In seinen Skiferien im Februar 2020 wurde Gesundheitsminister Alain Berset klar, dass das Coronavirus immer näher kommt. Er brach die Ferien ab und kehrte zurück nach Bern. Seither kämpft der 49-Jährige an vorderster Front gegen die Pandemie.
Fragte man den Bundesrat bisher jeweils nach Fehlern, die in der Anfangsphase im Kampf gegen die Pandemie passiert waren, folgten unkonkrete Antworten. Es sei zu früh, um ein Fazit zu ziehen. Oder auch mal vage: Natürlich habe man nicht alles richtig gemacht. Es sei ja auch alles neu gewesen, so das Credo.
Nun wurde der Gesundheitsminister ein erstes Mal konkreter: Im Gespräch mit SRF-Moderator Urs Gredig in der Sendung «Gredig direkt» sagte Berset, dass es nicht immer das Beste gewesen sei, sich die Position der Wissenschaft anzuhören und diese umzusetzen. Das habe dazu geführt, «dass wir behaupteten, dass Masken sogar schädlich sein könnten.»
Die «Wissenschaft» habe der Bevölkerung nicht zugetraut, Hygienemasken richtig anzuwenden, und deshalb davon abgeraten, erinnerte sich Berset. «Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich das mehr hätte hinterfragen müssen», gab Berset zu.
Die Aussage erstaunt. Und lässt einige Fragen offen: Kratzt Berset damit an der Glaubwürdigkeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern? Was meint Berset genau mit «der Wissenschaft»? Welche Expertinnen und Experten warnten vor dem Tragen einer Schutzmaske? Wer sagte was zuerst?
Ein Protokoll.
Am 25. Februar 2020 hielt der Bundesrat seine erste Pressekonferenz zu Covid-19 ab. Viele würden folgen. In besonderer Erinnerung blieb jene vom 16. März, als der Bundesrat die Situation in der Schweiz als «ausserordentliche Lage» einstufte. Er schloss Schulen, Läden, Bars und Restaurants.
Kurz darauf wurde auch die Frage zu den Schutzmasken immer relevanter: Immer mehr Länder rund um die Schweiz führten eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum ein. Die Schweiz zögerte. In einem Interview mit dem SRF sagte «Mr. Corona» Daniel Koch, der damalige Leiter der Abteilung für übertragbare Krankheiten des BAG:
Im gleichen «10vor10»-Beitrag stellte sich auch Enea Martinelli, Chefapotheker Spitäler FMI AG, auf die Seite von Koch:
Und auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab sich kritisch. So verkündete ihr Nothilfedirektor Michael Ryan:
Knapp einen Monat später riet man beim BAG weiter vom Tragen einer Hygienemaske ab. In einem PDF, erstellt am 22. April 2020, hiess es, dass Masken nicht genügend vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen würden.
Daniel Koch und das BAG rieten Ende März 2020 zwar der Allgemeinheit davon ab, eine Maske zu tragen. Der Bund war gleichzeitig aber auch fieberhaft auf der Suche nach dem Schutzmaterial. Am 23. März rief Koch gar zur Maskenspende auf: «Personen, die viele Masken zu Hause haben, könnten sie zum Beispiel den lokalen Pflege- und Altersheimen schenken».
#CoronaInfoCH#DanielKoch: «Personen, die viele Masken zu Hause haben, könnten sie zum Beispiel den lokalen Pflege- oder Altersheimen schenken. Dort werden sie gebraucht.»
— BAG – OFSP – UFSP (@BAG_OFSP_UFSP) March 24, 2020
Viele kritische Stimmen zur Maskenpflicht also. Doch das klang nicht immer so. Im Pandemieplan, den das BAG 2018 publizierte, steht: «Hygienemasken können einerseits bei bereits Infizierten die Ausbreitung der Keime durch Tröpfcheninfektion reduzieren, andererseits gesunde Personen bis zu einem gewissen Grad vor einer Ansteckung schützen.» Zudem hätten Studien von 2003 mit dem SARS-Virus gezeigt, dass die Übertragung von Viren mit Schutzmasken eingeschränkt werden könne.
Allerdings heisst es im Pandemieplan auch, dass die Akzeptanz von Hygienemasken in der Bevölkerung relativ klein sei. Deshalb könne eine Maskenpflicht erst dann angeordnet werden, «wenn das zukünftige Pandemievirus identifiziert ist und dessen spezifische Übertragungseigenschaften bekannt sind.»
