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Corona: Warum Bersets Kritik an der Wissenschaft nicht ganz aufgeht

Bundesrat Alain Berset zieht seine Maske an, am Ende einer Medienkonferenz des Bundesrates ueber die Reform der beruflichen Vorsorge, am Mittwoch, 25. November 2020, in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Am Anfang der Pandemie riet das Departement von Alain Berset der breiten Öffentlichkeit vom Tragen einer Hygienemaske ab. Bild: keystone
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Warum Bersets Kritik an der Wissenschaft nicht ganz aufgeht – ein Protokoll in 5 Punkten

In einem SRF-Interview sagt Gesundheitsminister Alain Berset, er habe die Wissenschaft zu wenig hinterfragt. Das habe unter anderem auch zum Maskendisput geführt. Warum seine Kritik nicht ganz aufgeht – erklärt in 5 Punkten.
21.05.2021, 18:3721.05.2021, 19:24
Helene Obrist
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In seinen Skiferien im Februar 2020 wurde Gesundheitsminister Alain Berset klar, dass das Coronavirus immer näher kommt. Er brach die Ferien ab und kehrte zurück nach Bern. Seither kämpft der 49-Jährige an vorderster Front gegen die Pandemie.

Fragte man den Bundesrat bisher jeweils nach Fehlern, die in der Anfangsphase im Kampf gegen die Pandemie passiert waren, folgten unkonkrete Antworten. Es sei zu früh, um ein Fazit zu ziehen. Oder auch mal vage: Natürlich habe man nicht alles richtig gemacht. Es sei ja auch alles neu gewesen, so das Credo.

Nun wurde der Gesundheitsminister ein erstes Mal konkreter: Im Gespräch mit SRF-Moderator Urs Gredig in der Sendung «Gredig direkt» sagte Berset, dass es nicht immer das Beste gewesen sei, sich die Position der Wissenschaft anzuhören und diese umzusetzen. Das habe dazu geführt, «dass wir behaupteten, dass Masken sogar schädlich sein könnten.»

Die «Wissenschaft» habe der Bevölkerung nicht zugetraut, Hygienemasken richtig anzuwenden, und deshalb davon abgeraten, erinnerte sich Berset. «Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich das mehr hätte hinterfragen müssen», gab Berset zu.

Die Aussage erstaunt. Und lässt einige Fragen offen: Kratzt Berset damit an der Glaubwürdigkeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern? Was meint Berset genau mit «der Wissenschaft»? Welche Expertinnen und Experten warnten vor dem Tragen einer Schutzmaske? Wer sagte was zuerst?

Ein Protokoll.

Das grosse Warnen vor der Maske

Am 25. Februar 2020 hielt der Bundesrat seine erste Pressekonferenz zu Covid-19 ab. Viele würden folgen. In besonderer Erinnerung blieb jene vom 16. März, als der Bundesrat die Situation in der Schweiz als «ausserordentliche Lage» einstufte. Er schloss Schulen, Läden, Bars und Restaurants.

Kurz darauf wurde auch die Frage zu den Schutzmasken immer relevanter: Immer mehr Länder rund um die Schweiz führten eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum ein. Die Schweiz zögerte. In einem Interview mit dem SRF sagte «Mr. Corona» Daniel Koch, der damalige Leiter der Abteilung für übertragbare Krankheiten des BAG:

🗣️ Daniel Koch, BAG

«Wenn man die Maske trägt, hat man das Gefühl, man sei besser geschützt. Andere Vorsichtsmassnahmen werden dann weniger gut befolgt. [...] Das Distanzhalten ist aber nach wie vor der bessere Schutz.»
27.03.202010vor10, srf
«Der Nutzen von Masken in der Öffentlichkeit ist nicht erwiesen», sagte Daniel Koch auch in einer Medienkonferenz des Bundes am 3. April 2020. (ab 47:23)Video: YouTube/Der Schweizerische Bundesrat - Le Conseil fédéral suisse - Il Consiglio federale svizzero

Im gleichen «10vor10»-Beitrag stellte sich auch Enea Martinelli, Chefapotheker Spitäler FMI AG, auf die Seite von Koch:

