Das ging schnell. Nur einen Tag nach der letzten Volksabstimmung trat der Bundesrat am Montag vor die Medien, um seine Argumente für die Revision des Covid-19-Gesetzes vorzustellen, über die am 28. November abgestimmt wird. Er tat dies in doppelter Besetzung, mit Bundespräsident Guy Parmelin und Gesundheitsminister Alain Berset.
Flankiert wurden sie vom Bündner Finanzdirektor Christian Rathgeb, als Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen so etwas wie der «oberste» Regierungsrat der Schweiz. Der illustre Aufmarsch zeigt, wie ernst die Politik die Abstimmung über das Covid-Gesetz nimmt. Es ist die zweite in diesem Jahr. Im Juni sagte das Stimmvolk mit 60 Prozent Ja.
Schon dieses Ergebnis war ein Achtungserfolg für die Gegner. Er ermutigte sie, gegen die vom Parlament im März beschlossene Revision erneut das Referendum zu ergreifen. Innerhalb von nur drei Wochen sammelten die «Freunde der Verfassung», das Netzwerk Impfentscheid und das Aktionsbündnis Urkantone fast 190’000 Unterschriften.
Der Kraftakt zeigt, dass das Votum im November kein Spaziergang werden dürfte. Anders als bei der «Ehe für alle» und der 99-Prozent-Initiative, bei denen das Resultat eigentlich von Anfang an feststand und nie echte Spannung aufkam, ist ein heftiger Abstimmungskampf zu erwarten. Entsprechend früh wollten Bund und Kantone Präsenz markieren.
Mit der erneuten Revision hat das Parlament in der Frühjahrsession die Finanzhilfen und Entschädigungen auf Betroffene ausgeweitet, die zuvor durch die Maschen gefallen waren. Ausserdem regelt sie das Contact Tracing im Detail und bildet die Grundlage für das Covid-Zertifikat. Das Gesetz wurde für dringlich erklärt und per sofort in Kraft gesetzt.
Die Gegner zielen mit ihrem Referendum vor allem auf das Zertifikat. Es sei diskriminierend, erzeuge einen indirekten Impfzwang und führe zu einer Spaltung der Gesellschaft. Mit der aufgeheizten Stimmung seit Beginn der Zertifikatspflicht fühlen sie sich bestätigt. Weiter kritisieren sie, das Contact Tracing führe zu einer «elektronischen Massenüberwachung».
Das Zertifikat fällt nicht sofort. Das dringliche Gesetz würde auch bei einer Ablehnung am 28. November ein Jahr in Kraft bleiben, bis 19. März 2022. So sieht es das Bundesrecht vor. Und der Bundesrat hat die Zertifikatspflicht vorerst bis zum 24. Januar befristet. Er argumentiert in erster Linie mit der Reisefreiheit, die das Zertifikat ermögliche.
Für das Tourismusland Schweiz sei dies von grosser Bedeutung, sagte Guy Parmelin. So haben die EU und die Schweiz ihre Zertifikate gegenseitig anerkannt. Die Einreise in die EU ist wegen der Freizügigkeit allerdings ohne Zertifikat möglich, allenfalls verbunden mit einer Test- und Quarantänepflicht. Ausserhalb Europas aber könnten andere Regeln gelten.
Normalerweise genügt das Impfbüchlein, doch Länder wie China könnten auf das Zertifikat bestehen. Unklar ist auch, wie die USA die Einreise von Geimpften ab November regeln werden. Der Verweis der Gegner auf US-Bundesstaaten, die das Zertifikat verboten haben, ist eine Nebelpetarde. Für die Einreise ist die Regierung in Washington zuständig.
Den Gegner ist die Brisanz dieses Aspekts für die reisefreudige Schweizer Bevölkerung bewusst, sie befürworten deshalb ein «freiwilliges Covid-Zertifikat» für Reisen ins Ausland. Alain Berset jedoch sagte am Montag, es gebe «keinen Plan B». Für ein solches Zertifikat brauche es eine neue gesetzliche Grundlage, die kaum vor Ende 2022 in Kraft treten werde.
Während das Nein-Lager kräftig mobilisiert, haben die Befürworter des Gesetzes «den Auftakt verschlafen», wie der Berner Mitte-Nationalrat Lorenz Hess dem «Sonntagsblick» sagte. Nun hat sich ein Ja-Komitee formiert, aber die Finanzierung ist unklar, während die Gegner laut Sprecher Josef Ender über «mehr als eine halbe Million Franken» verfügen.
Die Nein-Kampagne ist bereits angelaufen, trotzdem ist die Chance auf ein erneutes Ja absolut intakt. Es könnte sogar deutlicher ausfallen als im Juni, denn die Zeit und vor allem die Jahreszeit spielt den Befürwortern des Gesetzes in die Hände. Noch profitiert die Schweiz vom relativ milden Frühherbst, aber schon bald werden die Tage kürzer und kälter.
Die Fallzahlen und Hospitalisierungen sind in den letzten Tagen gesunken, doch das könnte eine Verschnaufpause sein. Eine Tamedia-Auswertung zeigt, dass der Effekt in den Spitälern vor allem auf den Rückgang der Ansteckungen im Ausland zurückzuführen ist. Der Anteil der Patienten, die sich in der Schweiz infiziert haben, bleibt konstant hoch.
Vor allem aber ist die Zahl der Hospitalisierten deutlich höher als vor einem Jahr, als es noch keine Impfung gab. Wobei die Schweiz mit ihrer Impfquote von 58 Prozent der gesamten Bevölkerung ohnehin schlecht dasteht. Der Anstieg der Impfungen nach Einführung der Zertifikatspflicht war mehr ein Hüpfer als ein Sprung, die Kurve sinkt bereits wieder.
Vielleicht wird die baldige Verfügbarkeit des Vektorimpfstoffs von Johnson & Johnson in der Schweiz für einen Ansporn bei jenen sorgen, die Impfungen nicht grundsätzlich ablehnen. Die Kombination aus tiefer Impfquote und hoch ansteckender Delta-Variante könnte im Herbst dennoch für einen Ausnahmezustand in den Spitälern sorgen.
Noch ist vielen der Ernst der Lage aber nicht bewusst. Es ist möglich, dass sich das Problem genau zum Zeitpunkt der Abstimmung im Spätherbst zuspitzen wird. Und die Schweiz nur dank dem Zertifikat ohne Lockdown durch den Winter kommen wird. «Das Zertifikat verhindert Schliessungen», meinte Alain Berset am Montag.