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Rassemblement National: Wenn nicht Le Pen, dann eben Bardella

FILE - French far-right leader Marine Le Pen at the National Assembly, Tuesday, Jan. 14, 2025 in Paris. (AP Photo/Thibault Camus, File)
European Parliament-Le Pen.
Marine Le Pen nach ihrer Verurteilung.Bild: keystone

Rassemblement National: Wenn nicht Le Pen, dann eben Bardella

Marine Le Pen ruft zum Protest gegen ihr Urteil auf. Viele fürchten, dass sie sich jetzt als Märtyrerin geriert. Doch dafür braucht sie auch ihre Wähler. Machen die mit?
03.04.2025, 22:5303.04.2025, 23:14
Annika Joeres, Theo Giacometti / Zeit Online
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Wenige Stunden nach der Verurteilung von Marine Le Pen sitzt eine ihrer Anhängerinnen gelassen vor ihrem Haus im südfranzösischen Falicon. Unter einer Pergola, umrankt von lilafarbenen Bougainvillea-Blüten, raucht die Rentnerin eine Zigarette. Die Frau mit dem graublonden Pagenkopf sieht den juristischen Schlag gegen Le Pen pragmatisch. Sie freue sich stattdessen auf einen Präsidenten Jordan Bardella, den Vorsitzenden der Le-Pen-Partei Rassemblement National. «Jordan», sagt sie, «hat mehr Mitgefühl als Marine.» Sie fühle sich ihm näher und glaubt, dass auch die Jugend ihn lieben werde.

Ob Le Pen zu hart verurteilt wurde, möchte sie nicht beantworten. Wahrscheinlich habe Marine sich ja auch etwas zuschulden kommen lassen, meint sie. «Es gibt keinen Rauch ohne Feuer.» Marine habe gezockt und verloren, sagt die Rentnerin in Falicon, die anonym bleiben will. Sie arbeite mit ausländischen Sommertouristen, die empfindlich auf Le Pen reagieren würden.

Falicon, ein Dorf mit steinernen Treppen, Lavendelbüschen und historischen Plätzen, liegt 300 Meter über Nizza. Von seinen vielen Villen aus kann man das Mittelmeer sehen. Falicon ist einer der teuersten Orte an der Côte d'Azur. Viele seiner Bewohner haben hoch bezahlte Jobs in Monaco oder in den Unternehmen und Forschungszentren des Technologieparks Sophia Antipolis nahe Antibes. Jeden Morgen stauen sich hier die Mitarbeiter auf dem Weg zu ihrer Arbeit.

Früher war Jean-Marie Le Pen, der verstorbene Parteigründer und Vater von Marine, hier nicht willkommen. Bei seinem Besuch vor vielen Jahren bewarfen ihn Schulkinder aus dem Gebüsch heraus mit Kieselsteinen, erzählen die Einwohner heute. Im vergangenen Jahr wählten sie hier einen Abgeordneten, der mit einigen anderen Konservativen zuvor zu Le Pen übergelaufen war. Das sei ein taktischer Unfall gewesen, sagen einige Rentner, die im Dorfcafé Cappuccino trinken. Sie seien eigentlich kein rechtsextremes Dorf. «Wir leben sehr gut hier», sagen sie. Und das solle auch so bleiben.

Sie sind überzeugt, dass Le Pen es irgendwie schaffen wird, doch noch zu kandidieren. Schliesslich sei sie Juristin und mit allen Wassern gewaschen. Sie könnten womöglich recht behalten: Wenige Stunden nach dem Gespräch erklärt das zuständige Pariser Gericht, eine Entscheidung über die Berufungsanträge bis Sommer 2026 anzustreben – damit bliebe Le Pen genügend Zeit, um für die Präsidentschaftswahlen ein Jahr später zu kandidieren. Vorausgesetzt, sie gewinnt die Berufung.

epa12004771 Jordan Bardella, Chair of the Patriots for Europe Group and Leader of France's National Rally (RN), at the European Parliament in Strasbourg, France, 02 April 2025. The EU Parliament& ...
Jordan Bardella, der Ziehnsohn von Marine Le Pen. Bild: keystone

Falls nicht, könne auch Jordan Bardella, ihr Ziehsohn, das höchste Amt ausfüllen, so der Tenor auf den Strassen von Falicon und Nizza. Die meisten sind optimistisch, den Rassemblement National auch ohne seine historische Kultfigur an die Macht zu bringen. Auch ein zweites, juristisch mögliches Gedankenspiel, ist oft zu hören: Le Pen könnte zur Premierministerin ernannt werden. Von einem möglichen Präsidenten Bardella.

Bei den Europawahlen 2024 führte er die RN-Liste an und erzielte mit über 31 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis aller französischen Parteien – es löste letztlich die Neuwahlen im vergangenen Sommer aus. Insbesondere Jugendliche kommen zu seinen Veranstaltungen, Millionen folgen ihm auf TikTok. Wie Le Pen ruft Bardella «alle patriotischen Wähler» dazu auf, am Sonntag demonstrieren zu gehen. Dass er trotz seiner 29 Jahre Frankreich regieren könnte, stellen die Le-Pen-Anhänger nicht infrage.

Die entspannte Stimmung im Dorf Falicon spiegelt sich auch in landesweiten Umfragen wider: Rund 70 Prozent der Le-Pen-Anhänger geben an, das Urteil sei kein Handicap für den Rassemblement National. Jordan Bardella könnte sogar ein Trumpf sein, weil er den RN vom negativen Ruf der Le-Pen-Familie befreien könnte. Schliesslich wurde die Partei von Le Pens Vater gegründet, einem Kriegsverbrecher und mehrfach verurteilten Antisemiten.