Neben dem Pandemieplan, der zwei Jahre vor der Corona-Pandemie verfasst wurde, gab es aber auch Fachleute, die sich für das Tragen einer Maske einsetzten. Allen voran Alexander Kekulé, Virologe und Direktor des Instituts für medizinische Mikrobiologie an der Universitätsklinik in Halle. Kekulé wurde in Deutschland zu einem der meistgefragten Experten. Gegenüber dem «Beobachter» sagte der Wissenschaftler Anfang April, dass er beim Einkaufen stets eine Maske trage.
Ähnlich sah es auch der Mikrobiologe Yuen Kwok-yung aus Hongkong. Bereits Anfang März erklärte er, dass das Tragen einer Schutzmaske ein wesentlicher Bestandteil sei, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern.
Auch die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes thematisierte am 20. April, also zwei Tage vor den behördlichen FAQ, inwiefern Schutzmasken im Kampf gegen die Pandemie helfen können. In einer Nutzen-Risiko-Abschätzung kam die Taskforce zum Schluss, dass das Tragen von Masken sehr wohl etwas gegen die Ausbreitung des Virus bringe. Zudem gebe es keine Studien, die darauf hinweisen würden, dass die Handhygiene vernachlässigt werde, wenn man eine Maske trägt.
Die anfängliche Kommunikationsstrategie wurde auch intern kritisiert. So merkte am 30. März ein Vertreter der Zollverwaltung an, dass das Grenzpersonal bezüglich der Schutzmaskenfrage «sehr verunsichert» sei. In der Schweiz gebe es keine Maskenpflicht, während Österreich das Tragen von Schutzmasken im öffentlichen Raum verordnet habe und auch die Armee ihren Panzerfahrern die gleiche Anweisung erteile, hiess es im Tages-Anzeiger.
Ein BAG-Vertreter erklärte darauf, dass nach wie vor das Gesundheitspersonal mit Masken versorgt werden müsse. Und er fügte an: «Es wird aber klar festgehalten, dass ein allfälliger Entscheid zum Tragen von Masken aufgrund des Druckes von aussen auf der politischen Stufe gefällt wird und nicht aus epidemiologischer Sicht.»
Die grosse Wende folgte im Sommer. Am 1. Juli beschloss der Bundesrat eine Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Auf die Frage, warum lange auf eine Maskenpflicht verzichtet worden sei, antwortete das BAG in einer Publikation direkt selbst:
Wenn Berset sagt, er hätte die Position der Wissenschaft mehr hinterfragen sollen, bleibt unklar, wen oder was er genau damit meint. Kritisiert er damit womöglich seinen ehemaligen Abteilungsleiter Daniel Koch? Oder die Expertinnen und Experten der Taskforce?
Der Bund rief die wissenschaftliche Taskforce jedoch erst am 31. März ins Leben. Und diese riet bereits kurze Zeit später zum Tragen einer Maske.
Auch namhafte Wissenschaftler plädierten bereits im Frühjahr 2020 dafür, Masken im öffentlichen Raum zu tragen.
Und dann ist da noch der Pandemieplan von 2018: Die Behörden wussten bereits zwei Jahre vor der Pandemie durch Studien, dass Hygienemasken helfen können, Virusübertragungen zu stoppen.
Hat der Gesundheitsminister diesen Pandemieplan gelesen? Hätte nicht dieser ihm Hinweise und Studien geliefert, dass eine Maskenpflicht womöglich doch nicht so abwegig ist?
Vielleicht liegt genau dort die Erklärung: Der Pandemieplan warnte davor, dass die Akzeptanz der Hygienemaske in der Schweizer Bevölkerung tief sei. Und eine Tragepflicht erst dann ausgesprochen werden soll, wenn mehr über das Virus bekannt ist.
Anfang März wusste man noch sehr wenig über das Coronavirus. Einerseits fehlte es an allen Ecken und Enden an Schutzmaterial, andererseits konnte man noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen, dass Hygienemasken tatsächlich vor Coronavirusinfektionen schützen. Man zögerte also mit einer Maskenpflicht. Dieses Zögern erklärte Berset nun aber mit der fehlenden kritischen Distanz zur Wissenschaft – nicht aber mit fehlendem Mut.
Unter Selbstkritik versteh ich etwas anderes, Herr Berset. Ihr Departement war schlichtweg schlecht geführt.
Ein Bundesvideo, wie man Masken richtig trägt gab es auch nie.