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Schweiz

Schweiz: Wie Hündeler und Jogger aufeinander Rücksicht nehmen

Passiert mir ständig: Hunde, die zur Seite gepfiffen werden, damit ich ohne Bedenken vorbeirennen kann.
Passiert mir ständig: Hunde, die zur Seite gepfiffen werden, damit ich ohne Bedenken vorbeirennen kann.Bild: Shutterstock
Kommentar

Rücksichtsvolles Verhalten in der Schweiz: Es ist eine wahre Freude

Man liest und hört immer nur das Negative. Doch meine Erfahrung zeigt, dass wir Schweizer und Schweizerinnen sehr rücksichtsvoll miteinander umgehen.
07.11.2024, 18:20
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Rechts über mir hängt eine A380 in der Luft, links unter mir plätschert die Glatt, und vor mir öffnet sich der Schlund einer Autobahnunterführung. Dort taucht nun eine junge Frau mit zwei Hunden auf dem schmalen Weg auf. Ich schätze sie vielleicht 18 Jahre alt. Dem wachen Blick nach schaut sie lieber in die Zukunft als ins Smartphone.

Anyway.

Als sie mich sieht, pfeift sie ihre Hunde zu sich. Die folgen prompt und nehmen Platz neben ihrem Frauchen. Der grössere, ein Riesenvieh, nimmt es etwas gemächlicher – gehorcht aber ebenfalls aufs Wort. Bevor ich vorbeijogge, weiche auch ich aus. Nicht bis hinunter in die Brennnesseln, aber an den gegenüberliegenden Rand des Weges.

Die junge Frau lächelt und nickt zustimmend. Ich versuche dasselbe. Doch wie ich an anderer Stelle bereits einmal erklärte, ist das bei einem Puls über 150 nicht mehr wirklich möglich. Für ein heiseres «Danke!» reicht die Puste aber.

Das genügt – wir verstehen uns: Sie hat dafür gesorgt, dass ich ohne Bedenken an den Tieren vorbeirennen kann. Und ich mit meiner Distanz, dass sich weder Mensch noch Tier in einer Form provoziert fühlen müssen. Konkret: Wir haben gegenseitig kurz aufeinander Rücksicht genommen.

Wie schön ist das denn? Sie würde dazu vermutlich «nice» sagen.

Zwei Menschen verschiedener Generationen, sie sind sich noch nie im Leben begegnet, vermutlich werden sie das auch nie mehr, kreieren aus dem Nichts ein wortloses Zusammenspiel aus Respekt und Achtung. Einmal Bykow/Chomutow auf dem Glatteis des öffentlichen Raumes. Und das nur, weil es beiden wichtig scheint, dass man bei der Ausübung der eigenen Freizeitbeschäftigung andere bei demselben nicht beeinträchtigt. Oder frei nach Kant: Dass die Ausübung der eigenen Freiheiten nicht die Freiheiten anderer einschränkt. Fairplay halt.

Aber das ist doch selbstverständlich!

Jein.

Ja, weil wir eigentlich alle immer so miteinander umgehen sollten.

Nein, weil wir, indem wir solche Gesten als selbstverständlich abtun, ihnen die Magie nehmen. Leichtsinnig wird dabei übersehen, was sich dahinter verbirgt. Und das ist schade.

Der leider zum Grüsel verkommene, aber brillante Komiker Louis C.K. hat zu einem ähnlichen Fall eine hervorragende Analyse: Wie wir uns schlagartig aufregen, wenn unser Smartphone ein Emoji für einmal nicht gleich in Sekundenbruchteilen an den hintersten Zipfel der Welt schickt. Roter Kopf! Wutausbruch! Weltuntergang! Dabei sendet hier ein winziges Hightech-Gerät Daten rund um den Globus, über diverse Stationen, unter dem Meer hindurch, übers Weltall, von Wallisellen bis Okinawa, zu genau dem einen Empfänger, von dem du glaubst, dass sein Leben keinen Sinn mehr ergibt, wenn er nicht sofort dein Kackhaufen-Emoji erhält. Und wir haben noch die Chuzpe, uns aufzuregen, wenn diese komplexen Abläufe nicht sofort funktionieren.

Ähnlich verhält es sich mit der gegenseitigen Rücksicht im öffentlichen Raum. Um diese zu gewährleisten, müssen diverse Bedingungen erfüllt sein: Es beginnt mit der Kinderstube beider Parteien, mit Empathie, mit dem Gefühl für die Situation, einer nötigen Distanz zu sich selbst, einem Wertekatalog, einer gewissen Selbstlosigkeit, dem Erkennen und Respektieren von fremden Bedürfnissen, der Teamfähigkeit, der Energie, letztere auch einzusetzen … und, und, und.

Was passiert, wenn sich zwei Frösche begegnen? Sie stehen sich im Weg, glotzen sich an und lecken sich dann die Augen ab. Irgendwann entscheidet sich der eine, über den anderen zu steigen. Null gegenseitige Rücksichtnahme. Frösche sind dafür zu dumm.

Damit gegenseitige Rücksichtnahme funktioniert, müssen erstaunlich viele Rädchen ineinander greifen. Eines davon, noch nicht einmal erwähnt, ist die Kommunikation.