🗣️ Enea Martinelli, Chefapotheker

«Es gibt Studien, die zeigen, dass Masken, die man der breiten Bevölkerung gibt, nichts nützen, weil man nicht konsequent ist. Zur Maske gehöre auch die Handhygiene, weil diese der Hauptübertragungsfaktor sei. Wenn man die zwei Meter einhält, braucht man keine Maske.»
27.03.202010vor10, srf

Und auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab sich kritisch. So verkündete ihr Nothilfedirektor Michael Ryan:

🗣️ Michael Ryan, WHO

«Wir raten davon ab, Mundschutz zu tragen, wenn man nicht selbst krank ist.»
30.03.20sda, genf

Knapp einen Monat später riet man beim BAG weiter vom Tragen einer Hygienemaske ab. In einem PDF, erstellt am 22. April 2020, hiess es, dass Masken nicht genügend vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen würden.

📝 FAQ-PDF des BAG

«1. Sollen alle in der Öffentlichkeit eine Maske tragen?

Nein, wir empfehlen gesunden Personen nicht, in der Öffentlichkeit eine Maske zu tragen. Dies schützt sie nicht genügend vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Hingegen kann eine Maske verhindern, dass eine bereits infizierte Person andere ansteckt. Weiterhin gilt: Befolgen Sie die Abstands- und Hygieneregeln.

5. Soll ich im öffentlichen Raum eine Maske tragen, wenn es schwierig ist, anderen immer mit 2 Meter Abstand auszuweichen? Also etwa auf Trottoirs oder am Bahnhof?

Eine Ansteckung ist eher unwahrscheinlich, wenn Sie andere Personen rasch kreuzen.
Wir empfehlen deshalb gesunden Menschen nicht, im öffentlichen Raum eine Maske zu tragen. Selbstverständlich steht es Ihnen aber frei, eine Maske zu tragen, wenn Sie sich dadurch sicherer fühlen.»
FAQ-PDF, BAGquelle: bag/admin/news

Daniel Koch und das BAG rieten Ende März 2020 zwar der Allgemeinheit davon ab, eine Maske zu tragen. Der Bund war gleichzeitig aber auch fieberhaft auf der Suche nach dem Schutzmaterial. Am 23. März rief Koch gar zur Maskenspende auf: «Personen, die viele Masken zu Hause haben, könnten sie zum Beispiel den lokalen Pflege- und Altersheimen schenken».

Der Pandemieplan von 2018

Viele kritische Stimmen zur Maskenpflicht also. Doch das klang nicht immer so. Im Pandemieplan, den das BAG 2018 publizierte, steht: «Hygienemasken können einerseits bei bereits Infizierten die Ausbreitung der Keime durch Tröpfcheninfektion reduzieren, andererseits gesunde Personen bis zu einem gewissen Grad vor einer Ansteckung schützen.» Zudem hätten Studien von 2003 mit dem SARS-Virus gezeigt, dass die Übertragung von Viren mit Schutzmasken eingeschränkt werden könne.

📝 Pandemieplan des BAG

Der Schutzeffekt von Hygienemasken in Situationen mit grösseren Menschenansammlungen ist zweifacher Natur: Die Masken können einerseits bei bereits Infizierten die Ausbreitung der Keime durch Tröpfcheninfektion reduzieren, andererseits gesunde Personen bis zu einem gewissen Grad vor einer Ansteckung schützen. Dadurch reduziert sich das allgemeine Infektionsrisiko.

Einige Studien zeigen im Experiment einen gewissen Schutzeffekt der Hygienemasken in Bezug auf eine Virenexposition. Auch aus der Erfahrung mit SARS im Jahre 2003 und mit einem Influenza-Ausbruch am Genfer Universitätsspital 2012 ergeben sich Hinweise, wonach die Übertragung von Viren durch Hygienemasken eingeschränkt werden kann.
Influenza-Pandemieplan Schweiz 2018, Seite 58quelle: bag/influenza-pandemieplan

Allerdings heisst es im Pandemieplan auch, dass die Akzeptanz von Hygienemasken in der Bevölkerung relativ klein sei. Deshalb könne eine Maskenpflicht erst dann angeordnet werden, «wenn das zukünftige Pandemievirus identifiziert ist und dessen spezifische Übertragungseigenschaften bekannt sind.»

