Der Siegeszug des deutschen Schuhherstellers Birkenstock ist eine der unwahrscheinlicheren Erfolgsgeschichten der Modebranche, auch wenn sie sich seit Jahrzehnten abgezeichnet hat: Dass die «New York Times» verwundert feststellte, das eher plump wirkende Birkenstock-Modell «Boston» sei der «Schuh der Stunde», ist auch schon über 30 Jahre her. Seither ist das Unternehmen auf seinem Weg zum Produzenten trendiger Lifestyle-Produkte ein gutes Stück vorangekommen.
Am Dienstag hat der Sandalenmacher aus dem 6000-Einwohner-Städtchen Linz am Rhein, der mittlerweile auch Sneakers, Betten und Kosmetika produziert, in den USA den Börsengang beantragt. Das Debüt an der New Yorker Wall Street ist für die zweite Oktoberwoche geplant. 10 bis 15 Prozent der Anteile will das Unternehmen verkaufen und damit mindestens 8 Milliarden Dollar einnehmen. Analysten halten auch einen Erlös von 11 Milliarden für realistisch: Birkenstock sei eine Luxusmarke und damit besonders wertvoll.
2021 hatten die Firmenerben Christian und Alexander Birkenstock 65 Prozent der Anteile für 4.9 Milliarden Dollar an die Private-Equity-Gesellschaft L Catterton verkauft. Dass diese das Unternehmen bereits zwei Jahre später an die Börse bringt, dürfte damit zu tun haben, dass sich der Firmenwert seither fast verdoppelt hat. Vor allem in Amerika und Asien schlurft eine wachsende Zahl von Kundinnen und Kunden auf leisen Korksohlen durchs Leben: 2022 betrug der bereinigte Gewinn 400 Millionen Euro; im ersten Halbjahr 2023 waren es bereits 225 Millionen.
L Cattertons Einstieg bei Birkenstock illustriert den Imagewandel der Latschenschmiede: Das Investmenthaus ist ein Zusammenschluss einer amerikanischen Beteiligungsgesellschaft mit der Privat-Equity-Sparte des französischen Luxusgüterkonzerns LVMH, zu dem Marken wie Louis Vuitton und Dior gehören. Während L Catterton nun einen Teil seiner Birkenstock-Anteile veräussern will, plant der LVMH-Mehrheitseigner Bernard Arnault, seine Beteiligung aufzustocken: Das Unternehmen passe gut in sein Portfolio, sagt der reichste Mann Frankreichs.
Birkenstock ist, wenn man so will, ein Schuh aus dem Geist der Utopie: Mitte des 19. Jahrhunderts kam in Deutschland die sogenannte Lebensreformbewegung auf, die der Industrialisierung eine Hinwendung zur Natur entgegensetzte. In Frankfurt sammelte sich eine Gruppe fortschrittlich orientierter Schumacher um den Anatomieprofessor Hermann von Meyer, darunter der junge Konrad Birkenstock.
Meyer forderte eine Schuh-Reform: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts habe es noch keinen Unterschied zwischen einem linken und einem rechten Schuh gegeben, berichtet die Autorin Nike Ulrike Breyer in einem Aufsatz über die Geschichte Birkenstocks. Zudem liefen die meisten Schuhe spitz zu, wodurch die Zehen aus ihrer natürlichen Lage gedrängt wurden.
Das Konzept des Fussbetts, das Konrad Birkenstock entwickelte, muss damals auf viele wie eine Befreiung gewirkt haben. Der Durchbruch erfolgte allerdings erst unter Konrads Sohn Carl: Viele Veteranen des Ersten Weltkriegs litten unter Fussschmerzen und verlangten gesundes Schuhwerk. 1925 eröffnete Carl Birkenstock seine erste Fabrik. Bis das Unternehmen die erste Sandale herstellte, vergingen noch einmal 38 Jahre: 1963 brachte Birkenstock das Modell «Madrid» auf den Markt.
Heute beschäftigt das Unternehmen 6200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an sechs Standorten. Produziert wird ausschliesslich in Deutschland, woran sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern soll. Auch auf der Führungsebene setzt Birkenstock auf Kontinuität: Der CEO Oliver Reichert, der seit elf Jahren an der Spitze steht, bleibt im Amt. Reichert ist der erste Firmenchef, der nicht der Familie Birkenstock entstammt; seiner Berufung waren Unstimmigkeiten unter den Erben vorausgegangen.
Amerika ist derzeit der wichtigste Wachstumsmarkt. Dort ist Birkenstock seit den späten Sechzigerjahren präsent. Damals entdeckten Hippies und andere Aussteiger das deutsche Schuhwerk für sich: Wer Birkenstocks trug, erteilte der Konsumgesellschaft und ihren Modediktaten eine Absage.
Wann die Sandalen vom Mainstream vereinnahmt wurden, ist schwer zu sagen. Dass sich das britische Supermodel Kate Moss 1990 in Birkenstocks ablichten liess, war sicher ein Wendepunkt. Seither spielt der Zeitgeist Birkenstock in die Hände: Nachhaltigkeit und Gesundheitsbewusstsein liegen im Trend. Die Zeiten, in denen sich Modejournalisten die Chelsea Boots an der klobigen Sandale abputzten, scheinen vorerst vorbei zu sein. (aargauerzeitung.ch)