Gischt spritzt über die Reling des Schlauchboots, das sich über die Wellen des Schwarzen Meeres kämpft. An Bord sitzen schwer bewaffnete ukrainische Spezialkräfte, die eine besondere Mission durchführen. Ihr Ziel: die Boiko-Bohrinseln unweit der Krim, die sich bereits am Horizont abzeichnet.
In einer bislang geheimgehaltenen Operation haben Einheiten des Militärgeheimdienstes GUR bereits Ende August die Bohrinseln zurückerobert – festgehalten haben sie die «einzigartige Aktion» in einem Video, das fast 15 Minuten dauert. «Die Route zum Ziel ist für die Spezialkräfte besonders gefährlich», erklärt ein anderer Soldat. Der Grund: «Man kann sich nicht vor russischen Flugzeugen und Drohnen verstecken.»
Dennoch beendeten die Spezialkräfte ihren Auftrag erfolgreich und eroberten die Boiko-Bohrinseln – ohne Verluste, wie Kiew meldet. Doch was macht die Plattformen auf dem Schwarzen Meer so wichtig für die Ukraine? Und ist den Spezialkräften wirklich ein – wie sie es nennen – «Schlag ins Gesicht für unseren Feind» gelungen? t-online liefert Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Die Boiko-Bohrinseln sind Plattformen zur Förderung von Öl und Gas auf dem Schwarzen Meer. Russland hatte sie bereits 2015, also kurz nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim, besetzt. Infolgedessen rückte Russland die Offshore-Anlagen vom Odessa-Gasfeld dichter an die Krim heran. In den vergangenen Jahren befanden sie sich rund 110 Kilometer westlich der Halbinsel auf dem Golitsyn-Gasfeld.
«Russland hat die Bohrtürme 2015 vor allem aus dem wirtschaftlichen Nutzen heraus besetzt. Unter den Bohrinseln verbirgt sich durch Öl- und Gasvorkommen ein enormer Reichtum», erklärt der Militärexperte Ralph Thiele im Gespräch mit t-online. Die Ukraine habe Russland mit der Rückeroberung der Boiko-Plattformen also sowohl militärischen als auch wirtschaftlichen Schaden zugefügt.
Verantwortlich für die Rückeroberung der Boiko-Bohrinseln waren nach ukrainischen Angaben Spezialeinheiten des Militärgeheimdienstes GUR. Sie haben sowohl die Bohrtürme «Petro Gowanets» und «Ukraine» als auch die Plattformen «Tawrida» und «Sywasch» unter ukrainische Kontrolle gebracht. Ihre Aktion haben die Elite-Soldaten gefilmt und später ins Netz gestellt, wie in folgendem Posting im sozialen Netzwerk X (vormals Twitter) zu sehen ist:
A video on how Special Operations Forces of the GUR managed to take control of the gas and oil drilling platforms 'Boyko towers' near the coast of Crimea in the Black Sea. pic.twitter.com/wFrLbLdltA
— NOELREPORTS 🇪🇺 🇺🇦 (@NOELreports) September 11, 2023
Die ukrainischen Truppen erbeuteten dabei unter anderem Helikoptermunition des Typs NAR (ungesteuerte Flugkörper) sowie auch ein Neva-Radarsystem zur Überwachung der Oberfläche des Schwarzen Meeres.
«Ein Problem, mit dem wir konfrontiert wurden, war ein feindlicher Kampfjet», erklärt ein Soldat in dem vom GUR geteilten Video. Das Flugzeug sei nur rund 500 Meter entfernt an den Plattformen vorbeigeflogen. Kurz darauf sei eine Bombe auf der mehrere Dutzend Kilometer entfernten Schlangeninsel eingeschlagen. Wie das ukrainische Blatt «Kyiv Post» schreibt, könnte es sich dabei um Kampfhandlungen handeln, die sich am 22. August nahe der Schlangeninsel abgespielt haben. Unabhängig verifizieren lässt sich das jedoch ebenso wenig wie die Aussagen der Soldaten aus dem Video.
