Bundesrat Albert Rösti (SVP) ist sich sicher: Der Autobahn-Ausbau mit sechs Projekten, über den die Schweiz am 24. November abstimmt, führt zu keinem zusätzlichen Verkehr. «Niemand wird wegen des Ausbaus auf das Auto umsteigen», sagte er gegenüber watson. Schliesslich würden keine neuen Strassen gebaut.
Damit will er das Argument der Gegner entkräften, dass mehr Strassen zu mehr Verkehr führen und ein Ausbau nach einiger Zeit nur neue Staus und Engpässen bewirkt. Dieses Phänomen wird «induzierter Verkehr» genannt. Doch hat Rösti recht?
Sein Bundesamt für Strassen (Astra) kommt zu einem anderen Schluss. Das zeigt der Ausbau der A1 rund um Zürich. Die Nordumfahrung wurde in den vergangenen Jahren erweitert. Seit Frühling 2020 ist sie zwischen Zürich-Affoltern und der Verzweigung Zürich-Nord in beide Richtungen je drei- statt zweispurig befahrbar.
In der Folge nahm der Verkehr zu – und zwar viel stärker als die Bevölkerung. Zwischen 2017 und 2022 registrierte das Astra an der Zählstelle Zürich-Seebach 15 Prozent mehr Fahrzeuge. Dieses Wachstum sei «doch sehr gross», schreiben die Fachleute in ihrem Verkehrsfluss-Bericht: «Es lässt sich mit den zusätzlichen Fahrstreifen erklären.»
Vor gut einem Jahr wurde ein weiterer Ausbauschritt fertiggestellt: Seither ist in Richtung Bern die neue, dreispurige Gubrist-Röhre in Betrieb statt der alten, zweispurigen. Innert nur fünf Monaten wuchs der Verkehr in diese Richtung um 10 Prozent. Zum Vergleich: Auf der A1 auf dem Berner Felsenauviadukt wurden im Jahr 2023 weniger Fahrzeuge gezählt als im Vorjahr, auf der A1 bei Rothrist AG nur 0,7 Prozent mehr.
Als positiven Effekt kann das Astra im Fall des Zürcher Nordrings zwar verbuchen, dass die Staustunden in Richtung Bern auf dem ausgebauten Abschnitt zwischen 2019 und 2023 um Hunderte Stunden pro Jahr abgenommen haben. Allerdings zeigen die Daten auch, dass sie dafür auf den Abschnitten davor und danach stark zunahmen – in Wallisellen ZH beispielsweise von 1400 auf 2000.
Rösti weibelt denn auch mit einem zweiten Argument für ein Ja: Dass der Verkehr von Ausweichrouten über Dörfer und städtische Quartiere auf die Autobahn gelenkt wird. Doch dieser Effekt ist alles andere als sicher. Denn die zusätzlichen Autofahrten, den die Ausbauten generieren, starten und enden selten direkt bei einer Autobahn, sondern belasten auch die Gemeinde- und Kantonsstrassen vorher und nachher.
Auf der Zürcher Nordumfahrung nahm der Verkehr zwischen 2018 und 2023 um etwa 15'000 Fahrzeuge pro Tag zu. Auf dem untergeordneten Strassennetz, das mit dem Ausbau hätte entlastet werden sollen, sind die Resultate durchzogen. Auf der Wehntalerstrasse in Zürich-Affoltern nahm der Verkehr im selben Zeitraum um knapp 1800 Fahrzeuge täglich ab. Auf der Stadtzürcher Rosengartenstrasse stadteinwärts sank die Zahl der Fahrzeuge zwischen 2018 und 2022 um 2300 pro Tag auf 22'600.
Auf anderen Strassen im direkten Umfeld wurde hingegen eine Zunahme registriert – etwa auf der Wehntalerstrasse in Regensdorf mit einem Plus von 2400 Fahrzeugen pro Tag zwischen 2018 und 2023 oder der Thurgauerstrasse in Opfikon mit einer Zunahme von 2200 Fahrzeugen.
Das Astra betonte in einer Mitteilung Anfang Jahr die Entlastung auf einigen Strassen, räumte aber ein, dass dem nicht überall so sei. Das Amt geht auch bei den zur Abstimmung stehenden Projekten teilweise von deutlichen Zunahmen im untergeordneten Strassennetz aus. Das weckt lokal Widerstand: So wehrt sich die Gemeinde Urtenen gegen den Ausbau der A1 rund um Bern, weil Unterlagen des Astra zeigten, dass er im Ort zu Mehrverkehr führe. Das berichtet der Tages-Anzeiger.
Erfahrungen mit Projekten aus der Vergangenheit zeigen, dass ein Autobahn-Ausbau Gemeinden dann entlastet, wenn der Mehrverkehr auf ausgewählten Strassen im untergeordneten Netz kanalisiert wird. Auf anderen braucht es flankierende Massnahmen, die konsequent umgesetzt werden – etwa Verkehrsberuhigungen, Fahrverbote oder Dosierampeln. Hilfreich ist auch eine regionale Verkehrsleitzentrale, die den Verkehr auf Autobahnen, Kantons- und Gemeindestrassen aus einer Hand steuert. Solche gibt es allerdings nur in den Regionen Zürich-Winterthur, Genf und Lausanne.
