Es ist eine Frage der Perspektive: 2024 hat Russland in der Ukraine etwa siebenmal so viel Gebiet erobern können wie im Vorjahr. Schätzungsweise 30'000 ukrainische Soldaten wurden dabei getötet, seit Kriegsbeginn mehr als 300'000 verletzt, während die Mobilmachung an Tempo verliert.
Zugleich verlor Russland allein im vergangenen Jahr mutmasslich mehr als 400'000 Soldaten, etwa 100 wurden pro eroberten Quadratkilometer getötet oder verletzt. Die russischen Materialverluste waren fast dreimal grösser als die ukrainischen. Für knapp 4'000 eroberte Quadratkilometer in einer monatelangen Offensive, bei der kein Frontdurchbruch gelang, bezahlte Wladimir Putin mit einem Drittel seiner gesamten Armee.
Die Ukraine blickt bei ihrem dritten Jahreswechsel im Krieg somit einer schwierigen Lage entgegen, in der die Initiative weiterhin bei Russland liegt. Selbst die Regierung in Kyjiw redet offen über einen möglichen Kompromiss, von der Rückeroberung des Donbass und der Krim ist nicht mehr die Rede. Doch zugleich hat das Land ein schwieriges Jahr überstanden und braucht aktuell nicht zu befürchten, dass der Preis für einen Frieden die weiter von Putin erhoffte Kapitulation sein muss.
Aus ukrainischer Sicht positive Entwicklungen wie der Aufbau der eigenen Rüstungsindustrie mischen sich mit beunruhigenden Tendenzen wie steigendem Missmut in der Bevölkerung und zahlreichen Berichten über schwere Führungsprobleme im Militär. Diese Faktoren – und eine Reihe weiterer – werden auf den Kriegsverlauf im gerade begonnenen Jahr Einfluss haben. Und entscheidend sein bei der weiterhin kaum beantwortbaren Frage:
Wann und wie endet der Krieg?
Awdijiwka, Wuhledar, Wowtschansk – 2024 konnte Russland nicht nur Dörfer, sondern wieder ganze Städte erobern. Zweifelsohne hat die Ukraine im Osten des Landes mehrere Niederlagen hinnehmen müssen, über die auch der Einmarsch in die russische Grenzregion Kursk nicht hinwegtäuschen kann. Zugleich kam es nicht zum russischen Optimalszenario, einem echten Durchbruch der Front mit der Aussicht, wie zu Kriegsbeginn ganze Regionen und ihre Hauptstädte zu erobern. Russland kontrollierte vor einem Jahr 18 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets, jetzt sind es 18,5.
Der schleichende Vormarsch sollte aber nicht zur Annahme verleiten, dass sich das Tempo nicht schlagartig steigern könnte. In der Ukraine wird über mögliche Gefahren für die Grossstädte Cherson und Saporischschja diskutiert. Falls Russland die Front durchbricht, ist deren Eroberung möglich. Das käme einer so schweren Niederlage gleich, dass die Ukraine zu einem Waffenstillstand unter russischen Bedingungen nahezu gezwungen wäre. Den russischen Durchbruch zu verhindern, bleibt somit die wichtigste Aufgabe für das ukrainische Militär – anstelle der Planung einer eigenen Grossoffensive, die derzeit schwer vorstellbar erscheint.
In einer von der Ukraine als vorbildhaft gelobten Aktion hat Frankreich im vergangenen Jahr eine ganze ukrainische Brigade – mehrere Tausend Soldaten – ausgebildet und mit schwerem Militärgerät ausgerüstet. Doch in den vergangenen Tagen hat ein Skandal um diesen Grossverband das Vertrauen in die ukrainische Militärführung schwer beschädigt. Wie das Onlinemedium Censor.net berichtet, sollen 1'700 Soldaten die Brigade eigenmächtig verlassen haben. 50 von ihnen seien noch während der Ausbildung in Frankreich desertiert.
Als der Verband mit nominell fast 6'000 Soldaten die Front erreichte, sei von ihm nur noch ein Schatten übrig gewesen: 2'500 Soldaten seien anderen Einheiten zugeteilt worden. Der ursprüngliche Ansatz, die Brigade im Verbund auszubilden, sei somit in absurder Weise ignoriert worden. Gegen die Brigadeführung wird inzwischen wegen Machtmissbrauchs ermittelt.