Die Maskenbefürworter

Neben dem Pandemieplan, der zwei Jahre vor der Corona-Pandemie verfasst wurde, gab es aber auch Fachleute, die sich für das Tragen einer Maske einsetzten. Allen voran Alexander Kekulé, Virologe und Direktor des Instituts für medizinische Mikrobiologie an der Universitätsklinik in Halle. Kekulé wurde in Deutschland zu einem der meistgefragten Experten. Gegenüber dem «Beobachter» sagte der Wissenschaftler Anfang April, dass er beim Einkaufen stets eine Maske trage.

🗣️ Alexander Kekulé, Virologe

«Zu einer Tröpfcheninfektion kann es kommen, wenn jemand einen anhustet oder anspricht mit feuchter Aussprache. Mit einer Maske, die Sekrettröpfchen vor Nase und Mund abfängt, kann man das verhindern.»
01.04.2020beobachter

Ähnlich sah es auch der Mikrobiologe Yuen Kwok-yung aus Hongkong. Bereits Anfang März erklärte er, dass das Tragen einer Schutzmaske ein wesentlicher Bestandteil sei, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern.

🗣️ Yuen Kwok-yung, Mikrobiologe

«Tragen Sie eine Maske, um nicht nur sich selbst zu schützen, sondern auch andere. Denn wenn Sie infiziert, aber asymptomatisch sind, dann können Sie die Ausbreitung des Virus durch das Tragen einer Maske stoppen.»

Das Paper der Corona-Taskforce

Auch die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes thematisierte am 20. April, also zwei Tage vor den behördlichen FAQ, inwiefern Schutzmasken im Kampf gegen die Pandemie helfen können. In einer Nutzen-Risiko-Abschätzung kam die Taskforce zum Schluss, dass das Tragen von Masken sehr wohl etwas gegen die Ausbreitung des Virus bringe. Zudem gebe es keine Studien, die darauf hinweisen würden, dass die Handhygiene vernachlässigt werde, wenn man eine Maske trägt.

📝 Policy Brief, Taskforce

«In the face of the COVID-19 pandemic, risk-benefit is largely in favor of generalized mask wearing in association with hand hygiene wherever social distancing cannot be maintained. Although no study demonstrated that hand hygiene was reduced by mask wearing, focusing on masks alone may, on common grounds, reduce the perceived importance of hand hygiene. The generalized wearing of masks must therefore be implemented together with equally generalized hand hygiene and social distancing, and must be communicated as part of a broader, coherent, package of preventive measures for the entire community.»
Policy Brief vom 20.04.2020quelle: sciencetaskforce.ch

Die interne Kritik

Die anfängliche Kommunikationsstrategie wurde auch intern kritisiert. So merkte am 30. März ein Vertreter der Zollverwaltung an, dass das Grenzpersonal bezüglich der Schutzmaskenfrage «sehr verunsichert» sei. In der Schweiz gebe es keine Maskenpflicht, während Österreich das Tragen von Schutzmasken im öffentlichen Raum verordnet habe und auch die Armee ihren Panzerfahrern die gleiche Anweisung erteile, hiess es im Tages-Anzeiger.

Ein BAG-Vertreter erklärte darauf, dass nach wie vor das Gesundheitspersonal mit Masken versorgt werden müsse. Und er fügte an: «Es wird aber klar festgehalten, dass ein allfälliger Entscheid zum Tragen von Masken aufgrund des Druckes von aussen auf der politischen Stufe gefällt wird und nicht aus epidemiologischer Sicht.»

Die grosse Kehrtwende

Die grosse Wende folgte im Sommer. Am 1. Juli beschloss der Bundesrat eine Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf die Frage, warum lange auf eine Maskenpflicht verzichtet worden sei, antwortete das BAG in einer Publikation direkt selbst:

📝 FAQ neues Coronavirus, BAG

13. Über lange Zeit hielt das BAG an der Aussage fest, dass Masken gesunde Menschen im öffentlichen Raum nicht schützen. Warum werden sie jetzt trotzdem obligatorisch?

