«Zum Glück vergessen wir ja auch eine ganze Menge» urteilte Günther Jauch 2010 für die 20-jährige «stern TV»-Jubiläumssendung beim Blick in die Vergangenheit. Die Born-Affäre der Neunziger war nicht gemeint. Sie wurde jahrelang ausgespart, konsequent. Weder in der Sendung «20 Jahre stern TV» noch in der Jubiläumsausgabe fünf Jahre später wurde über den Filmfälscher Michael Born und den vielleicht grössten deutschen TV-Betrugsskandal gesprochen. Jauch und Born – diese personelle Verwicklung bleibt eine Konstellation des Schweigens.
Ob die Lügengeschichte von einst im kollektiven Gedächtnis verblasst? Schwer zu sagen. Klar ist nur: Es lohnt sich auch heute noch, sie zu erzählen. Und das nicht, weil die Erzählung Verschwörungsmythen befeuern soll – «stern TV» wird von der Firma «i&u TV» produziert, dessen Alleingesellschafter Günther Jauch ist. Vielmehr zeigt der Umgang mit der Affäre, wie gut das Prinzip der Verdrängung funktioniert – bis heute.
Das war passiert: Günther Jauch trat 1990 seinen Job als «stern TV»-Moderator an. Von September 1992 bis September 1994 sprang er zusätzlich zu seiner Moderatorentätigkeit auch als Chefredakteur für das TV-Magazin ein. In dieser Zeit sendete «stern TV» Beiträge des freien Reporters Michael Born. Unter anderem einen Bericht über Kindersklaven in Indien, die für IKEA Teppiche knüpften oder eine Reportage über ein Ku-Klux-Klan-Treffen in der Eifel. Beide Filme stellten sich später als Fälschung heraus: Die Kinder waren Teil einer eingefädelten Inszenierung und das angebliche Ku-Klux-Klan-Treffen stellte Born mit Freunden nach.
In einem Gespräch mit der NDR -Journalistin Anja Reschke erzählte Born im Jahr 2011: «Wir haben denen eine Welt gebaut, wie sie nur in ihren Köpfen existiert.» Der Fälscher als Getriebener, so wollte er sich verstanden wissen. 2019 verstarb er im Alter von 60 Jahren in Graz.
Aufgeflogen war Born, weil die Stimme des angeblichen Ku-Klux-Klan-Redners laut polizeilichem Gutachten mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit identisch war mit der Stimme des angeblichen Drogenkuriers aus Guadeloupe – ebenfalls eine Geschichte von Born, es ging um Rauschgifthandel von der Karibischen Insel aufs französische Festland. Die Staatsanwaltschaft bewog daraufhin einen von Borns Mitarbeitern zu einem umfangreichen Geständnis.
1996 kam es zum aufsehenerregenden Prozess. Die Anklage warf ihm 32 gefälschte Dokumentationen vor, von denen ihm 16 nachgewiesen werden konnten. Das Gericht verurteilte Born im Dezember 1996 wegen vollendeten Betrugs in 17 Fällen und versuchten Betrugs in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. 1997 kam er frei, seit 2002 lebte er in Griechenland.
Borns damaliger Chef, Günther Jauch, war als Zeuge zum Prozess geladen. Die meisten von Borns TV-Fälschungen liefen bei «stern TV» und landeten unter der Verantwortung Jauchs im Fernsehen. Als er vernommen wurde, ahnte er schon, dass er «den Kopf dafür hinzuhalten hat», so schrieb es der Gerichtsreporter Volker Lilienthal damals für die «Zeit». «In dieser Zeit trug ich die publizistische Verantwortung für das, was bei 'stern TV' gesendet wurde», gab sich Jauch vor Gericht die Blösse.
Doch ein Schuldeingeständnis war von Günther Jauch nicht zu hören. Er mäanderte herum, als er gefragt wurde, wie er als Chefredakteur die journalistische Sorgfaltspflicht wahrgenommen habe: «Man achtet in erster Linie darauf, ob eine Geschichte stimmig ist.» Der damals 40-Jährige offenbarte damit sein Rollenverständnis so: Er müsse als Chefredakteur nicht prüfen, ob eine Geschichte stimmt, sondern nur, ob sie stimmig sei. Sprich: ob der Zuschauer der Story folgen könne. Dass er die Verantwortung für die Fälschungen von sich schob, wurde 1996 vor allem wegen eines Satzes als skandalös eingestuft: «Ich bin im Grunde genommen nie in einem Schneideraum drin gewesen.»