Die Zürcher Daten bestätigen eine Binsenweisheit der Verkehrsplanung: Wenn eine Strasse ohne zusätzliche Kosten genutzt werden kann, wird die Nachfrage tendenziell die Kapazität übersteigen.
Wenn es auf einer Strasse oft staut, wächst der Verkehr in Folge weniger schnell oder verteilt sich anders. Einige Menschen wechseln auf den öffentlichen Verkehr, andere verlegen ihre Fahrten in Randzeiten oder suchen eine Arbeitsstelle näher an ihrem Zuhause.
Der US-Städteplaner Stephen H. Graham hat auf Threads auf ein prominentes Beispiel hingewiesen. Die brasilianische Metropole São Paulo führte 1996 ein System ein, das die Luftverschmutzung und Staus reduzieren sollte. Seither gilt in den Stosszeiten an Montagen in grossen Teilen der Stadt ein Fahrverbot für Autos, deren Nummernschild auf 0 oder 1 endet. Am Dienstag gilt dasselbe für Nummernschilder mit der Endung 2 und 3 und so weiter.
So hätte der werktägliche Verkehr um 20 Prozent abnehmen sollen. Das war aber nicht der Fall. Nur gerade im ersten Jahr nach der Einführung zeigte sich ein positiver Effekt. Als 20 Prozent der Nummernschilder verschwanden, floss der Verkehr für eine kurze Zeit flüssiger, doch genau das zog mehr Autofahrerinnen und Autofahrer an – so lange, bis die Staus die zuvor übliche Dauer erreichten.
Mit diesem Effekt rechnet auch das Astra. Das Amt geht davon aus, dass der vorgesehene Ausbau der A1 zwischen Nyon und Genf die Kapazität von heute 90'000 auf 130'000 Autos pro Tag erhöhen würde. Doch schon etwa zehn Jahre nach der Vollendung des Ausbaus – würde die gleiche Situation bezüglich Überlastung wie heute herrschen. Während der Verkehr auf der Autobahn momentan relativ langsam zunimmt und ohne Ausbau ab dem Jahr 2028 fast stabil bleiben dürfte, würde er mit dem Ausbau zwischen 2028 und 2030 um 14 Prozent pro Jahr steigen.
Umgekehrt gibt es selbst bei steigender Bevölkerung Möglichkeiten, den Autoverkehr zu reduzieren. Eine der wirkungsvollsten Methoden ist die Bepreisung von Mobilität. Mit einer tageszeitabhängigen Gebühr hat etwa London viele Verkehrsprobleme in den Griff bekommen. Seit 20 Jahren gibt es dort das sogenannte Road Pricing. Obwohl die Bevölkerungszahl der Metropole seither um 1,6 Millionen auf 8,9 Millionen gewachsen ist, sanken der Autoverkehr und die Staus innerhalb der Maut-Zone deutlich.
Das gelang auch, weil gleichzeitig der öffentliche Verkehr ausgebaut und das Netz für Velofahrerinnen und Velofahrer verbessert wurde. Werden hingegen die Strassen und der ÖV gleichzeitig ausgebaut, kommt es zu keiner Verschiebung: Der Verkehr nimmt dann bei beiden Verkehrsträgern gleichermassen zu.
Die Bevorzugung eines Verkehrsmittels kann hingegen zu einer Verlagerung führen, wie ein Schweizer Beispiel zeigt. Im staugeplagten Leimental vor Basel wuchs die Bevölkerung seit dem Jahr 2000 um knapp 20 Prozent. Der öffentliche Verkehr wurde ausgebaut, die Strassen nicht. Die Folge: 2022 zählte das Tram laut Daten des Kanton Basel-Landschaft fast 15 Prozent mehr Passagiere als 2000, die Zahl der Autos lag aber 10 Prozent tiefer.
Dass Autoverkehr reduziert werden kann, bewies das Astra selbst, als es die Kapazität auf der A1 bei St.Gallen wegen Bauarbeiten im März 2022 um rund 10 Prozent reduzieren musste. Es führte eine grosse Informationskampagne durch. Zudem gaben rund 50 Unternehmen vergünstigte ÖV-Tickets an Mitarbeitende ab. Das Resultat laut einer aktuellen Schweizer Studie: Der Autoverkehr nahm in den Stosszeiten um 13 Prozent ab – ohne Verlagerung auf andere Strassen oder eine Verschlechterung des Verkehrsflusses.
Dennoch gibt es Argumente, die für einen Ausbau sprechen, etwa die Verbesserung der Lebensqualität. Der Bau der Zürcher Westumfahrung hat zu einer Zunahme des Verkehrs auf der Autobahn geführt, doch in der Stadt Zürich konnten dank flankierenden Massnahmen ganze Quartiere beruhigt werden. In den 80er-Jahren wurden die Dörfer am Walensee durch den Bau der Autobahn entlastet.
Der zur Abstimmung stehende Rheintunnel in Basel könnte beispielsweise einen ähnlichen Effekt ausüben. Und selbst wenn ein Ausbau die Stauprobleme nur in die Zukunft verschiebt: Immerhin für ein paar Jahre ist auf diesen Abschnitten Ruhe. Die Schweizerinnen und Schweizer müssen nun entscheiden, ob diese Entlastung die Nachteile aufwiegt.