Es gibt für amerikanische Navy-Soldaten einen besonders drastischen Ausbildungsgang. Er heisst SERE (Survival, Evasion, Resistance, Escape) und bringt ihnen bei, wie man sich in Kriegsgefangenschaft und Folter nicht brechen lässt. Der Soundtrack von SERE heisst «Boots», ein Gedicht von Rudyard Kipling («Das Dschungelbuch») über britische Soldaten, die im Zweiten Burenkrieg zunehmend orientierungslos durch Afrika marschierten und nichts mehr sahen oder hörten als die Stiefeltritte ihrer Vordermänner.
Es ist ein monotones, unheimliches, verzweifeltes, sich eklig im Kopf festkrallendes Gedicht über einen Mann, für den es kein Entkommen aus seinem Trupp und dem Krieg gibt und der darüber den Verstand verliert. Wer SERE absolviert, hört eine Vertonung von «Boots» aus dem Jahr 1915 in Endlosschlaufe. Er hört sie, während er in einer winzigen Zelle eingesperrt ist. Während er geschlagen wird. Während er Waterboarding «üben» muss. «Boots» ist der Folter-Trauma-Sound schlechthin.
Der britische Regisseur Danny Boyle hat nun genau diese alte Aufnahme für «28 Years Later» gewählt. Immer und immer und immer wieder hören wir das «Boots – Boots – Boots – Boots» des längst verstorbenen Schauspielers Taylor Holmes. Hören seine in einem geisterhaften Knistern eingelegte Stimme, die zunehmend verstört klingt. Eine Einbahnstrasse in den Wahnsinn.
Bei Boyle sind alle irre. Einerseits die «Infizierten», jene Spezial-Zombies, die Boyle und sein Drehbuchautor Alex Garland 2002 in «28 Days Later» erfunden hatten: Von dem sogenannten «Wut-Virus» infizierte Menschen, die sich in menschenfressende Monster verwandeln und im Gegensatz zum klassischen Trottel-Zombie wahnsinnig schnell sind.
Nicht minder irre sind jedoch die anderen, die Menschen, die den Infizierten Widerstand leisten. Sie sind ein unsympathisches, sektenartiges Völkchen auf einer kleinen Insel, sind unfassbar rückständige (und recht komische) Selbstversorger mit einem deplorablen Schul- und Gesundheitssystem (ein Zaunpfahlwink ans heutige Grossbritannien). Sie haben sich vollkommen abgeschottet, nur manchmal gehen sie bei Ebbe über einen Damm aufs britische Festland und absolvieren Initiationsriten und Mutproben und erlegen mit Pfeil und Bogen ein paar Infizierte oder werden selbst erlegt.
«28 Years Later» ist das Gegenstück zu «28 Days Later» und dem glücklosen, nicht von Boyle und Garland stammenden «28 Weeks Later» (2007). Die beiden Vorgängerfilme spielten in London, der aktuelle auf dem Land und in der Natur. Wir kennen dies ja aus dem echten Leben und von den Pilzseuchen-Zombies aus «The Last of Us»: Nichts Menschliches übertrifft die wuchernde Kreaturenvielfalt der Natur.
Alex Garland («Ex Machina», «Civil War»), der schon in seinem eigenen Endzeitfilm «Annihilation» Blumenmenschen und den magischen «Schimmer» erfunden hatte, bietet nun ein Zombie-Sortiment mit appetitlichen neuen Arten und Fähigkeiten an. Die Infizierten sind quasi fortschrittlich. Und am liebsten nackt. Die Menschen nicht. Mehr sei hier nicht verraten.
Boyle und Garland schliessen sich damit dem modischen Horror-Subgenre Folk-Horror an, ländlicher Isolationismus, archaische Riten und eine abgründige Natur gehören dazu, die Paradebeispiele heissen «Midsommar» und «The Witch». Wenn der Mensch die Ausgeburten der Zivilisation nicht mehr verträgt, sucht er das Böse andernorts.
Boyle mixt viel in seinen Film, immer ploppt noch eine Idee auf, das den Zombies überlassene Festland ist ein Kommentar auf Brexit-Britannien, die zwischen die Handlung gestreuten Schlachtszenen aus einer alten Shakespeare-Verfilmung («Henry V» von und mit Laurence Olivier) sollen die militärische Gleichschaltung von Zombies und Zombie-Jägern kritisieren. Und auch wenn am Ende alles irgendwie unterhaltsam zusammenkommt (es lohnt sich, beim Zuschauen den Namen «Jimmy» im Ohr zu behalten), so ist es doch eine recht holprige Angelegenheit geworden.
«28 Days Later» drehte Boyle einst mit Videokameras, weil diese damals der heisse Scheiss verrückter Auteurs waren – «The Blair Witch Project» war um 2000 ein anderer dieser Videokamera-Klassiker. Jetzt hat er wieder mit einem zeitgemässen Medium gearbeitet – dem iPhone (und ein paar Drohnen). Natürlich nicht nur mit einem, sondern unzähligen, der Effekt ist manchmal verblüffend, manchmal auch einfach lästig überdreht und unscharf, am spektakulärsten sind die Bilder vom Dreh.
Man muss Boyle zugutehalten, dass er immer wieder Schauspieler mit einer Hauptrolle prominent gemacht hat – Ewan McGregor in «Trainspotting», Dev Patel in «Slumdog Millionaire» und eben Cillian Murphy. Sein neuer Überflieger heisst Alfie Williams, ist 14 Jahre alt, und spielt Spike, den Inselbuben, der von seinem Vater (Aaron Taylor-Johnson) mit auf Zombiejagd genommen wird und dabei die Entdeckung macht, dass es auf dem Festland vielleicht eine Möglichkeit gäbe, seine kranke Mutter (Jodie Comer) zu heilen. Er spielt das zwischen Märchentragödie und Huckleberry Finn, ist rührend, cool und schlau, am Ende ist «28 Years Later» vor allem sein ganz grosses Abenteuer.
Und dann ist da noch das äusserst verschrobene Filetstück oder eher der Schädelknochen von «28 Years Later», Ralph Fiennes, der eben noch mit «Conclave» in seinen zweiten Frühling eingebogen ist und jetzt schon wieder einen Film dominiert. Leider muss man 88 Minuten auf ihn warten, dann ist sein Hexenreich der Vernunft inmitten einer völlig morbiden Skelettlandschaft umso grandioser.
Im Sequel «28 Years Later: The Bone Temple» (Regie: Nia DaCosta, Drehbuch: Alex Garland), das nächstes Jahr ins Kino kommen soll, ist Fiennes wieder mit dabei. Wie auch Alfie Williams. Und Cillian Murphy. Oder «Mr. Murphy», wie der anständige kleine Alfie den grossen Kollegen nennt.
«28 Years Later» läuft jetzt im Kino und dauert zwei Stunden.
Habe nicht mehr daran geglaubt, darum sind diese News noch viel besser 😎