Das Problem ist symptomatisch. Experten und einflussreiche Offiziere kritisieren seit Monaten den ständigen Aufbau neuer Brigaden mit ungeübten Kommandeuren und ohne ausreichende Ausstattung – sowie deren faktische Auflösung, um an vielen Frontabschnitten Lücken zu stopfen. Sie fordern einen kompletten Strategiewechsel, bei dem neue Soldaten erfolgreichen Brigaden zugeteilt und die Verbände langsam zu Divisionen ausgebaut werden sollen, um eine Weitergabe von Kompetenzen zu gewährleisten – und praxisferne Planer in Kyjiw zu umgehen. Zudem soll das System der Beförderungen erneuert und unabhängige Aufsichtsorgane geschaffen werden. Ob der Ukraine eine solche Militärreform mitten im Krieg gelingt, dürfte nicht nur auf die Kampfkraft des Militärs, sondern auch auf das Vertrauen in dessen Führung grossen Einfluss haben.
Nicht nur die Ukraine leidet an Problemen wie Desertion und Waffenmangel. Der Zustand des russischen Militärs ist ebenfalls kritisch. Um die Verluste von bis zu 40'000 Soldaten pro Monat auszugleichen, musste Russland die Rekrutierungsprämien in einigen Regionen mehr als verzehnfachen. Dutzende Milliarden Euro muss Putin inzwischen allein für Sold und Zahlungen an Hinterbliebene freistellen. Geld, das dem Rüstungssektor fehlt.
Dieser wiederum produziert zwar rund um die Uhr Waffen, grösstenteils handelt es sich dabei aber um die Instandsetzung von Reserven aus der Sowjetzeit. Analysen kommen zu dem Schluss, dass diese Reserven spätestens 2026 nahezu erschöpft sein werden. Die Waffenproduktion werde dann stark sinken. Schon im vergangenen Jahr schickte Russland Soldaten auf Golf-Buggys und Motorrädern in den Kampf – auch weil billige Drohnen für schwere Waffen beider Kriegsparteien zur Gefahr geworden sind. Zudem belasten Fachkräftemangel, ein schwacher Rubel und ein Leitzins in Rekordhöhe Russlands Wirtschaft. Sollte sie in eine Krise geraten, könnte auch das die russische Bereitschaft zu Kompromissen erhöhen.
Die USA leisten bislang etwa 40 Prozent der gesamten Ukrainehilfen. Während der scheidende Präsident Joe Biden dem Land immer wieder seine «unverbrüchliche» Solidarität zusicherte, forderte Donald Trump im Wahlkampf ein Ende der Zahlungen. Europa solle sie komplett übernehmen. Plausibel ist das nicht: Vor allem bei Waffenlieferungen können nicht einmal alle EU-Länder zusammengenommen einen möglichen Rückzug der USA ausgleichen.
Dementsprechend bemüht sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, Trump von einem Kurswechsel zu überzeugen. In seiner Neujahrsansprache widmete er gar eine ganze Passage dem Lob der USA. Der baldige US-Präsident wiederum will den Krieg nach eigener Aussage möglichst schnell einfrieren. Sollte das misslingen – schliesslich hat Russland einen Stopp seines Vormarschs zuletzt ausgeschlossen –, könnte Trump die Ukraine gänzlich aufgeben oder aber mit mehr Waffenlieferungen an die Ukraine den Druck auf Russland erhöhen. Für welche Option er sich auch entscheidet: Sie wird zu den wichtigsten Faktoren für den weiteren Kriegsverlauf gehören.
Mehr als zwei Jahre hat die Ukraine die USA und weitere Nato-Länder vergeblich um Erlaubnis gebeten, Raketen und Marschflugkörper mit Hunderten Kilometern Reichweite auch in Russland einsetzen zu dürfen. Inzwischen lassen die USA, Grossbritannien und Frankreich das zu – doch, wie Kritiker bemängeln, zu spät: Die meisten Militärflughäfen in Grenznähe liess Russland evakuieren, die meisten gelieferten Flugkörper verschoss die Ukraine in der Zwischenzeit auf eigenem Gebiet.
Zugleich setzte die Ukraine selbst entwickelte Drohnen ein, um Russlands Ölwirtschaft schwere Schläge zu versetzen und grosse Munitionslager zu zerstören. In diesem Jahr sollen 30'000 solcher Drohnen gebaut werden – und, wie die Regierung ankündigte, 3'000 eigene Raketen. Eine Reihe von Modellen hat gegen Jahresende Berichten zufolge Einsatzreife erreicht. Einige Drohnenraketen, neuartige Drohnen mit Jet-Antrieb, sollen trotz niedriger Kosten schon bald in der Lage sein, Moskau zu erreichen.
Parallel dazu arbeitet das Land an einer eigenen ballistischen Rakete, die Selenskyj zufolge erste Flugtests erfolgreich absolviert hat. Eine solche Waffe könnte von Russland nur schwer bekämpft werden und die russische Hauptstadt sowie wichtige Militärziele im Hinterland erstmals seit Kriegsbeginn glaubwürdig bedrohen. Doch dass sie schon dieses Jahr in Massenproduktion gehen kann, ist sehr unwahrscheinlich.
