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80 Jahre Kriegsende: Deutsche Zeitzeugin erzählt von Kindheit im Krieg

Die Kölnerin Anne Priller-Rauschenberg (im Bild) ist eines der überlebenden Kriegskinder, das mittels der App WDR AR 1933-1945 insbesondere Jugendliche mit eindrucksvollen Erlebnissen hautnah konfront ...
Anne Priller-Rauschenberg erzählt heute von ihren Erlebnissen als deutsches Kind im Zweiten Weltkrieg.Bild: imago-images.de

80 Jahre Kriegsende – Zeitzeugin warnt: «Wer AfD wählt, wählt Putin und Trump»

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Anne Priller-Rauschenberg erzählt, was es heisst, Kind im Krieg zu sein. Heute sagt sie: Wer die AfD wählt, hat aus der Geschichte nichts gelernt.
08.05.2025, 17:0608.05.2025, 18:06
Sven Fröhlich / watson.de
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Anne Priller-Rauschenberg ist zehn Jahre alt, als die ersten Bomben auf Köln fallen. Ihr älterer Bruder stirbt 1944 als Marinesoldat. Mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern wird sie im Herbst 1944 ins sächsische Paupitzsch zwangsevakuiert. Dort erlebt sie das Kriegsende.

Heute, 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, setzt sich Priller-Rauschenberg dafür ein, dass die Gräuel des Nationalsozialismus nicht vergessen werden.

In der Augmented-Reality-App «Zeitzeugen 1945» des WDR (siehe Quellen) erzählt sie – gemeinsam mit anderen Überlebenden – von Hunger, Angst und Neuanfang. Ihre Erinnerungen erscheinen als virtuelle Figuren im Raum und werden so Teil des Schulunterrichts. «Weil das nie vergessen werden darf», sagt sie.

Das Interview

Frau Priller, was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?
Anne Priller-Rauschenberg:
Dass ich von Russen nach dem Krieg auf der Flucht erschossen werden sollte.​

Wie ist es dazu gekommen?
Während des Krieges wurden wir nach Leipzig evakuiert. Als es dann vorbei war, wollten wir sofort wieder nach Hause, wir mussten aber bleiben, bis die Zonen aufgeteilt wurden.

Sie waren in der russischen Zone.
Wir haben uns dann in die Schlange gestellt, um nach Hause zu kommen. Vier Wochen waren wir unterwegs, alles zu Fuss, ohne Essen und Trinken. Von den Russen wurden wir über Umwege durch Sachsen, Thüringen und den Harz getrieben. Auf einer Anhöhe empfing uns ein Mann, der sagte, wir sollten alles liegen lassen. Dann sollten wir den Zaun hoch, vier Meter, oben Stacheldraht. Sonst wären wir erschossen worden. Wie wir den Zaun hochgekommen sind, weiss ich nicht mehr.

In der WDR-App "Zeitzeugen 1945" erzählen Überlebende ihre Geschichte.
In der WDR-App «Zeitzeugen 1945» erzählen Überlebende ihre Geschichte.Bild: WDR

Waren Sie dann in Sicherheit?
Unsere ganze Kleidung war zerrissen. Wir sind durch Morast gewatet, es war stockdunkel, irgendwann konnten wir nicht mehr. Meine Mutter hat sich in einen Graben gelegt, und ich mich auf sie. Sie hat immer nach meinem Vater gerufen, der ist uns abhandengekommen. «Mama, sei ruhig, sonst werden wir erschossen», habe ich ihr ins Ohr geflüstert. «Da kommt eine Kolonne, das sind nicht Amerikaner, das sind Russen.» Ich musste ihr den Mund zuhalten. Als es morgen hell wurde, sahen wir vor uns die Chaussee, dahinter ein Graben. Das war die britische Zone.

Gibt es Momente, die Sie heute noch in den Krieg zurückversetzen?
Wenn ich schlafen gehe, muss ich manchmal an die Züge denken. In Köln musste man nach dem Krieg Kohle klauen. Ich bin auf die Waggons geklettert, beim Güterbahnhof in Mülheim. Neben uns fuhren die Züge hin und her, und wir waren mittendrin. Das war unser Alltag. Wenn ich heute daran denke, bin ich nassgeschwitzt.

Wie oft denken Sie noch an den Krieg?
Jeden Tag, wenn ich frühstücke und eine Schnitte Brot vor mir habe. Wir hatten bis zur Währungsreform 1948 zum Teil nur eine Scheibe Maisbrot am Tag. Ich habe noch nie Brot oder Gemüse oder irgendwas weggeschmissen. Das könnte ich gar nicht.

