen im Krieg wurde dem Offizier immer mehr bewusst, was genau vor sich gehe. «Wir hatten ein Radio und konnten so Nachrichten hören», berichtet er. So habe er nach und nach die Folgen des Kriegs verstanden. «Ich hörte, dass die russische Wirtschaft kollabiert. Deshalb fühlte ich mich schuldig», sagt er. «Aber noch mehr schuldig fühlte ich mich, weil wir in der Ukraine waren.»
Aus diesem Grund habe er all seinen Mut zusammengenommen und seine Demission eingereicht. Diese sei zuerst abgelehnt worden, sagt er. «Mein Vorgesetzter sagte mir, das sei ein Verbrechen. Es sei Verrat. Aber ich habe darauf beharrt.» So habe er das Papier am Ende doch unterschreiben können.
(dab)
Einige Überlegungen dazu:
Da es sich nach offizieller Sprachregelung nicht um einen Krieg zur Verteidigung des Vaterlandes handelt, sondern um eine "Militäroperation", kann der Verratsforwurf auch weniger gut angebracht werden; allerdings nicht in einer direkten Gefechtssituation. Wer dabei wegläuft, muss damit rechnen, von den eigenen Leuten erschossen zu werden; das gilt dann als Verrat an den eigenen Kameraden.