Im Mai 2017 sagte das Schweizer Stimmvolk Ja zur Energiestrategie 2050. Danach geschah … nicht nichts. Anders als die SVP in gewohnt populistischer Manier behauptet, ist die Energiewende nicht gescheitert. Doch der Umbau der Schweizer Energieversorgung, weg von Atom, Gas und Öl hin zu Sonne, Wasser und Wind, kam nur mühsam in die Gänge.
Die Schweiz hat die Energiewende «verlauert». Daran sind viele schuld. Selbst Bundesrätin Simonetta Sommaruga kann sich nicht davon freisprechen, auch wenn sie in Interviews behauptet, sie habe seit ihrem ersten Tag als UVEK-Chefin auf die Umsetzung der Energiestrategie hingearbeitet. Das Hauptproblem aber war der fehlende Leidensdruck.
Solange fossile Energieträger billig waren, wurde eine alte Ölheizung oft durch eine neue statt durch eine Wärmepumpe ersetzt. Auch Elektrizität war fast gratis. Das hat sich mit dem Ukraine-Krieg gründlich geändert. Auf einmal droht im kommenden Winter ein Strom- und Gasmangel. Die Preise gehen je nach Versorger teilweise durch die Decke.
Die drohende Energiekrise hat die Politik aufgeschreckt. Zuvor hatte die Umwelt- und Energiekommission (UREK) des Ständerats ein volles Jahr am sogenannten Mantelerlass herumlaboriert. Er umfasst das Energie- und das Stromversorgungsgesetz und ist faktisch die Umsetzung der ES 2050. Jetzt geht es vorwärts, und nicht nur bei dieser Vorlage.
Man darf mit einem Hang zum Kalauer behaupten, dass selten so viel Energie im Parlament war wie in der momentan laufenden Herbstsession. Gleich mehrere Geschäfte wurden von National- und Ständerat vorangetrieben. Dazu gehört der indirekte Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, obwohl es darin nur am Rand um Energiepolitik geht.
So sollen der Ersatz von Heizungen sowie Gebäudesanierungen während zehn Jahren mit zwei Milliarden Franken subventioniert werden. Ausserdem sind 1,2 Milliarden für die Förderung neuer Technologien vorgesehen. Mit dem Gegenvorschlag könnte die Initiative zurückgezogen werden, allerdings hat die SVP das Referendum angekündigt.
Daneben gelang dem Ständerat ein Coup. Er beschloss eine Solaroffensive, mit der das Bewilligungsverfahren für alpine Photovoltaik-Anlagen massiv verkürzt werden soll. Sie wird auch «Lex Bodenmann» genannt, nach dem früheren SP-Präsidenten Peter Bodenmann, der mit Feuereifer für ein «Winterstrom-Projekt» in Grengiols im Oberwallis kämpft.
Das linksgrüne Lager konnte mit einer Solarpflicht für Neubauten «an Bord» geholt werden. Schon nächste Woche soll die «Lex Bodenmann» vom Nationalrat behandelt und sofort in Kraft gesetzt werden. Am Donnerstag begann die kleine Kammer zudem mit der Beratung des Mantelerlasses. Dabei soll der Zubau der erneuerbaren Energien beschleunigt werden.
Bis 2035 sollen sie mindestens 35 Terawattstunden Strom liefern, doppelt so viel wie vom Bundesrat geplant. Die Wasserkraft als «Rückgrat» der Schweizer Stromproduktion ist darin nicht einmal berücksichtigt. Dazu beitragen soll eine gleitende Marktprämie, die faktisch einem garantierten Mindestpreis entspricht. In anderen Ländern hat sie sich bewährt.
Nach jahrelangem Schneckentempo wird auf das Gaspedal gedrückt. Allerdings besteht die nicht geringe Gefahr, dass das Parlament über das Ziel hinaus schiesst und mit seiner Stromoffensive einen Kurzschluss riskiert. In zwei heiklen Punkten könnte sie sich kontraproduktiv wirken und statt zur Beschleunigung zu neuem Stillstand führen.
