Als ich vor über 20 Jahren damit begann, Motorrad zu fahren, wurde ich von einem Freund in die Codes, Regeln und Gepflogenheiten der Töffszene eingeführt. Dazu gehörten unter anderem die Grussregeln: Als Motorradfahrer grüsst man nur seinesgleichen. Fahrer kleiner 125er, von Harleys oder Rollern werden ignoriert. Die Harley-Typen wiederum grüssen nur ihresgleichen. Wie es die Rollerfahrer handhaben, weiss ich nicht. In der Hackordnung der motorisierten Zweiradfahrer parkieren sie ganz unten in der Tiefgarage.
Doch wer hätte gedacht, dass die Grüsserei unter Joggern noch weit komplexer ist? Zwar weniger offizialisiert, aber genauso perfid?
Ja, ich jogge. Und das pruste ich nicht voller Stolz heraus. Es ist vielmehr ein schamvolles Zugeben. Jahrelang gehörte ich zur Fraktion, welche Jogger belächelte, welche mit einem Bier in der Hand vom Balkon aus mitleidig zuschaute, wie sich die Halbaffen unter mir vorbeiquälten. Cardio. Pfff. Habe ich doch nicht nötig.
Bis der Tag kam, an dem ich es nötig hatte. Bitter nötig.
In wenigen Tagen werde ich 47 Jahre alt. Das Alter schützt bekanntlich vor Torheit nicht: Noch immer glaube ich, mit U30ern Fussball spielen zu können. Natürlich belüge ich mich damit selbst. Aber nach ein paar unterirdischen Saisons hat es immerhin zur Erkenntnis gereicht, dass ich etwas ändern muss: Ich musste fitter werden.
Deshalb bestellte ich heimlich Joggingschuhe und betrat unbekanntes Terrain. Alleine. Ohne Freund, der mich über die Dos und Don'ts aufklärte. Ich musste diese am eigenen Leib erfahren.
In meiner absoluten Jogging-Naivität grüsste ich während meiner Runden zu Beginn sämtliche Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Warum? Ich weiss es nicht. Ist doch nett. Vielleicht trieb mich mein schlechtes Gewissen dazu an, vielleicht wollte ich Busse tun, mich entschuldigen dafür, dass ich Jogger jahrelang belächelte.
Dass ich mit meiner Grussorgie komplett daneben lag, erfuhr ich ziemlich schnell – und die erste Lektion folgte auf dem Fuss: Eine Joggerin geriet ob meiner Geste so sehr in Schrecken, dass sie beinahe in die Glatt fiel.
Im Nachhinein muss ich gestehen, dass ich hätte antizipieren können, dass eine schmale und düstere Autobahnunterführung mit einem Wasserkanal nicht der richtige Ort ist, um einer vorbeirennenden Dame mit einer ruckartigen Handbewegung zu begegnen.
Lektion gelernt. Joggende Frauen werden nicht mehr gegrüsst. Zumal der Interpretationsspielraum eines banalen Grusses – auch darauf hätte ich Dummerchen kommen müssen – sowieso viel zu gross, und damit unzeitgemäss, ist. Denn genau da drückt der Schuh.
Wir leben in einer Epoche, in der von den Kommunizierenden erwartet wird, dass sie den gesamten Strauss an möglichen Lesarten einer Message erst antizipieren, dann reflektieren, um ihre Ausdrucksweise dann so zu präzisieren, dass sämtliche unerwünschte Interpretationen im Keim erstickt werden. Oder in anderen Worten: Es ist ein überreflektierter Kommunikationskrampf. Das ist per se nichts Schlechtes. Rücksicht zu nehmen, ist nicht falsch. Aber es verhindert halt auch.
Und genau deshalb grüsse ich keine dicken Jogger mehr.
Zu viele der möglichen Lesarten gehen in die Richtung: «Gut gemacht, Specki. Endlich tust du mal was für deine Form. Yay!»
Ich will kein Mitleid vermitteln. Ich will auch keine Überheblichkeit vermitteln. Ich stelle mich nicht über dicke Jogger und will auch nicht, dass sie von mir glauben, dass ich das tun würde. Die Krux ist nur: Ich weiss nicht, wie ich meinen Gruss so pimpen könnte, damit er eben nicht so gelesen werden kann.