Während der Operation zur Rückeroberung der Boiko-Türme sei es demnach auch zu Kämpfen zwischen den Spezialeinheiten auf Booten und einem Su-30-Kampfflugzeug gekommen, heisst es vom GUR. Dabei hätten die Ukrainer den russischen Kampfjet mit einer Boden-Luft-Rakete getroffen. Das Flugzeug habe daraufhin beschädigt abgedreht und sich auf eine unbekannte Basis zurückgezogen.
Weil Russland die Bohrinsel auch für die Überwachung des Schwarzen Meeres genutzt hat. «Russland hat die Plattformen zu Beginn des Angriffs im vergangenen Jahr mit Sensorik ausgestattet», so Thiele weiter. Damit könnten «Bewegungsdaten auf dem Schwarzen Meer sowie weitere Radar- und Kommunikationsdaten gesammelt werden».
Der Kreml könne sich so «ein genaues Lagebild darüber verschaffen, wer auf dem Schwarzen Meer wo unterwegs ist und dann entsprechende Aktionen planen», erklärt der Oberst a.D. weiter. «Für Russland ist das enorm wichtig, denn Daten sind von ihrer Bedeutung her für Militär, aber auch für die Wirtschaft, das neue Öl», sagt Thiele.
Und tatsächlich: Laut ukrainischen Angaben wurden bei der Operation sowohl Hubschraubermunition als auch ein Radargerät vom Typ Neva erbeutet. Mit letzterem könnten die Bewegungen von Schiffen im Schwarzen Meer verfolgt werden, schrieb der GUR in einer Mitteilung auf Telegram. Der Nachrichtendienst bezeichnete die Beute darin als «wertvolle Trophäen».
Russland könne nun zwar nicht mehr auf die Daten zurückgreifen, die mit dem Radar auf den Boiko-Bohrtürmen gesammelt wurden, werde diesen Umstand jedoch wohl «mittels Drohnen, Satelliten und der Präsenz seiner Marine auf dem Schwarzen Meer gut kompensieren können», schränkt Thiele die unmittelbaren Erfolge der ukrainischen Operation ein.
Das lässt sich aktuell noch nicht abschliessend beurteilen. Fest steht, so Thiele: Die Rückeroberung der Boiko-Bohrtürme, vor allem aber die Erbeutung der russischen Sensorik auf den Plattformen könnte einen Vorteil bringen, der möglicherweise auch Einfluss auf die Offensive hat: «Die Ukraine könnte aus der Sensorik, die man auf den Plattformen erbeutet hat, nun wichtige Daten für ihre Gegenoffensive im Süden des Landes ziehen», erklärt Thiele. Diese Sensorik könnte ein «wichtiges Mosaikelement» sein.
Neben der militärischen und wirtschaftlichen Bedeutung des Erfolgs der Ukraine auf dem Schwarzen Meer spielt auch eine psychologische Komponente eine Rolle. Denn die Verteidiger hätten nun eines gezeigt, sagt Militärexperte Thiele: «Nicht nur Russland kann ukrainische Infrastruktur angreifen, sondern wir können ihre auch attackieren.» Die Rückeroberung der Boiko-Bohrinseln sei zwar insgesamt «ein eher kleiner Erfolg, der als Teil des Informationskrieges nun aufgeblasen wird. Aber es ist ein Erfolg», so Thiele.
Ähnlich wie Drohnenangriffe auf dem russischen Territorium gliedere sich die Spezialoperation auf dem Schwarzen Meer in die ukrainische Taktik der «Tausend Nadelstiche» ein, erklärt der Vorsitzende der Politisch-Militärischen Gesellschaft.
Nun sei die Frage, wie gut die Ukraine die zurückeroberten Offshore-Anlagen schützen könne, sagt Thiele. Denn ein schneller Gegenschlag Russlands sei denkbar. «Die ukrainischen Angriffe auf die Krim-Brücken zeigen: Man kann solche Infrastruktur niemals hundertprozentig schützen. So könnte Russland mit einer Attacke in der Zukunft die Plattformen auch versenken.»