So meldete das Bundesamt für Justiz (BJ) bei der «Lex Bodenmann» rechtliche Bedenken an. Die Solaroffensive verstosse in der vom Ständerat beschlossenen Form gegen die Bundesverfassung, heisst es in einem von der nationalrätlichen Energiekommission angeforderten Bericht. Statt abgekürzter Verfahren drohen zusätzliche Rechtshändel.
Noch gravierender sind die Bestrebungen im Ständerat, beim Mantelerlass den Naturschutz der Stromproduktion zu «opfern». Zwar wurde der Angriff auf das Gewässerschutzgesetz und die Restwassermengen abgeblockt, doch der Rat beschloss, den Bau von Stauseen sowie Wind- und Solaranlagen in Biotopen von nationaler Bedeutung im Prinzip zu ermöglichen.
Der Ärger über die «Blockadementalität» mancher Natur- und Umweltschützer ist verständlich. Sie verzögern Projekte mit Einsprachen jahre- oder jahrzehntelang. Das bekannteste Beispiel ist die Erhöhung der Grimselsee-Staumauer. Ein zu massiver Eingriff in den Naturschutz aber provoziert weiteren Widerstand, etwa mit Referenden.
Immerhin sind Korrekturen möglich. So hat sich die nationalrätliche UREK gemäss NZZ bei der «Lex Bodenmann» auf einen Text geeinigt, der «die Bedenken der Bundesjuristen berücksichtigt». Damit kann die Solaroffensive gestartet werden. Und der Mantelerlass kommt als Nächstes in den Nationalrat, der für Umweltbedenken offener sein dürfte.
Der beschleunigte Ausbau ist richtig, auch weil der Strombedarf durch die Dekarbonisierung stark zunehmen wird. Aber man darf sich nicht darauf versteifen. Ein unterschätzter Aspekt ist die Effizienz. So kann die Schweiz laut einem Bericht des Bundesamts für Energie bis zu 40 Prozent des heute verbrauchten Stroms einsparen, ohne Komforteinbusse.
«Privathaushalte, Unternehmen und Gemeinden müssten einzig die bestehenden technischen Mittel ausschöpfen», schrieb die «Sonntagszeitung». In erster Linie bedeutet dies, veraltete «Stromfresser» durch Geräte der neusten Generation zu ersetzen. Das macht Sinn. Der viel zu billige Strom verleitete zu Sorglosigkeit und Verschwendung.
«Die günstigste, beste und klimafreundlichste Energie ist diejenige, die wir nicht verbrauchen», sagte Bundesrätin Sommaruga am Donnerstag im Ständerat. Das bedeute «nicht einfach mehr und mehr und mehr», sondern «die Möglichkeiten, die heute technisch und mit der Digitalisierung vorhanden sind, jetzt wirklich zu beanspruchen».
Darunter fallen intelligente Stromnetze, sogenannte Smart Grids, mit denen sich der Verbrauch gezielt steuern lässt. Oder auch die Umwandlung von Solar- und Windstrom in synthetische Kraftstoffe mit «Power to Gas»-Anlagen. Damit lässt sich der grösste Schwachpunkt der Erneuerbaren kompensieren, die unregelmässig anfallende Produktion.
Erfreulich ist, dass das Parlament diese Punkte aufnimmt. Der Nationalrat hat am Mittwoch mehrere Vorstösse zur Förderung von Smart Grids sowie «Power to Gas» überwiesen. Das wird Zeit und Geld kosten, doch dieser Einwand ist relativ. Denn heute schickt die Schweiz rund acht Milliarden Franken pro Jahr für Gas und Öl ins Ausland.
Die Energiewende scheint endlich Fahrt aufzunehmen. Wenn die Schwachpunkte bei Naturschutz und Verfassungsrecht ausgebügelt werden, lässt sich der Zug nicht aufhalten. Für diesen Winter ist es jedoch zu spät. Die kalte Jahreszeit hat begonnen, nächste Woche fällt Schnee bis in tiefere Lagen. Es bleibt wohl das Prinzip Hoffnung.