Wenn ich, ohne mich zu bedanken, einfach an der Hundehalterin vorbeijogge, dann erweckt das denselben arroganten Eindruck, wie wenn sich Mbappé nach einem Tor in der Fankurve feiern lässt, ohne Luka Modrić Wertschätzung zu zeigen, obwohl dieser den Treffer mit einem Zuckerpass vorbereitet hat: Mbappés Jubel wirkt undankbar. Das kommt in meinen Augen übrigens im Fussball deutlich häufiger vor als im Eishockey. Egal. Darum geht es jetzt nicht.

Es geht vielmehr darum, dass diese Form von Ignoranz im Endeffekt dafür sorgen kann, dass solche Gesten zukünftig ausbleiben. Und das wäre wirklich schade.

Denn solche kleinen, zwischenmenschlichen Doppelpässe sind ein echter Genuss. Gerade in Zeiten, in denen so vieles im Argen zu liegen scheint. Es sind Konterargumente gegen die so oft proklamierte Ego-Gesellschaft. Ja, es gibt sie, die anderen. Die, die mit ihrem schicken Business-Täschli im vollen Tram Sitzgelegenheiten zustellen. Die, die im Strassenverkehr drängeln, die Raumidioten. Aber das ist in der Schweiz eine klare Minderheit.

Ich bin an weit über 1000 Hundehalterinnen und Hundehalter vorbeigerannt. Das ist ein Datensatz – nicht bloss anekdotische Evidenz. So viele davon bemühen sich aktiv um eine friedliche Koexistenz. Shout-out an alle HundehalterInnen in Oerlikon, Schwamendingen, Dübendorf, Fällanden, Opfikon, Glattbrugg und Kloten – ich kann nur für euch reden. Aber ihr macht es wirklich sensationell. Aber ich habe die Vermutung, dass es in der gesamten Schweiz so gut funktioniert.

Und es endet gottlob nicht bei den Hündelern. Es geht weiter mit den Menschen, die ihren Sitzplatz frei machen im Tram, wenn eine schwangere oder ältere Person sich nähert, mit den Menschen, die ihre Taschen auf die Knie legen in den ÖV, und, Hand aufs Herz, den VerkehrsteilnehmerInnen, die freundlich lächelnd Handzeichen geben, statt zu fluchen. Wenn man genau hinschaut, leben in der Schweiz lauter kleine Keanu Reeves. Sie sind unter uns. Und, das behaupte ich jetzt einfach mal nicht ohne Stolz in der Brust: Sie sind die Mehrheit.

keanu reeves meme

https://www.reddit.com/r/Funnypics/comments/rukcjj/sad_keanu_reeves/
Bekannt für seine rücksichtsvolle Art: Hollywood-Superstar Keanu Reeves.Bild: reddit

Stilles Indiz für meine These ist auch die viel besungene Sauberkeit in der Schweiz – unerreicht innerhalb von Europa. Das geht nur, wenn die grosse Mehrheit mitspielt. Dazu gehört das Aufsammeln der Hundehaufen. Während ich hier beim Joggen unbeschwert die Landschaft geniessen kann, muss ich in Frankreich stets auf den Boden starren, um nicht in eine Tretmine zu stehen.

Und dann gibt es hierzulande auch noch die Exemplare, die sich auch in öffentlichen Klos nicht zu schade sind, zur WC-Bürste zu greifen. Das sind die Extremsportlerinnen und -Sportler des gepflegten Zusammenlebens. Gewinnen können sie nichts, nicht einmal ein heiseres «Danke». Und doch riskieren sie fast alles. Einfach nur aus Rücksicht.

Scheisse, wenn man es so betrachtet, sind wir wirklich ein rücksichtsvolles kleines Völkchen. Man darf nur die Augen davor nicht verschliessen. Rücksichtnahme als simple Gegebenheit abzukanzeln, wäre ein verschossener Elfmeter. Denn sie zu erleben – und zu beobachten – ist echt herzerwärmend.

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195 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Tsherish De Love aka Flachzange
07.11.2024 18:31registriert September 2020
Mein Mami sagte mir sls kleiner Junge immer: „sei anständig, freundlich, rücksichtsvoll und ein Gentleman, auch wenn andere sich wie Rüpel verhalten.“

Damit fahre ich bis heute ziemlich gut.
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Eisvogel
07.11.2024 18:43registriert Februar 2019
Meine Erfahrungen gehen in die gleiche Richtung. Jemand braucht Hilfe? Sofort sind Menschen da, sei es im Bus oder auf der Strasse, die fragen, ob sie helfen können oder, wenn nötig gleich eingreifen. Jemandem ist die Krücke runtergefallen? Gleich zwei wollen die Krücke vom Boden aufheben. Ich habe zahllose Beispiele und es ist wichtig, die Aufmerksamkeit mal darauf zu richten.
Merci Patrick Toggweiler!
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Waldorf
07.11.2024 19:21registriert Juli 2021
Ich entschuldige mich für den rauhen Umgang meinerseits hier in der Kommentarspalte. Es war eine etwas anstrengende Zeit in der politischen Auseinandersetzung. Ich werde mich darum bemühen, in Zukunft sachlicher zu argumentieren, lasse es mir dennoch nicht nehmen, Unterstützer von Despoten, Faschisten, Sexisten und Verbrechern freundlich darauf hinzuweisen, dass dies nicht den Werten und Gepflogenheiten unserer Gemeinschaft entspricht.
LG, Waldi
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