Sie treten auf wie ein Duo aus einer noch gar nicht so lange vergangenen – und doch unerreichbar fernen – Zeit: Von Klassen und von Solidarität sprechen sie, zuerst redet die junge Frau, dann redet der alte Mann, und es wirkt zunächst wie ein amerikanischer Wahlkampf vor 30, 20 oder zehn Jahren.
Und trotzdem trifft in den USA kaum jemand die Gegenwart von 2025 so exakt wie diese zwei, heute und hier im kalifornischen Bakersfield. Der eine: 83 Jahre alt, blauer Anzug, heiserer Brooklyn-Akzent, fuchtelnde Zeigefinger. Ein Mann einstiger Gewerkschaftsschlachten, uralter Klassenkämpfe. Die andere: 35 Jahre alt, heiserer Bronx-Slang, leuchtend weisses Hemd, Jeans, Leopardenschuhe, kampferfahren im Internetlärm.
Gemeinsam sind der Senator aus Vermont, Bernie Sanders, und die Abgeordnete des Repräsentantenhauses aus New York, Alexandria Ocasio-Cortez, auf Tour durch ein Land, das an sich selbst verzweifelt. «Fighting Oligarchy» heisst ihre Reise. Ihre Gegner: der Präsident, der von einer Diktatur zu träumen scheint und autokratisch regiert; und reiche Konzernchefs wie Elon Musk, der 270 Millionen Dollar für Trumps Wahlkampf spendete und nun mitregiert und jene Menschen entlässt, die seine Firmen kontrollieren wollen; und natürlich jene fünf brüllenden Typen, die draussen vor der Halle in fünf Monstertrucks hocken, an denen Flaggen mit dem Schriftzug «Trump 2028» befestigt sind, was eine illegale dritte Amtszeit Donald Trumps bedeuten würde.
Sanders und Ocasio-Cortez wollen sagen und zeigen, dass Amerika sich nicht gewöhnen müsse – an die Düsternis, den Zynismus, die Zerstörungslust der ersten 90 Trump-Tage. Dass Gemeinsinn sich lohne, Kampfgeist auch. Dass Aufgeben so wenig eine Option sein dürfe wie eine Zersplitterung der seit Trumps Wahlsieg so bedrückten, verzagten Demokratischen Partei. Sie wollen etwas starten, beide sprechen von einer «neuen Bewegung».
Von Woche zu Woche verlängern sie ihre Tournee, denn von Ort zu Ort kommen mehr Menschen, und weltweit wird über dieses Tandem berichtet, auch weil all dies wie die Übergabe eines Staffelstabs wirkt: Ich, Bernie, habe lange genug versucht, in Washington progressive Politik durchzusetzen – jetzt bist du an der Reihe, Alexandria. Kann das aufgehen? Kann Ocasio-Cortez das leisten? Und wird das, was in diesen Wochen im Westen des Landes zu beginnen scheint, womöglich im Weissen Haus enden, womöglich bereits 2028?
«This land is your land, this land is my land», sang Miya Folick eine Viertelstunde vor den Reden. Es war ungefähr der Zeitpunkt, als die Türen der Arena von Bakersfield geschlossen wurden, wegen Überfüllung, was ein gutes, aber selten gewordenes Zeichen für Amerikas Demokraten ist. Interessiert sich noch jemand für Demokraten? Glaubt in den USA noch jemand an ein liberales Amerika, an Gesetze, an einen Staat, der seiner Gesellschaft dient, an Krankenversicherungen, glaubt noch jemand an die Demokratische Partei?
Ocasio-Cortez redet zuerst, kokettiert ein wenig herum, sagt «Mein Name ist Alexandria, einige von euch kennen mich vielleicht als AOC», denn dies ist ihr Markenname, sie ist ein Weltstar der sozialen Medien. Und sie redet gut, jeder Satz ist dringlich, etwas gepresst, doch Tempo und Lautstärke variieren; sie liest ab und spricht frei, eine Mischform. Und gross und gewichtig wird es sofort: Ein Land wie die USA Donald Trumps, in dem Menschen von der Strasse geholt werden und in abgedunkelten Vans verschwinden, sei nicht mehr frei, Trump handle «antiamerikanisch». Gleich in diesen ersten Minuten geht es um Mobilisierung: «Wir haben die Macht.» Wir, die Vielen, und nicht Trump und Elon Musk «und ihre Milliardärsfreunde».
