Dieser Text liest sich am besten mit der Stimme von Sir David Attenborough im Ohr.
Der Raumidiot (RI), die Raumidiotin (lat.: Spatium stultus) ist eine Spezies, die sich im Schlepptau der Menschheit überall auf der Welt ausgebreitet hat. Wie der Homo sapiens wird sie zur Familie der Menschenaffen gerechnet, gehört aber aufgrund ihres charakteristischen namensgebenden Verhaltens nicht zu den höheren Säugetieren.
Im freien Feld sind Spatii stulti gewöhnlich nicht von Homines sapientes unterscheidbar. Ihre wahre Identität offenbaren sie erst bei engen Platzverhältnissen, wo sie ihre Qualitäten am besten entfalten: Sie verstopfen Durchgänge, blockieren freie Sitzplätze, gehen statt am Rand mitten auf der Schlittelpiste den Hang hoch, bleiben dort sitzen, stehen im Weg.
Ihr Motiv ist immer dasselbe: die Verhinderung einer effizienten und reibungslosen menschlichen Mobilität. Bevorzugte Habitate sind deshalb Einkaufshäuser, öffentliche Verkehrsmittel und andere Orte, wo sich Menschen gern zusammenrotten. Raumidiotinnen und -idioten sind nicht wasserscheu. Deshalb sind Sichtungen in Schwimmbädern keine Seltenheit. Die Faustregel hier: Die Anzahl Raumidioten steigt exponentiell mit der Anzahl Wasserrutschen.
Um sich gebührend zu entfalten, greifen wenig erfahrene Raumidioten und Jungexemplare auf Hilfsmittel wie Koffer, Snowboards, Taschen, Einkaufswagen oder -Körbe zurück. Kapitalen Raumidioten gelingt es hingegen nur mit ihrer körperlichen Präsenz, ganze Hauptschlagadern von Detailhandelsfilialen zu verstopfen.
Ganzjährig aktiv, blühen sie vor allem während der Weihnachtszeit auf. Für eingefleischte Spotter beginnt damit jetzt die aufregendste Zeit des Jahres. Sichtungen können überall und jederzeit erfolgen. Sie sind mitten unter uns.
Neben dem Dauerbrenner öffentliche Verkehrsmittel verweisen erfahrene RI-Spotter immer wieder auf Teeregale im Supermarkt. Das artentypische Manöver «angetäuschter Kaufentscheid» lässt sich dort besonders häufig beobachten. Der Raumidiot imitiert dabei einen Kunden, der sich aus der Distanz zuerst eine Übersicht über das Sortiment macht. Der Homo sapiens (lat. für vernünftiger Mensch) zieht sich dafür zum gegenüberliegenden Regal zurück. Nicht nur an sich selbst denkend, ermöglicht er den anderen Einkaufenden so eine ungestörte Passage. Nicht so der RI. Er positioniert sich breitbeinig mitten zwischen den Regalen, leicht in den Knien wippend, wie ein Boxer im Ring.
In dieser Stellung täuscht er vor, das Regal fokussiert zu scannen. In Tat und Wahrheit richtet er seine Sensorik auf die Bewegungen anderer Einkaufender. Droht ein Mensch ungehindert zu passieren, wirft sich ihm der Raumidiot oder die Raumidiotin katzenartig in den Weg. Versucht der Mensch darauf, hintenrum auszuweichen, mimt der RI Unentschlossenheit – und federt mit flinker Beinarbeit zurück in die Grundposition. Schon wieder steht er im Weg. Erfahrene RIs kommentieren ein solch geglücktes Manöver gern mit Sätzen wie: «Wo isch die huere Hagebutte?» oder «Ich wott kein Bio-My-Happy-Place. Ich wott eifach nume en Tee.»
Vorgetäuschte Ahnungs- und Orientierungslosigkeit haben sich für Raumidioten als probate Mittel erwiesen. Sie erlauben ruckartige, scheinbar zufällige Ausfälle in sämtliche Himmelsrichtungen. Ein erfahrener Raumidiot kann so ein Revier von mehreren Metern Radius abdecken. Vor allem, wenn er noch ein Hilfsmittel zur Verfügung hat. Und die effizienteste Waffe des Raumidioten ist der Einkaufswagen.
Dank seiner steten Verfügbarkeit und einer enormen Vielfalt an Einsatzmöglichkeiten ist der Einkaufswagen der perfekte Begleiter für Raumidiotinnen. Der Klassiker unter den RI-Manövern mit Wagen ist der No-look-you-shall-not-pass. Dabei guckt, stöbert oder schwatzt der oder die Ausführende in die eine Richtung, während der Wagen möglichst weit in die andere Richtung geschoben wird. So werden auch grosszügig bemessene Hauptstrassen beim Detailhändler komplett blockiert.
