Was auf einer Fassade steht und was dahinter wirklich stattfindet, muss nicht immer übereinstimmen. Dieses Phänomen lässt sich an der Keelung Road 333 in Taiwans Hauptstadt Taipeh beobachten. Im 142 Meter hohen Geschäftshaus ist das «Trade Office of Swiss Industries» (Tosi) untergebracht. Formell ist das «Handelsbüro der Schweizer Industrie» eine Institution nach privatem Recht.
Bloss: Hinter der Fassade eines privaten Handelsbüros steckt die inoffizielle Vertretung der Schweiz auf Taiwan. Tosi-Direktor Reto Renggli hat seine Karriere als Diplomat im Aussendepartement EDA gemacht. Vor seinem Stellenantritt 2019 war er Generalkonsul in Hongkong. Seine Mailadresse läuft über die Server des EDA. Vor kurzem wurde im Tosi eine Sachbearbeiter-Stelle ausgeschrieben. Das Stelleninserat war auf der EDA-Website zu finden.
Der Grund für die täuschende Fassade: Die Insel Taiwan wird von der Volksrepublik China als abtrünnige Provinz betrachtet. China beharrt auf der sogenannten Ein-China-Politik: Die Regierung in Peking sieht sich als einzige legitime Vertretung des chinesischen Volks. Staaten, die mit China offizielle Beziehungen unterhalten, dürfen nicht gleichzeitig Taiwan diplomatisch anerkennen.
Die Schweiz ist Teil jener 181 Staaten, die nur die kommunistische Volksrepublik China offiziell anerkennen. Sie tat dies bereits im Januar 1950 als eines der ersten westlichen Länder. Dennoch sind die Verbindungen zu Taiwan eng - insbesondere wirtschaftlich. Um diese zu pflegen, unterhält die Schweiz in Taiwans Hauptstadt Taipeh eine Vertretung, wie es 57 andere Staaten ebenfalls tun. Das Handelsbüro befindet sich in bester Gesellschaft: Im selben Gebäude sind auch die Vertretungen der EU, Italiens oder Indiens untergebracht.
Laut Website hat das «Trade Office of Swiss Industries» die Aufgabe, den Austausch zwischen der Schweiz und Taiwan in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Bildung, Wissenschaft und Tourismus zu erleichtern und zu fördern. Details über den exakten Auftrag bleiben im Dunkeln. Der entsprechende Vertrag sei «nicht öffentlich zugänglich», teilt das Aussendepartement EDA mit. Es bestätigt lediglich, dass das Handelsbüro aufgrund eines Mandats der Eidgenossenschaft «wirtschaftliche, kommerzielle und konsularische Aufgaben» erfülle.
Doch dass es sich beim Tosi de facto um die Botschaft der Eidgenossenschaft in Taipeh handelt, ist nicht von der Hand zu weisen. Beispielhaft lässt sich das an einem Bundesratsbeschluss vom Dezember 2011 aufzeigen. Damals anerkannte dieser formell ein privates Doppelbesteuerungsabkommen - ein historisch wohl einmaliger Vorgang.
Ausgehandelt hatten dieses das Tosi und dessen taiwanesisches Gegenstück in der Schweiz, die «Taipei Cultural and Economic Delegation in Switzerland». Das Abkommen erleichtert den wirtschaftlichen Austausch zwischen der Schweiz und Taiwan. Dieser ist beachtlich: Das Handelsvolumen im vergangenen Jahr betrug 3.7 Milliarden Franken. Das Land ist der immerhin 26. wichtigste Handelspartner der Schweiz und insbesondere als Exporteur von hochspezialisierten Chips unverzichtbar.
Mit den chinesischen Drohgebärden in Richtung Taiwan nach dem Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi ist Taiwan diese Woche auch in der Schweiz auf die politische Agenda gerutscht. Auf Anfrage von CH Media zeigt sich das Aussendepartement «besorgt über die Zunahme der Spannungen in der Region der Taiwanstrasse». Die Schweiz setze sich für eine regelbasierte internationale Ordnung ein. «Sie ruft alle Parteien auf, von Massnahmen abzusehen, die zu einer Eskalation führen können, die Kommunikationswege offen zu halten und ihre Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu lösen», schreibt das EDA.
«Der Bundesrat sollte seine Spielräume aktiver nutzen, um die Beziehungen mit Taiwan zu stärken, anstatt aus vorauseilendem Gehorsam gegenüber China zu kuschen», sagt der Grünen-Nationalrat Nicolas Walder (GE). Einen Bruch der Schweiz mit der Ein-China-Politik im Alleingang hingegen verlangt niemand.