Bernie Sanders redet nach ihr, er braucht schon lange keine Manuskripte mehr. Meist hält seine linke Hand das Pult und die rechte fuchtelt, manchmal ist es andersherum. Ansonsten variiert Sanders nichts, jeder Satz schreit ähnliche Empörung, ähnliche Wut heraus. Er berichtet von Kindern, die mit ihren arbeitenden Eltern im Auto leben müssen, weil alles gleichermassen unbezahlbar geworden sei: die Kinderbetreuung, Wohnungen, Krankenkassen, auch Schulen. «Die Hälfte der Menschen in Amerika hat Schulden», ruft er, «wer von euch hat Schulden?», und die Hände gehen hoch, überall in der Halle. Dann kommt Sanders zu den Oligarchen, «Menschen, die ein ernsthaftes Suchtproblem haben». Was ist ihre Sucht? «Die Gier». Und diese Gier sorge laut Sanders dafür, dass die Republikaner Medicaid, das System der Gesundheitsversorgung, um 880 Milliarden Dollar kürzen wollten, um ihre Steuerkürzung «für die Reichsten» zu finanzieren.
Es gibt drei Gründe, warum Sanders und AOC, beide im Osten des Landes zu Hause, hier im Westen sind. Sie suchen sich gezielt Wahlbezirke aus, deren republikanische Abgeordnete derart unter Druck gesetzt werden könnten, dass sie am Ende die Einschnitte nicht mitmachen werden. Bakersfield ist so ein Ort. Oft schon wurde hier demokratisch gewählt, es gibt viele Migrantinnen und Migranten, viele Arbeiterinnen und Arbeiter. «Ruft euren Abgeordneten an», sagt Sanders.
Sie wollen die Demokraten aufwecken, die Niederlage von 2024 überwinden, aufstehen. Und AOC soll aufgebaut werden, muss landesweit aufgebaut werden, wenn sie irgendwann die Geschicke der Nation prägen soll. In ihrem eigenen Team glaubt kaum jemand an eine Präsidentschaftskandidatur in drei Jahren. Viel zu früh, das sagen die Menschen, die sich etwas zu sagen trauen. Ein anderes Szenario dürfte realistischer sein: Kann sie im Repräsentantenhaus oder auch im Senat den Kongress prägen, mit dem Machtinstinkt und Geschick (beides wird ihr nachgesagt) einer Nancy Pelosi; zudem mit dem Gespür für Medien und Öffentlichkeit, das sie seit Langem schon hat; zudem mit der Wucht einer Erbin Bernie Sanders', also der kollektiven Kraft des progressiven Flügels?
Was diese beiden Politiker verbindet, ist mehr als eine politische Agenda. Es ist der Gedanke, dass der Staat nicht neutral sein dürfe in einem Land, das systematisch Reichtum nach oben verteile, die Stimmen von Minderheiten entwerte und jetzt auch noch, durch Musk und Trump, die eigenen Institutionen demontiere. Bernie Sanders spricht seit Jahrzehnten über diese ungerechten USA, es ist sein Lebensthema, das ihn berühmt und reich gemacht hat. Darum nennt er sich seit Jahrzehnten democratic socialist, womit er zur Marke wurde, aber auch zum Einzelgänger.
Landesweit kann einer, der sich selbst Sozialist nennt, in der harten, durch und durch kapitalistischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten nicht gewinnen. Vielleicht liegt seine Tragik ja in diesem Wortdreher. Hätte ein social democrat in den USA siegen können? Nach deutschem oder dänischem Vorbild? Kann eine Sozialdemokratin in den kommenden Jahren gewinnen?
Alexandria Ocasio-Cortez macht erfühl- und erlebbar, was Sanders wütend durchdenkt. Sie sagt: «Ich stehe nicht hier, weil ich Marx gelesen habe – sondern weil ich Doppelschichten schieben musste, damit das Licht nicht abgeschaltet wurde.» Dann erzählt sie ihre Geschichte von den armen und mittels «Knochenarbeit» kämpfenden Eltern und dem Gefühl, endlich so etwas wie Sicherheit erreicht zu haben, das war kurz vor 2008, ehe beim Vater der Krebs diagnostiziert wurde.
Der Vater starb. Dann kam die Wirtschaftskrise. Und damit begann der freie Fall, wie für so viele Menschen in den USA: Die Mutter putzte, Alexandria kellnerte und putzte auch, und die Politikerin AOC weiss heute, wie viel Kraft in der Erzählung vergangener Demütigungen liegen kann. Seit Trumps Anwältin sie im Fernsehinterview als «blosse Kellnerin» verhöhnte, antwortet AOC in vollen Arenen: «Das war kein Angriff auf mich. Das war ein Angriff auf euch.»