Gab es etwas, das Ihnen in der Zeit Halt gegeben hat?
Als wir im Keller waren, hatte ich immer meine Mundharmonika und meinen Malblock dabei. So habe ich das Schlimme wohl verarbeitet. Ich spiele auch heute noch Mundharmonika, ganz leise.

Hatten Sie eine Jugend?
Als ich in der Schule war, hat mich das mal ein Abiturient gefragt, ob ich eine Jugend hatte. Nein, habe ich gesagt. Als sie begann, war sie vorbei. Schon vor dem Krieg fing das ja alles an. Da wurden die Leute getrieben und verhaftet und mitgenommen.

Gab es einen Moment, an dem Sie gemerkt haben, dass sich grundlegend etwas verändert?
Ich bin mit meiner Mutter in Mülheim durch die Buchheimer Strasse gegangen. Da war ein Schuhgeschäft, das hiess Schild, von einem Juden. Dort haben wir immer Schuhe gekauft. Zur Kommunionszeit hat der Besitzer immer der Kirche Schuhe und Strümpfe gestiftet. Nach den Novemberpogromen 1938 kamen wir vorbei, da lag alles zertrümmert vor dem Haus und auf der Strasse.

Wie haben Sie reagiert?
Ich war ein ordentliches Kind und wollte die Strümpfe aufheben. Da kam ein Schupo (Schutzpolizei, d. Red.), stampfte mit dem Fuss auf und sagte, alles muss liegen bleiben.

Hatten Sie solche Erlebnisse auch in Ihrem persönlichen Umfeld?
Meine Eltern hatten Bekannte, ein jüdisches Ehepaar. Meine Mutter hat nach den Pogromen zu der Frau, Heiman hiess sie, gesagt: «Sehen Sie zu, dass Sie aus Deutschland rauskommen.» Sie sind dann nach England gegangen. Nach dem Krieg kam uns Frau Heiman in Köln mit ausgebreiteten Armen entgegen und sagte: «Frau Rauschenberg, wir leben noch. Wir sind jetzt wieder Zuhause.»

War Ihre Mutter eine mutige Frau?
Meine Mutter hatte eine polnische Freundin aus dem Kindergarten. Sie lebte im damaligen Korridor, der später polnisch geworden ist, und ist dann nach Köln gekommen. Mit dieser Freundin hat sie den Kontakt gehalten, obwohl darauf die Todesstrafe stand. Man durfte keinen Kontakt mit dem Feind haben. Meine Mutter hat gesagt: «Ich lass mir das von keinem verbieten.» Den Kontakt hat sie aufrechterhalten. Ich hab die Briefe immer zur Post gebracht. Die Freundin schrieb auf Deutsch, meine Mutter auf Polnisch. Die Briefe habe ich heute noch.

Anne Priller-Rauschenberg, 1930 in Köln geboren, wächst mit zwei Brüdern und einer Schwester in Köln-Mülheim auf. Als sie zehn Jahre alt ist, fallen die ersten Bomben.
Anne Priller-Rauschenberg, 1930 in Köln geboren, wächst mit zwei Brüdern und einer Schwester in Köln-Mülheim auf. Als sie zehn Jahre alt ist, fallen die ersten Bomben. Nach dem Krieg heiratet sie, bekommt zwei Töchter und baut mit ihrer Schwester eine Bekleidungsfirma auf.Bild: imago-images.de

Erinnern Sie sich an das Gefühl, als der Krieg vorbei war?
Wir waren in Sachsen und standen am Fenster, ich hatte meinen Vater fest an der Hand. Von links sahen wir die Amerikaner kommen mit ihren Panzern, davor war eine Kolonne Hitlerjungen. Die Amerikaner waren ängstlich. Die dachten, wenn etwas passiert, trifft es zuerst die Kinder. Von rechts kamen die Panjewagen der Russen. Da habe ich gesagt: «Papa, Gott sei Dank, dass wir den Krieg verloren haben.»

«Ich kann sagen, wer AfD wählt, wählt Putin und Trump.»

Auch heute sind rechtsextremistische Parteien wieder auf dem Vormarsch. Wie nehmen Sie die Entwicklung wahr?
Als ich gehört habe, dass so viele die AfD wählen, dachte ich, jetzt werden wir dasselbe wieder in Grün erleben. Aus diesem Grund muss ich das machen und weitergeben: Dass die jungen Leute aufgeklärt sind und den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur sehen. In der Diktatur war man nicht frei. Meine Eltern wollten nicht, dass wir Uniform tragen, deshalb mussten wir zur Schande immer am Ende des Zugs marschieren. Einmal sind wir an einer Wiese vorbeigekommen, da bin ich ausgeschert. Ich dachte mir: Warum sollte ich marschieren, ich will doch die Blumen pflücken. Da wurde ich von der Leiterin fertig gemacht.

