Nun ist bekannt, warum die Polizei am Dienstag den 18 Jahre alten Todesschützen von Uvalde (Texas) derart lange gewähren liess: Der Einsatzleiter der Polizei war, fälschlicherweise, der Meinung, dass der Schütze keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellte. Also gab er den fast 20 Polizisten, die sich in einem Korridor einige Meter entfernt vom Tatort in der Robb Elementary School versammelt hatten, den Befehl, mit der Stürmung der beiden, miteinander verbundenen Schulzimmern 111 und 112 zuzuwarten.
Bei dem Einsatzleiter handelte es sich um den Chef der Polizeibehörde des Schulbezirkes UCISD, die für die Durchsetzung von Recht und Ordnung in den öffentlichen Schulen des Verwaltungsbezirks Uvalde zuständig ist. Insgesamt beschäftigt diese unabhängige Behörde vier Polizisten und zwei Polizistinnen.
Die Entscheidung des Polizeichefs sei falsch gewesen, sagte Steven McCraw, der Direktor der texanischen Sicherheitsbehörde DPS, an einer Pressekonferenz. An die Angehörigen der 19 getöteten Kinder und 2 Lehrerinnen gerichtet sagte McCraw etwas gefunden: «Wenn ich glauben würde, dass es hülfe, würde ich mich entschuldigen.»
Der DPS-Direktor, vergleichbar mit einem Kommandanten einer Kantonspolizei in der Schweiz, gab am Freitag erstmals einen genauen Überblick über den Amoklauf am Dienstag. Dabei räumte er mit einigen Irrtümern auf; McCraw richtete das Scheinwerferlicht aber auch auf die offensichtlichen Versäumnisse der Ordnungskräfte.
Demnach verschaffte sich der Attentäter gegen 11 Uhr 33 (Lokalzeit) Zutritt zur Primarschule von Uvalde. Er betrat das Hauptgebäude durch eine Hintertür, die eine Lehrperson offengelassen hatte. Womöglich war diese Lehrkraft zuvor Zeuge des Unfalls geworden, den der junge Mann mit einem ausgeliehenen Auto gebaut hatte.
Wenige Minuten später begann der 18-Jährige in den Schulzimmern 111 und 112 wild um sich zu feuern. Um die Mittagszeit herum befanden sich ausreichend Polizisten im Schulgebäude, um die Zimmer zu stürmen. Die Türen waren aber zugesperrt. Also wartete der Einsatzleiter der Polizei mit der Stürmung zu. Er sei der Meinung gewesen, sagte McCraw, dass die «active shooter phase» zu diesem Zeitpunkt vorbei gewesen sei. Will heissen: Dass der Mann sämtliche Menschen, die sich in den Zimmern 111 und 112 aufgehalten hatte, getötet hatte.
Dies stimmte aber wohl nicht. So ging gegen 12 Uhr 43 bei der Notrufzentrale 911 der Anruf eines Mädchens ein, das flüsternd gesagt habe: «Bitte, schickt jetzt die Polizei!» Dies sagte DPS-Direktor McCraw am Freitag. Das Kind soll sich im Raum 112 aufgehalten haben. Um 12 Uhr 50 stürmten die Polizisten, verstärkt durch Agenten des Grenzwachtkorps CBP, endlich die Schulzimmer. Und der Massenmörder wurde erschossen.
Über die Beweggründe des Einsatzleiters der Schulpolizei konnte DPS-Direktor McCraw am Freitag vorerst keine Auskunft geben. Der Polizeichef war an der Pressekonferenz nicht anwesend.
McCraw wies darauf hin, dass dessen Entscheidung im Nachhinein «natürlich» falsch sei. «Dafür gibt es keine Entschuldigung.» Er sagte aber auch, dass der Todesschütze nach dem Mittag nur noch sporadisch um sich geschossen habe, nachdem er zuvor mit seiner halbautomatischen Waffe mehr als 100 Schüsse abgefeuert hatte. Wie viele Kinder zu diesem Zeitpunkt noch lebten, konnte McCraw nicht sagen.
Der Nachrichtensender CNN hatte zuvor über ein 11-jähriges Mädchen berichtet, dass sich mit Blut einer Freundin beschmiert hatte, damit der Attentäter das Gefühl habe, sie sei tot. Das Mädchen rief mehrmals den Notruf an und überlebte das Massaker.
Die Hinterbliebenen der Opfer hatten den Einsatz der Polizei in den vergangenen Tagen heftig kritisiert. Sie bemängelten, dass die Sicherheitskräfte viel zu lange ausserhalb der Robb Elementary School gewartet hätten, bis sie den 18-jährigen Amokläufer in einem Schulzimmer konfrontierten.
Ein Video auf dem Kurznachrichtendienst Twitter zeigt schreiende Mütter und Väter, die schwerbewaffnete Polizisten anherrschten: «Gehen Sie rein! Gehen Sie rein!» Die Ordnungshüter aber schienen vor allem damit beschäftigt zu sein, die Eltern unter Kontrolle zu halten. Das Video wurde in den vergangenen Tagen mehr als 10 Millionen Mal angeklickt. (aargauerzeitung.ch)