Doch im Parlament wächst der Unmut über die Zurückhaltung des Bundesrats in der Taiwan-Frage - nicht erst seit dieser Woche. Im September 2021 beauftrage der Nationalrat den Bundesrat dazu, in einem Bericht darzulegen, wie die Beziehungen zu Taiwan verbessert werden könnten. Immer wieder taucht auch die Forderung auf, der Bundesrat soll mit Taiwan ein Freihandelsabkommens abschliessen.
Mit diesem Thema hat sich der Soziologe und Taiwan-Experte Patrick Ziltener intensiv auseinandergesetzt. In einer Untersuchung von 2021 kommt er zum Schluss, dass ein Freihandelsabkommen oder ein ähnlich gelagerter Vertrag für beide Seiten vorteilhaft sei und eine neue wirtschaftliche Dynamik auslösen könne. Alleine die Schweizer Exportunternehmer könnten pro Jahr bis zu 45 Millionen Dollar an Zöllen einsparen.
Dass ein Freihandelsabkommen mit dem WTO-Mitglied unter Ausklammerung der Souveränitätsfrage und ohne Bruch mit der Ein-China-Politik möglich ist, hätten Singapur und Neuseeland bewiesen, die beide 2013 entsprechende Verträge mit Taiwan unterzeichnet haben, sagt Ziltener. Taiwan sei daran interessiert, mehr solche Abkommen abzuschliessen.
Doch auch er räumt ein: «In der jetzigen angespannten Lage gönnt China der Regierung Taiwans keinen Erfolg und würde solche Verhandlungen wohl zu sabotieren versuchen.» Im Falle der Schweiz könnte Peking etwa mit der Suspendierung des Freihandelsabkommens zwischen der Schweiz und China drohen. «Das macht die Schweiz erpressbar.» Ziltener empfiehlt der Schweizer Politik dennoch, das Interesse an einem Abkommen mit Taiwan zu bekräftigen - und den richtigen Moment abzuwarten, dieses ins Ziel zu bringen.
Die USA und die EU haben bereits Schritte unternommen, um ihre Beziehungen zu Taiwan zu stärken: «Wenn Washington und Brüssel ernst machen, bekommen sie den Zorn Pekings als Erstes zu spüren. Die Schweiz könnte dann quasi im Windschatten ein Freihandelsabkommen mit Taiwan abschliessen», sagt Ziltener.
Fragen zu einer Vertiefung der Beziehungen zu Taiwan beantwortet das EDA nur zurückhaltend. Der vom Parlament verlangte Bericht soll bis im September 2023 fertiggestellt sein. Ansonsten verweist das EDA auf die bundesrätliche China-Strategie. Dort ist die Rede von einem «pragmatischen Ansatz» in der Zusammenarbeit mit Taiwan, der eine Weiterführung des wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Austauschs erlaube. Doch hält das EDA unmissverständlich fest: «Die Schweiz anerkennt den demokratischen Charakter der lokalen Behörden und der taiwanesischen Gesellschaft. Jedoch betrachtet die Schweiz Taiwan nicht als eigenständigen Staat.»
Auch wenn der Bundesrat in der Aussenpolitik viel Autonomie geniesst: Beim Thema Taiwan dürfte ihm das Parlament in Zukunft genau auf die Finger schauen. Wie «Le Temps» berichtet, will eine Delegation der überparteilichen parlamentarischen Gruppe Schweiz - Taiwan nach Taipeh reisen. Auf Anfrage erklärt das Sekretariat der Gruppe, das von Taiwans Vertretung in Bern geführt wird, dass die Reise derzeit in Planung sei. Der genaue Zeitpunkt und die Teilnehmerliste stehen noch nicht fest. Die Mitglieder der Gruppe wollen sich während der Herbstsession im September über die Reise austauschen.
Die Gruppe hat übrigens ein prominentes Ex-Mitglied: Der heutige Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) war als Nationalrat kurzzeitig Vizepräsident der Gruppe Schweiz - Taiwan. Heute wäre es seine Aufgabe, ein verärgertes Peking zu besänftigen, wenn die Schweiz ihre Beziehungen zum demokratischen Taiwan stärken würde, wie es im Parlament immer lauter gefordert wird. (aargauerzeitung.ch)
Euch ist schon bewusst, dass China einer unserer wichtigsten Handelspartner ist (leider), eine Weltmacht und nahezu kein westliches Land Taiwan offiziell anerkannt hat?
Würden wir Taiwan anerkennen, würde China umgehend an der kleinen Schweiz ein Exempel statuieren.
Realpolitik/Geopolitik ist leider oft unschön und nicht „richtig“.
Was wir aber tun können und auch sollten: Uns in Zukunft wo immer möglich wirtschaftlich unabhängig von China machen.
Und ja: Das wird schmerzhaft! Ist aber dringend nötig.