Wenn Sie heute mit jungen Menschen über den Krieg reden, welche Rückmeldung bekommen Sie?
Ich war in sieben Schulen. Von dem Lehrpersonal wurde mir gesagt, dass die Schüler sonst nie so still zuhören würden. Mich hat es erstaunt, dass auch Schüler mit Migrationshintergrund so viele Fragen hatten. Die Lehrer meinten, die hören zu und fragen, weil sie erstaunt sind, dass es das bei uns auch gab. Nicht nur bei ihnen, die selbst wegen des Kriegs nach Deutschland kamen. Ich habe einen ganzen Stapel Dankesbriefe von den Schülern.

Was gibt Ihnen Hoffnung?
Die Hoffnung kann man verlieren. Ich kann ja nichts ändern. Es sind die Mächtigen, die das Sagen haben, ich habe da keinen Einfluss drauf. Ich kann nur beten, dass eine Wende kommt. Bei Trump beispielsweise demonstrieren jetzt manche gegen ihn, die ihn davor noch gewählt haben. Was alles umgestellt wurde, haben sie nicht für möglich gehalten. Genau wie in Hitler-Zeiten.

Sie haben keine Hoffnung?
Ändern kann ich nichts, ich kann mich nur unterhalten, auch mit jungen Leuten. Ich kann sagen, seid achtsam, überlegt erst und macht euch schlau. Ich kann erklären, was ich erlebt habe, und was daraus geschehen kann. Ich kann sagen, wer AfD wählt, wählt Putin und Trump.

Sie haben über sich gesagt, sie hatten ein glückliches Leben. Wie schaffen Sie es, zuversichtlich zu bleiben?
Wir haben gesagt, wir leben noch. Ich weiss mein Leben zu schätzen. Ich sage mir jeden Morgen beim Aufstehen: Ich bin glücklich und zufrieden, ich habe ein schönes Leben. Ich bin gesund. Habe überhaupt keine Beschwerden, ich nehme keine Tabletten, gar nichts. Der Krieg hat uns stark gemacht. Nur das noch einmal erleben möchte ich keineswegs. Ich bin sieben Tode gestorben, der letzte wird nicht der Schlimmste sein.

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Im deutschen Bundestag rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dazu auf, an den Lehren aus dem Krieg und der NS-Diktatur konsequent festzuhalten. Israels Staatspräsident Izchak Herzog sprach in Jerusalem mit Blick auf den 8. Mai 1945 von einem «Sieg des Guten über das Böse».

Steinmeier warnte in der Gedenkstunde vor Abschottung, aggressivem Nationalismus und der Verachtung von demokratischen Institutionen. «So haben wir in Deutschland schon einmal die Demokratie verloren», sagte er. «Stehen wir ein für unsere Werte. Erstarren wir jetzt nicht in Ängstlichkeit!» (sda)

Quellen

«Mutter, Ehefrau, Kriegskind» – eindrückliche Doku aus dem Jahr 2021

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quelle: dpa dpa-zentralbild / z5466/_britta pedersen
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Tsherish De Love aka Flachzange
08.05.2025 18:11registriert September 2020
Ich hatte liebe Grosstanten, die den Krieg hautnah erlebten. Die den Blitz mitmachen mussten und eine, die das 3. Reich in D erlebte. NIE WIEDER! kann man nicht laut genug rufen. Krieg kennt nur Verlierer.
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Phrosch
08.05.2025 18:59registriert Dezember 2015
Vielen Dank für dieses Interview. Es leben nicht mehr viele Leute, die all das erlebt haben. Umso wichtiger ist es, sie noch zu hören und auf sie zu hören. Nie wieder ist jetzt, und wir alle tragen Verantwortung, dass dies so ist.
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s'Paddiesli
08.05.2025 18:33registriert Mai 2017
Ich habe auf Arte einen Bericht über das Augmented Reality-Projekt gesehen und finde das eine super Sache, um die Aussagen der letzten Zeitzeugen auf diese interaktive Weise am Leben erhält, zur Aufklärung der heutigen Jungen und auch Erwachsenen.
Toll, trägt sie einen Teil dazu bei, gegen das Vergessen zu kämpfen.
Es ist wichtiger denn je.
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