Viele Bosnierinnen und Bosnier fürchten die Rückkehr der Gewalt. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine Ende Februar gab es in Sarajevo grosse Friedensproteste. «Sarajevo solidarisiert sich mit Kiew» oder «Lernen aus dem Bosnienkrieg» stand etwa auf den Plakaten.
Sarajevo stands with Ukraine! 🇧🇦🇺🇦
— Azra Numanovic (@NumanovicAzra) February 25, 2022
Citizens of Sarajevo, remembering their own war, protest in support of Ukraine.
I captured few moments with my lens, but there is no device to capture the weight of fear in the air. pic.twitter.com/g0pixMYGc6
Der Grund für die Sorge in Bosnien: Mit Putins Annexionskrieg könnten sich die bosnisch-serbischen Nationalisten um den Politiker Milorad Dodik in der faktisch autonomen Republika Srpska ermutigt fühlen, sich ganz vom Land Bosnien-Herzegowina abzuspalten.
Die Träume der Nationalisten für ein grossserbisches Reich betreffen freilich nicht nur die mehrheitlich von Serben bewohnte Republika, sondern auch den Kosovo, der von Serbien noch immer als abtrünniges Staatsgebiet angesehen wird.
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Für den Beobachter und Russland-Kenner Ulrich Schmid sind die Parallelen zwischen der Ukraine und Bosnien augenfällig, die Situationen im Donbass und in der Republika Srpska gut miteinander vergleichbar, wie der Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St.Gallen gegenüber Ch Media sagt.
Schmid zieht die Parallelen insbesondere für ein Friedensszenario, das aus seiner Sicht am realistischsten ist. «Bis Ende Jahr hat Russland die Kontrolle über die beiden Volksrepubliken im Donbass, Donezk und Luhansk, gesichert.»
Das und der Umstand, dass beide Kriegsparteien, sowohl die Ukraine als auch Russland, Abnützungserscheinungen zeigen, könnten dazu führen, «dass es in der Ukraine zu einer Art Dayton-Frieden kommt».
Das Abkommen von Dayton beendete 1995 den Bosnienkrieg und schrieb ein Staatsgebilde fest in den international anerkannten Grenzen vor dem Krieg und einer sehr dezentralen Struktur mit zwei teilautonomen Entitäten, der Republika Srpska, in der Serben die Mehrheit stellen, und der vor allem von Bosniaken und Kroaten bewohnten Föderation Bosnien und Herzegowina.
Schmid nennt es «das Szenario Bosnien». Und er nennt die Aussicht prekär. Das Problem: Bosnien-Herzegowina ist bis heute kein funktionsfähiger Staat. Das Abkommen von Dayton sorgte zwar für ein Ende des Kriegs, der Konflikt wurde damit aber nicht beendet. Noch folgenschwerer wiegt laut Schmid der aus dem Dayton-Abkommen resultierende «moralische Schaden».
Was ist damit gemeint? Der Vertrag belohnte den Aggressor, Serbien. «Die heutige Karte mit der Republika Srpska bildet die militärischen Fortschritte ab, die serbische Streitkräfte und Milizen im Bosnienkrieg 1992 bis 1995 errungen haben.» Nicht zu vergessen: Nach dem Zusammenfall des sozialistischen Jugoslawien war Bosnien-Herzegowina als souveräner Staat international anerkannt.
Und in der Ukraine? Gut möglich, dass ein Friedensabkommen zwischen Moskau und Kiew dereinst den russischen Aggressor Putin ebenso belohnt. Manche Stimmen aus der Diplomatie wie diejenige des früheren US-Aussenministers Henry Kissinger äusserten sich bereits in eine solche Richtung. Sie sahen es gewissermassen als wünschenswert an, dass Kiew zu Gunsten eines Friedens die bereits vor der russischen Invasion unter Kontrolle Moskaus stehenden Volksrepubliken Luhansk und Donezk loslassen würde.
Hier enden allerdings die Parallelen zwischen der Ukraine und Bosnien. Auf dem Balkan ist die Situation politisch zwar angespannt. Doch eine Abspaltung der Republika Srpska ist kaum realistisch, zumal Serbien kein Interesse daran hat, seine lebenswichtigen Beziehungen zu Europa aufs Spiel zu setzen. Lieber spielen serbische Politiker ihr doppelzüngiges Spiel, indem sie zwar von Europa profitieren, gleichzeitig aber mit ihrer traditionellen Schutzmacht Russland liebäugeln. Aktuell hat Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz versucht, auf Serbiens Präsident Aleksandar Vucic einzuwirken.
In der Ukraine hingegen ist bei der Provokation nicht Schluss, eine Abspaltung ist durchaus möglich. Ein Friedensabkommen nach dem Vorbild von Dayton wäre wohl bloss ein Zwischenschritt. Europa und der Westen würden Russland kaum daran hindern, die Donbass-Regionen Luhansk und Donezk in der Russischen Föderation aufgehen zu lassen.
Und noch einen Unterschied ortet Ulrich Schmid: Im Gegensatz zu Serbien, das es sich zurzeit einfach nicht erlauben kann, zu expandieren, wäre Russlands Hunger nach der Einverleibung Donezks und Luhansks nicht gestillt. Schmid prophezeit eine Art russisches Roulette. Das Rad würde sich weiter drehen. Als Nächstes wären Cherson und Saporischschja das, was Donezk und Luhansk in den vergangenen Jahren waren: Russlands Stachel im Fleisch einer zwar offiziell befriedeten, in ihren Grenzen aber nach wie vor bedrohten Ukraine.
Immerhin einen Vorteil gibt es: Eine Lösung nach dem Vorbild von Bosnien wäre zwar nicht nachhaltig, dafür könnte es den heissen Krieg erst einmal beenden oder zumindest abkühlen. Die Ukrainer bezahlen vor allem in den Regionen Luhansk und Donezk einen brutal hohen Blutzoll. Kurz- und mittelfristig würden wohl Leben gerettet.
Trotzdem wäre der Preis eines Bosnien-Szenarios für die Ukraine hoch: Es führt ganz sicher nicht zu Stabilität und ein weiteres Mal würde Aggression belohnt, indem man Kriegsgewinne verschriftlicht und damit legalisiert. Stellt sich gerade bei Russland die Frage: Gibt es sich mit einer solchen Belohnung zufrieden oder lechzt es nur nach mehr?
Verhindern kann man das nur, wenn man Russland in die Schranken weist. Das heisst auch die Ukraine weiterhin voll unterstützen und gemeinsam die westlichen Werte zu verteidigen.
Auch die Sanktionen gegenüber Russland würden dann (vermutlich & hoffentlich) weitergeführt.
Russland hätte dann zwar das Ziel erreicht, einen weiteren seiner Nachbarn dauerhaft zu destabilisieren, wäre aber auf unabsehbare Zeit vom Westen wirtschaftlich abgeschnitten. Russland würde noch mehr als bisher zur asiatischen Regionalmacht und Juniorpartner Chinas.