Sie will, dass die Menschen der USA sich wieder engagieren. Sanders will, dass sie hinsehen und wieder träumen. Sanders ruft «Tax the rich!» und rechnet vor, dass ein Mann – gemeint ist Musk – mehr besitze als die Hälfte der US-Bevölkerung. Und sie sagt nun, dass dieser Moment, Trumps Sieg, «nicht aus dem Nichts» komme, sondern «logische und zwangsläufige Folge dieses Systems» sei, «einer Agenda des dunklen Geldes» in Washington, D. C. «Oligarchie oder Demokratie, denn beides zugleich geht nicht», ruft AOC und entwirft in wenigen Sätzen ein utopistisches Amerika: «Eine neue Welt, ein besseres Land ist möglich», mit bezahlbaren Wohnungen, mit bezahlbaren Krankenkassen, «mit Respekt vor all unseren Unterschieden».
Die Demokratische Partei ist in diesen ersten Monaten der zweiten Trump-Präsidentschaft nicht mehr das, was sie zu Barack Obamas oder auch noch zu Joe Bidens Zeiten war. Ihre Umfragewerte sind mies, ihre Botschaften widersprüchlich, die meisten Führungsfiguren suchen hilflos Halt und können keinen geben. Wie umgehen mit Trump?
Da sind jene, die wie der Senator Chuck Schumer verantwortungsvoll den Bundeshaushalt retten wollten und doch die Agenda des Präsidenten stützten; oder die wie Gretchen Whitmer, Michigans Gouverneurin, handgeschriebene Glückwunschbriefe ans Weisse Haus schickten, samt Handynummer. Sie habe konstruktiv sein wollen, das sagt Whitmer heute, sie vertrete die Interessen ihres Bundesstaats. Tatsächlich stand sie dann im Oval Office, als Trump ein Dekret zur Bestrafung von Menschen unterzeichnete, die seine Lüge von der gestohlenen Wahl 2020 nicht mittragen. Es war ein Propagandamoment, ein perfektes Bild für Trump. Whitmers Miene: steinern. Ihre Partei: schon wieder schockiert, wie gerade erst bei Schumer. Sie sei in die Falle gelockt worden, habe nicht gewusst, dass die Presse im Oval Office sein würde, sagte Whitmer.
Auf der anderen Seite: Leute wie J. B. Pritzker, Josh Shapiro, Tim Walz. Sie haben keinen Brief geschrieben, führen keine Gespräche mit dem Präsidenten. Sie sagen, dass Trump ein Autokrat sei und Musk ein Oligarch. Walz nannte Musk ein «Nepobaby aus Südafrika», Pritzker nennt Trumps Zölle «ökonomischen Wahnsinn», Shapiro sagt, das Land werde «nicht durch Höflichkeit gerettet, sondern durch Widerstand».
Hier verläuft der Riss: zwischen jenen, die noch immer glauben, man könne Trump zähmen, vielleicht steuern, und jenen, die sagen, dass Trump gestellt und gestoppt werden müsse. Unstrittig ist, wo Sanders und Ocasio-Cortez in dieser parteiinternen Debatte stehen. «Donald Trump ist ein Krimineller», ruft AOC gegen Ende ihrer Rede. Sie spricht von einem Amerika des Insiderhandels und der Spaltung. «Es ist ein System, das diese Spaltung zwingend benötigt», sagt sie, denn wenn Milliardäre sich immer noch weiter bereichern wollten, müsse dies zum Nachteil des Landes und der Massen geschehen.
Die öffentliche Wahrnehmung dieser zwei hat sich verschoben. Sanders galt einst als extrem, als übertrieben, schrullig, nostalgisch. Jetzt wirkt er wie ein Wahrsager, der das Drehbuch von Trumps zweiter Amtszeit vor Jahren geschrieben hat. Zum Schluss sagt er, dass Politik manchmal ganz einfach sei: «Auf welcher Seite stehst du?» Das Land gehöre «uns allen, und auch wenn ich nicht überragend gut in Mathe bin, weiss ich doch, dass 99 Prozent eine grössere Zahl als ein Prozent sind».
Trump und die Superreichen gegen das gesamte übrige Amerika, das ist die Geschichte, die Sanders und Ocasio-Cortez erzählen möchten. Einfach wird es nicht, dieses Narrativ durchzusetzen, denn die Wahlergebnisse dokumentieren eine andere Spaltung.
AOC sagt: «Wenn wir uns organisieren und nicht auseinandertreiben lassen, können wir dieses Land verändern.» Und dann klopft nicht Bernie Sanders der jungen, aufstrebenden Politikerin anerkennend auf den Rücken, so wäre das früher gewesen. Heute klopft sie.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Ich mag AOC und Sanders, aber aus den letzten Wahlen zu schliessen, dass die Wählerschaft eine extrem linke Positionierung möchte, finde ich schon sehr mutig.
Uns muss bewusst werden, dass auch wenn Frauen hier in der Politik eine Normalität sind, die Amerikaner (leider) weit zurückgeblieben sind. Und ein MAGA 2028 gilt es unbedingt zu vermeiden.
Mal schauen wie sich das noch entwickelt.