Dass sich einer der damals schon bekanntesten Fernsehjournalisten Deutschlands auf den Vorwurf der mangelnden Sorgfalt als moderierender Frühstücksdirektor inszenierte, stiess vielen Beobachtern sauer auf. Doch Jauchs Karriere schadete der Knick nicht. Bis zu seiner Abschiedssendung am 5. Januar 2011 moderierte er «stern TV» 891 Mal. Bereits drei Jahre nach dem Born-Skandal bekam Jauch mit «Wer wird Millionär?» zusätzlich einen festen Sendeplatz als Quizmaster bei RTL. Bis heute gilt der gebürtige Münsteraner als einer der beliebtesten Moderatoren des Landes.
Es ist einer der wenigen Kratzer auf der so schillernden Visitenkarte von Günther Jauch – abgesehen von seinem sagenumwobenen Abschied beim Bayerischen Rundfunk, der ihn fristlos entlassen hatte, nachdem Jauch negativ über seine Vorgesetzten sprach. Doch so ausführlich er über seine BR-Kündigung sprach, so beharrlich schwieg er zum Thema Michael Born.
Dabei blickte die Redaktion von «stern TV» in all den Jubiläumssendungen auch gerne auf eigene Missgeschicke und Pannen zurück. Doch das Magazin zeigte Günther Jauch lediglich, wie er hilflos an einer Reckstange hing oder vergeblich versuchte, eine Sumo-Kämpferin aus dem Ring zu stossen. Beides Zusammenschnitte aus der Kategorie «Missgriffe». Die historischen Verfehlungen der RTL-Sendung aber werden in Rückblicken verschwiegen.
Seit 30 Jahren arbeitet Günther Jauch mit dem Sender zusammen. Kaum ein Gesicht prägte die Kölner Fernsehanstalt so sehr, wie das des lausbübisch grinsenden Brillenträgers. Die Verdrängung von Michael Born als Themenkomplex hatte womöglich auch etwas mit dem Image des Moderators zu tun, der so gern als «Schwiegermuttersliebling» betitelt wird. Beim Fälschungsskandal gab es nichts schönzureden, sowohl für RTL als auch für Jauch war die Sache nach dem Gerichtsprozess gegessen – inklusive einer veränderten Personalpolitik bei «stern TV», die eine dauerhafte Redaktion mit festangestellten Mitarbeitern installierte und die Zulieferungen von freien Journalisten zurückfuhr.
Michael Born hingegen äusserte sich später noch einmal zu Jauch. In einem Interview mit dem «Tagesspiegel» empfahl er dem Moderatoren, er solle «um Himmels willen vernünftigen Wein auf seinem Gut produzieren und bloss die Finger von politischen Magazinen lassen. Frührente ist angesagt.»
Der «Konrad Kujau des Fernsehens», wie er durch seine TV-Fakes in Anlehnung an den Kunstfälscher Konrad Paul Kujau genannt wurde, begründete sein Urteil auch mit der Naivität, die ihm Jauch damals als «stern TV»-Chef entgegenbrachte. «Mit einigen Beiträgen haben wir uns einfach lustig gemacht über die Verantwortlichen in den Sendern», so Born in dem Interview.
Deshalb habe er einen Film über Krötenlecker gemacht, bei dem es um Kröten als neue Droge ging, die Deutschland angeblich überschwemmen würden. «Da sich Günther Jauch in seiner Moderation neben ein Terrarium mit zwei Kröten stellte, und die Welt von diesem neuen Drogenproblem informierte, haben wir beschlossen, die eigens dafür angeschaffte Sonorkröte 'Günther' zu taufen.»
Vielleicht stammt der eingangs zitierte Satz «zum Glück vergessen wir ja auch eine ganze Menge» auch deshalb von Günther Jauch.
Verwendete Quellen:
Es scheint mir vermehrt, dass alte Dinge wieder aufgewärmt werden, obwohl es dazu keine neue Fakten gibt. Weshalb?
Und überhaupt: Wer keine Fehler macht, werfe den ersten Stein.
Das nun Jauch anlasten zu wollen, finde ich etwas billig. Hätte er denn der indischen Mafia anrufen sollen und sie fragen, ob sie wirklich Kinder entführt? Bei Auslandsreportagen ist es grundsätzlich schwer, sie zu verifzieren. Und wenn es um Untergrundorganisationen geht erst recht.
Drum schaut Jauch, ob die Story "stimmig" ist. Ob also Widersprüche auffallen. Das war bei diesen gut gemachten Fälschungen nicht so.