Falicon steht stellvertretend für die wohlhabende Anhängerschaft Le Pens in Südfrankreich. Im Norden wählen vornehmlich Personen aus Arbeiterstädten mit geringem Einkommen rechtsextrem. Doch im Süden sind es die wohlhabenden, bürgerlichen Viertel nahe der italienischen Grenze, in denen man bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen lieber Le Pen als den Amtsträger Emmanuel Macron an der Spitze des Staates sehen wollte.

Seit Éric Ciotti, ein regional bekannter, rechtspopulistischer Konservativer vor den Parlamentswahlen mit Marine Le Pen paktierte, fallen den Rechtsextremen noch mehr Wahlbezirke zu: Das Duo Ciotti–Le Pen erreichte etwa Mehrheiten auf der luxuriösen Halbinsel Saint-Jean-Cap-Ferrat oder dem monegassischen Vorort Cap d'Ail.

epa05270142 Picture taken on 15 March 2016 of a general view of the port of Nice, France, also known as Lympia port. Nice, one of France's most popular tourist destinations, is called Nice la Bel ...
Der Hafen von Nizza.Bild: EPA

Wer von Falicon aus eine halbe Stunde über kurvige Strassen nach Nizza herabfährt, verlässt die wohlhabende Wählerschaft und nähert sich den ärmeren Vierteln der fünftgrössten Stadt Frankreichs. Hier wählte man früher kommunistisch und sozialdemokratisch, heute sind hier mehrheitlich Anhänger von Le Pen. Hier wohnen meistens diejenigen, die morgens mit der Tram oder dem Bus zu den Hotels an der Meerespromenade fahren, um dort die Zimmer zu putzen oder in der Küche der zahlreichen Restaurants zu arbeiten.

Gwenaëlle aus Nizza verlässt an diesem Nachmittag gerade die Metzgerei, in der sie seit fünf Uhr morgens Schinken geschnitten, Puten gesäubert und den Boden geschrubbt hat. Vor Ostern gibt es besonders viel zu tun, sie arbeitet 60 Stunden in der Woche, erzählt die Mittzwanzigerin. Sie habe nur «nebenbei» gehört, dass Le Pen verurteilt wurde. Was sie sehr schade findet. «Ob das mal alles wahr ist, was man ihr vorwirft», sagt die Metzgerin – obwohl selbst Le Pen ihren Betrug nicht leugnete und nur damit entschuldigte, dass viele EU-Abgeordnete ähnlich handelten.

Gwenaëlle hofft, Le Pen wird sich als Präsidentin um sie und ihre Wohnung kümmern: Seit Monaten suche sie verzweifelt, aber mit ihrem Gehalt sei es im reichen Nizza unmöglich, etwas Passendes zu finden. Zu viele Ausländer, die mit Airbnbs und Ferienwohnungen den Markt leer räumten.

Deshalb lebt sie weiterhin auf 30 Quadratmetern, für 800 Euro monatlich, mit Schimmel an den Wänden, direkt an einer der lauten Einfallstrassen. Sicher, die Linken würden vielleicht die Autos verbieten, und dann hätte sie es leiser, vermutet sie. Aber noch besser sei eine neue Wohnung. Auch Bardella mag sie, selbst wenn er in seinen jungen Jahren noch nicht gearbeitet habe.

Tatsächlich wissen nur wenige der angesprochenen Menschen, warum Le Pen überhaupt verurteilt wurde. Dass ausgerechnet diejenige, die alle etablierten Parteien als korrupt darstellte und eine neue, «saubere» Politik versprach, über mehr als ein Jahrzehnt lang Millionen Euro an Steuergeldern entwendet hat, um sie für ihre eigenen Interessen, ihre eigene Partei zu verwenden. Ausgerechnet diejenige, die früher vorbestrafte Politiker lebenslang von der Politik ausschliessen wollte.

Was bleibt, ist bei vielen ein Gefühl von tous pourris – ein französischer Slogan, den Le Pen selbst nutzte und der besagt: Alle Politiker sind verdorben und korrupt.

Daher hat das Urteil bei manchen auch eine positive Wirkung: Es gibt ihnen wieder Hoffnung in die Justiz und den Rechtsstaat. Da ist zum Beispiel die Studentin Laura, die froh darüber ist, dass niemand über dem Gesetz stehe und dass auch politische «Urgesteine» wie Le Pen oder, wie kürzlich, der frühere Präsident Nicolas Sarkozy verurteilt würden.

Jetzt auf

Cyril Félix zählt auch zu denen, die «neues Vertrauen finden». Der 42-Jährige behauptet erst, nichts mit der Politik zu tun haben zu wollen – kennt aber alle Details des Prozesses und der Politik der vergangenen Jahre. Er hält Bardella für einen «Clown», der genauso antisemitisch sei wie die gesamte Partei von Marine Le Pen.

«Sie hat Geld geklaut, obwohl sie selbst reich ist und immer einen prächtig gefüllten Kühlschrank hat.»

«Nun bekommt sie ihre gerechte Strafe», sagt er zufrieden. Ihm steigen Tränen in die Augen. Er habe es schwer im Leben, erzählt Felix. Er müsse billige Lebensmittel kaufen, suche Arbeit und mache Gelegenheitsjobs. Und natürlich habe auch er für seine Fehler büssen müssen, in seiner Jugend etwa sei er betrunken Auto gefahren. Le Pens Strafe findet er vergleichsweise harmlos. Sie müsse nicht einmal ins Gefängnis, zu all den Kleinkriminellen.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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