Viel Spielraum gibt es nicht … vielleicht mit einem raffinierten Gesichtsausdruck. Aber während ich jogge, man möge es mir verzeihen, bleibt mein Mimikgame auf der Strecke. Ab 9 km/h sehe ich aus wie die sabbernde Dogge aus «Scott and Hooch». Nein. Es tut mir leid. Die einzige Lösung ist die Ultima Ratio: Der Gruss bleibt aus.
Nun kann man natürlich argumentieren, dass es grundsätzlich eine blöde Idee ist, Leute beim Joggen zu grüssen.
Man kann. Aber falscher könnte man damit nicht liegen.
Denn sehr häufig werde ich äusserst freundlich zurückgrüsst. Wenn sich die Blicke aus den verquollenen Augen kurz treffen, beide krampfhaft versuchen, zu lächeln, entsteht ein kurzer Moment von Magie, da offenbaren zwei Menschen für ein paar Millisekunden ihre Verletzlichkeit. Man versteht sich. So wie man sich nur unter Leidensgenossen versteht. Wir machen gerade dasselbe durch, sitzen im selben, für die meisten doch recht unbequemen, Boot. Das verbindet, wühlt kurz auf, nur um danach wieder der wohligen Einsamkeit Platz zu machen, die viele Jogger so lieben.
Solche Momente sind kleine, aber feine Lichtblicke während eines düsteren Herbsttages – in der Qualität nicht zu vergleichen mit einem beliebigen Töffgruss. Und manchmal hallen diese Momente auch etwas länger nach.
An meinen letzten Lauf erinnere ich mich beispielswesie nur noch sporadisch, aber an den Typen im blauen Trainingsanzug (mit langen Hosen, Jesus, warum?) noch sehr gut. Wir begegneten uns zweimal. Auf dem Rückweg mussten wir beide, so gut es ging, ein wenig lachen. Vielleicht lag der Ursprung seines Amüsements auch in meiner Edgar-Davids-Sportbrille ... ich sage Edgar Davids. Meine Kinder nennen mich damit «Minion».
Egal. Sich zu grüssen während des Joggens wäre nett.
Übersensibilität! Ein Vorwurf, den ich so zwar noch nie gehört habe, aber vielleicht liegt es ja daran ..., dass ich mir dazu einfach zu viele Gedanken mache. Bin ich zu überkandidelt?
Ha! Weit gefehlt! Denn ich bin nicht alleine. Es ist ein Massenphänomen.
Warum ich das weiss?
Meine fast 100 Kilo haben sich zwar deutlich verringert, aber mit einem BMI von 26 gehöre ich immer noch zur Gruppe der Übergewichtigen. Und wenn mich dann so ein Profijogger kreuzt, ein Lauch mit Running-Socken und Power-Gels im Umschnallbeutel, einer, der mit einer Leichtfüssigkeit über das Terrain federt wie Legolas über den Schnee – so ein Joggingelf. Meinst du, der würde mich grüssen? Natürlich nicht.
Kam noch nie vor. Nie. Wirklich. Nicht ein einziges Mal.
Im Gegenteil.
Ein Jogger der Sorte starrt an mir vorbei, als wäre ich ein Playmate und er mit der Freundin unterwegs.
Für ihn bin ich der Dicke, der Alte, dem er nicht das Gefühl der Überlegenheit vermitteln, den er nicht mitleidgrüssen möchte. Ich sag's euch, it's a thing! Aus reiner Höflichkeit grüssen auch Jogger nur ihresgleichen: gleichgeschlechtliche Menschen, im selben Alter – und mit demselben BMI.
Gibt es ähnliche Dynamiken auch beim Radfahren? Oder beim Klettern? Schwimmen? Im Gym? Schreibt es in die Kommentare.
Nur NordicWalker ... Außer sie sind Ü80... werden in Grund und Boden ignoriert... Weil ... NordicWalker halt... "uuh, Jogger!! Pah! Schau her, wir schonen lieber unsere Gelenke"... Jaaa genau und ihr seid langsam und esst während dem "Sport" Kuchen... 🙄 (Letztes mag vielleicht gelogen sein).
PS.: Nicht zu ernst nehmen 😉