Umfragen zeigen: Die Idee territorialer Zugeständnisse an Russland als Grundlage für Friedensgespräche hat in der Ukraine im dritten Kriegsjahr an Popularität gewonnen. Vor einem Jahr waren 19 Prozent der Bevölkerung dafür aufgeschlossen, inzwischen sind es laut dem Kyjiwer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) 38 Prozent.
Die Bereitschaft, den Krieg «so lange wie nötig» zu ertragen, sank in diesem Zeitraum zudem nach KIIS-Angaben von 73 auf 57 Prozent. Und die Zustimmung zu Szenarien, in denen das Land alle besetzten Gebiete verliert, aber Sicherheitsgarantien erhält und EU-Mitglied wird, nähert sich einer Mehrheit (hat sie aber noch nicht erreicht).
Konnte Präsident Selenskyj in den ersten beiden Kriegsjahren darauf verweisen, mit dem Ziel der Rückeroberung den Wunsch der Bevölkerung zu repräsentieren, dürfte ihm dieses Argument bald fehlen. Und auch die Popularität des Präsidenten ist im vergangenen Jahr gesunken. Da eine Wahl im Krieg laut Gesetz nicht stattfinden darf, schwächt das auch seine öffentlich wahrgenommene Legitimität.
Vor allem bei den Sicherheitsgarantien dürfte einer der Schlüssel für ein Kriegsende liegen. Ein Nato-Beitritt, den die Ukraine als verlässlichste Abschreckung einer zweiten russischen Invasion betrachtet, wird von dem Bündnis bislang abgelehnt. Für eine zuletzt diskutierte EU-Friedenstruppe zur Absicherung eines Waffenstillstands fehlen bislang die Bereitschaft, das Konzept und das Einverständnis aus Moskau. Und Selenskyj mangelt es für seine Zustimmung zu einem russischen Diktatfrieden inklusive einer Demilitarisierung der Ukraine am Mandat.
Womöglich wird die entscheidende Frage darüber, ob der Krieg in diesem Jahr endet, sein, welche Kosten die Unterstützerländer der Ukraine zu tragen bereit sind, um dem Land eine starke Verhandlungsposition zu ermöglichen. Und welchen Preis sie erwarten, zahlen zu müssen, falls Putin gewinnt.
Wladislaw Surkow gehörte zwischen 2013 und 2020 zu den wichtigsten Beratern Putins. In seiner Zeit im Kreml, wo er schon 1999 stellvertretender Leiter des Präsidentenbüros wurde, galt er als einer der einflussreichsten Personen im Umfeld des russischen Staatschefs.
Kurz vor dem Jahreswechsel schrieb Surkow einen knappen Meinungsbeitrag für den Thinktank Zentrum für politische Konjunktur mit Sitz in Moskau. In dem Text mit dem Titel Parade der Imperialismen bezeichnete er das Minsker Abkommen, das seinerzeit den Donbasskrieg einfror, als «erste Teilung» der Ukraine – und bestätigte somit die Vorwürfe aus Kyjiw, Russland habe das Abkommen schon damals als Zwischenschritt zur Einverleibung des Landes gesehen. Die «zweite Teilung der Ukraine» stehe nun bevor.
In für Vertreter russischer Machtorgane ungewöhnlicher Offenheit gab Surkow westlichen Ukraine-Unterstützern indirekt darin recht, dass ein russischer Sieg Schule machen und expansive Mächte weltweit dazu anstiften wird, ebenfalls mit Gewalt oder deren Androhung Staatsgrenzen zu verschieben. Das sei eine direkte «strategische Folge» des Krieges, schrieb er – und verwies auf die chinesische Taiwan-Politik und die Anspielungen Donald Trumps auf eine künftige US-Kontrolle über den Panamakanal und Grönland. Was Putin stets als «multipolare Weltordnung» bezeichnet, benannte Surkow mit einem eher von Russlandkritikern gebrauchten Begriff: Imperialismus. Frieden sei zwar zu wünschen, aber nicht zu erwarten:
Imperien werden wiedergeboren, und Imperien kollidieren miteinander.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Einige naive Leute im Westen hatten damals ja behauptet, Beute mache Russland friedlich.
Selbstverständlich macht territoriale Beute Russland nicht friedlich. Würde Russland durch Beute friedlich, dann wäre es ungefähr so gross wie Spanien und würde ein Gebiet 500 Kilometer um Moskau herum abdecken. Nix mit Ostsee, nix mit Pazifik, nix mit Schwarzem Meer, nix mit arktischem Meer.
Dies ist nicht womöglich die entscheidende Frage, sondern das ist einzig und allein DIE entscheidende Frage! Der Westen allein hat es in der Hand!