Subtiler ist der Einsatz im gemischten Doppel. Während die Fähe (weibliche RI) aktiv nach Produkten Ausschau hält, schiebt der Rüde (männlicher RI) den Einkaufswagen vorgeblich gelangweilt hinter ihr her. Doch seine müden Augen täuschen. Zeit (Samstagvormittag) und Ort (Gemüse- und Früchteabteilung) der designierten Blockade sind perfekt gewählt. Mit Mirjam-Ottscher Präzision befördert der RI seinen Einkaufswagen in die neuralgische Zone, wo er zwischen den hartkochenden Kartoffeln und den Rispentomaten diagonal zum Stehen kommt. Der Wagen liegt jetzt shot. Schon nach wenigen Sekunden herrscht in der Gemüseauslage heilloses Durcheinander, unbescholtene Bürgerinnen und Bürger müssen ihre Laufwege neu berechnen. Und schon weint auch das erste Kind. Wieder hat ein Raumidiot seine Fähigkeiten brillant ausgespielt. Ein wahres Wunder der Natur. Und dank Körpereinsatz wird auch noch die einzige funktionierende Waage zugestellt.
Ob so viel Naturgewalt bleibt dem gemeinen Homo sapiens nur das Staunen. Er hat seinen Einkaufswagen diskret am Kopfende einer Kühltruhe parkiert. Press selbstverständlich. Und parallel zur Flussrichtung des Einkaufstroms.
Ist kein Einkaufswagen vorhanden, weicht der Rüde gerne auf sperrige Tragtaschen von Luxusboutiquen aus. Diese trägt er scheindevot hinter der Fähe durchs Fashion Outlet. Ja, Fashion Outlets sind ein Raumidioten-Hotspot. Dort treffen sich bereits etwas in die Jahre gekommene Exemplare zur Brunft. Als bevorzugte Tarnung dient ein zu enges und zu weisses Gewand, das Champagner und St. Moritz suggerieren soll, obwohl der Rest der Erscheinung Bier und Bäretswil verrät.
Tatsächlich ist aber auch für Experten die Unterscheidung von RIs und Homo sapiens nicht immer einfach. Nicht alle Jugendlichen, die vor dem Bierregal herumlungern, sind automatisch Raumidioten. Manche davon sind einfach nur Tessiner Studenten. Nicht jeder orientierungslose alte Mann ist ein RI. Einer davon ist einfach nur der amerikanische Präsident. Wer sich sicher sein will, macht den Äxgüsi-Test. Kommt ein «Ahsorry!» oder auch ein «Mi dispiace!» zurück, handelt es sich um Menschen oder Tessiner Studenten. Raumidioten hingegen reagieren stets wortlos, und mit einem Gesichtsausdruck, als hätten sie kurz zuvor mit Apachen-Häuptling Leck–mich–am–Arsch eine Verbrüderungspfeife geraucht.
Aktuell geht die Forschung davon aus, dass RIs und Homo sapiens zusammen ein System des Kommensalismus bilden. So wird die Koexistenz zweier Arten genannt, die sich für die eine positiv und die andere neutral auswirkt – wobei die RIs die profitierende Partei stellen. Ohne Menschen wären sie dem Untergang geweiht. Wird nämlich der Toleranzwert der RI-Dichte überschritten, kommt es zu einer sogenannten Raumidiotenklumpung. Eine solche kann verheerende Auswirkung haben und auch erfolgreiche Systeme zum Einsturz bringen. Ein anschauliches Fallbeispiel liefert aktuell die Mannschaft des FC Basel.
Auf der anderen Seite war es nicht immer so, dass die Koexistenz mit RIs für den Homo sapiens als «neutral» wahrgenommen wurde. RIs hing der Ruf an, Bremsklötze und Hindernisse für zielstrebige und organisierte Menschen zu sein. So wurden sie tendenziell negativ dargestellt. Modernere Ansätze, die seit dem Aufkommen des Neoliberalismus und des Hyperkapitalismus zunehmen, akzentuieren hingegen die positiven Auswirkungen einer ausgewogenen, mit RIs versetzten Gesellschaft. RIs, so die Hypothese, lehren Geduld und Frustrationstoleranz, versorgen stressgeplagte Menschen mit unverhofften Momenten des Nichtstuns, und erinnern zielorientierte Macherinnen und Macher daran, dass nicht alles im Leben planbar ist.
Wenn du also das nächste Mal einen Raumidioten siehst, dann sieh ihn nicht einfach nur als Ärger- oder gar Hindernis. Beobachte ihn. Bewundere seine Kunst. Ergötze dich an seiner Ignoranz, und belustige dich am Schauspiel, das er verursacht. Sei dankbar für sein Training. Ein Training, das du für eine noch viel unmenschlichere Spezies gut gebrauchen kannst: den Stultus constans querens – den dummen Dauernörgler.
Merci ! you made my day