Wer eine Maske trägt, schützt die anderen. Wer infiziert ist, kann bereits zwei Tage vor Auftreten der Symptome ansteckend sein, ohne es zu wissen.
Wenn auf engem Raum alle eine Maske tragen, wird jede Person von den anderen geschützt. Auch wenn damit kein hundertprozentiger Schutz gewährleistet ist, verlangsamt sich so die Ausbreitung des Virus.

Fazit

Wenn Berset sagt, er hätte die Position der Wissenschaft mehr hinterfragen sollen, bleibt unklar, wen oder was er genau damit meint. Kritisiert er damit womöglich seinen ehemaligen Abteilungsleiter Daniel Koch? Oder die Expertinnen und Experten der Taskforce?

Der Bund rief die wissenschaftliche Taskforce jedoch erst am 31. März ins Leben. Und diese riet bereits kurze Zeit später zum Tragen einer Maske.

Auch namhafte Wissenschaftler plädierten bereits im Frühjahr 2020 dafür, Masken im öffentlichen Raum zu tragen.

Und dann ist da noch der Pandemieplan von 2018: Die Behörden wussten bereits zwei Jahre vor der Pandemie durch Studien, dass Hygienemasken helfen können, Virusübertragungen zu stoppen.

In einem Urner Altersheim haben sich rund 30 Bewohnerinnen und Bewohner mit dem Coronavirus angesteckt. (Themenbild)
Unterdessen ist die Hygienemaske aus dem Alltag fast nicht mehr wegzudenken. Bild: sda

Hat der Gesundheitsminister diesen Pandemieplan gelesen? Hätte nicht dieser ihm Hinweise und Studien geliefert, dass eine Maskenpflicht womöglich doch nicht so abwegig ist?

Vielleicht liegt genau dort die Erklärung: Der Pandemieplan warnte davor, dass die Akzeptanz der Hygienemaske in der Schweizer Bevölkerung tief sei. Und eine Tragepflicht erst dann ausgesprochen werden soll, wenn mehr über das Virus bekannt ist.

Anfang März wusste man noch sehr wenig über das Coronavirus. Einerseits fehlte es an allen Ecken und Enden an Schutzmaterial, andererseits konnte man noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen, dass Hygienemasken tatsächlich vor Coronavirusinfektionen schützen. Man zögerte also mit einer Maskenpflicht. Dieses Zögern erklärte Berset nun aber mit der fehlenden kritischen Distanz zur Wissenschaft – nicht aber mit fehlendem Mut.

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98 Kommentare
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Reli
21.05.2021 19:01registriert Februar 2014
Man kann das Abstreiten, so viel man will: Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat man vom Maskentragen abgeraten, weil die wenigen vorhanden Masken für das Gesundheitspersonal gebraucht wurden. Vielleicht war das damals sogar die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass sich jede und jeder auf die wenigen Masken stürzt. Die Glaubwürdigkeit von BAG und Bundesrat hat unter dieser Aussage aber sicher etwas gelitten.
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Waschgiri
21.05.2021 18:46registriert September 2014
Man wusste damals auch noch nicht soviel über Aerosole... Warum er nicht damit argumentiert, sondern jetzt die populären Wissenschaftskritiker stützt, ist mir schleierhaft und erstaunt mich etwas bei Berset. Aber möglicherweise “mag er eifach au nümme”.
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Garp
21.05.2021 19:11registriert August 2018
Man wusste bereits über die grösseren Tröpfchen bescheid, dass da Masken helfen. Man hatte aber keine Masken und auch Desinfektionsmittel bekam man am Anfang der Epidemie keines mehr. Lager aufgelöst, keine Masken an Lager, Pflegebetriebe nicht überprüft usw. .

Unter Selbstkritik versteh ich etwas anderes, Herr Berset. Ihr Departement war schlichtweg schlecht geführt.

Ein Bundesvideo, wie man Masken richtig trägt gab es auch nie.
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