Die Schweizer Politik ist nicht bekannt für grosse Würfe. Dieses Jahr aber könnte sich Historisches ereignen. «Elisabeth hat die Chance, in die Geschichte einzugehen», sagte der Waadtländer SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard der «NZZ am Sonntag» in Anspielung auf Parteikollegin Baume-Schneider, die neue Vorsteherin des Innendepartements.
Für den Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) soll die Bundesrätin, zu der ihm ein direkter Draht nachgesagt wird, in die Fussstapfen von Hans-Peter Tschudi treten. Der SP-Sozialminister hatte die AHV/IV in den 1960er-Jahren in mehreren Schritten massiv ausgebaut. Nun könnte ein weiterer «Meilenstein» folgen.
Am 3. März, in knapp acht Wochen, wird über die SGB-Initiative für eine 13. AHV-Rente abgestimmt. Die Initianten lancieren am Dienstag ihre Kampagne. Sie tun dies mit viel Rückenwind. Erste Umfragen zeigen eine hohe Zustimmung zum Ausbau der AHV. Selbst die Anhängerschaft der bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte ist mehrheitlich dafür.
Im Juni folgt vermutlich der nächste «Streich» – mit der Prämienentlastungs-Initative der SP. In einer repräsentativen watson-Umfrage von Ende August 2023 waren fast 70 Prozent tendenziell für einen Kostendeckel bei den Krankenkassenprämien. Das war vor dem starken Anstieg, den Baume-Schneiders Vorgänger Alain Berset ankündigen musste.
Volksinitiativen starten oft mit hohen Zustimmungswerten, nur um am Ende «abzustürzen». Das gilt in verstärktem Mass, wenn sie einen Ausbau des Sozialstaats anstreben. Noch nie seit der Einführung des Initiativrechts 1891 habe eine solche Initiative eine Mehrheit erreicht, schrieb der Politgeograf Michael Hermann in seiner Kolumne in der «NZZ am Sonntag».
Ein auch international stark beachtetes Beispiel war die Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle», die 2012 von einer Zweidrittel-Mehrheit abgelehnt worden war. Es ging nur bedingt um einen Sozialausbau, dennoch gilt das klare Nein als Musterbeispiel für die Zurückhaltung der Schweizer Bevölkerung gegenüber mehr staatlichen Wohltaten.
Ändert sich das jetzt? «Das Jahr 2024 könnte als Wendepunkt in die Geschichte der Schweizer Sozialpolitik eingehen», meint Michael Hermann. Die Initiativen zu AHV und Krankenkasse träfen «den Nerv der Zeit». Immer mehr Menschen spürten, dass «der ‹Deal› für sie nicht mehr stimmt und es für sie nicht mehr aufgeht», sagte Pierre-Yves Maillard im Interview.
Wirtschaftsverbände und bürgerliche Parteien sind entsprechend besorgt. Die Kampagne gegen die 13. AHV-Rente – angeführt von der SVP – dürfte sich auf das Giesskannenprinzip fokussieren und an den Neid des Stimmvolks appellieren. Denn von einer 13. AHV-Rente würden auch Gutverdienende profitieren sowie Pensionierte, die im Ausland leben.
Erstere hätten den Zustupf nicht nötig, und bei Letzteren habe der effektive Wert ihrer AHV-Rente dank des starken Frankens erheblich zugenommen, wie die «NZZ am Sonntag» vorrechnete. Die Initianten kontern, dass Leute mit hohen Einkommen viel mehr in die AHV einzahlen als Normalverdiener, weil es in der Schweiz keinen «Lohndeckel» für Rentenabzüge gibt.
Ob das Neid-Argument ziehen wird, ist fraglich. Vom «AHV-Bonus» profitieren auch und gerade heutige Rentnerinnen und Rentner, anders als beim 70-Franken-Zustupf in der 2017 gescheiterten Altersvorsorge 2020. Als drittes Nein-Argument werden deshalb die mit der Zusatzrente verbundenen Kosten – gemäss Bund rund vier Milliarden Franken – angeführt.
Die Initianten verweisen auf den gut gefüllten AHV-Ausgleichsfonds, doch er leert sich wegen der Babyboomer-Pensionierungswelle. Ohne Mehreinnahmen wird es kaum gehen, sei es durch höhere Lohnabzüge, Bundesbeiträge oder Steuern. Selbst Gewerkschaftsboss Maillard schliesst nicht aus, «dass in fünf bis zehn Jahren eine Zusatzfinanzierung nötig wird».
Es ist nicht undenkbar, dass eine hochtourige Nein-Kampagne die 13. AHV-Rente noch zum Absturz bringen wird. Bei der Prämien-Initiative der SP, über die vermutlich am 9. Juni abgestimmt wird, werden es die Bürgerlichen schwerer haben. Neidgefühle lassen sich kaum mobilisieren, denn von der Initiative würde vor allem der Mittelstand profitieren.
Er fällt im heutigen System der Prämienverbilligungen häufig durch das Raster, was vor allem Familien immer stärker zu spüren bekommen. Die Initiative der SP verlangt, dass Versicherte «höchstens zehn Prozent des verfügbaren Einkommens» für Prämien aufwenden müssen. Davon sind Menschen mit höheren Einkommen praktisch nie betroffen.
Die Gegner können fast nur mit den Kosten punkten, die auch in diesem Fall beträchtlich ausfallen dürften. Bund und Kantone werden die Prämien deutlich stärker subventionieren müssen als heute. Die Drohung mit milliardenschweren Mehrausgaben aber habe «in Zeiten von Corona-Krediten und CS-Garantien» an Schrecken verloren, glaubt Michael Hermann.
Zwar hat die erzwungene Übernahme der Credit Suisse durch die UBS den Bund keinen Rappen gekostet. Er hat im Gegenteil eine «Prämie» von 200 Millionen Franken kassiert. Doch der «Blick» rechnete vor, dass die kollabierte Grossbank seit der Finanzkrise 2008 insgesamt nur 800 Millionen Franken Gewinn gemacht, aber 40 Milliarden an Boni ausbezahlt habe.
Mit solchen Argumenten kann auch die Linke trefflich an Neidgefühle appellieren. Und sie verbindet einige Erwartungen mit der zuständigen Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, obwohl sie von Amtes wegen beide Volksinitiativen zur Ablehnung empfehlen muss. Bundesräte sollten «mit einer gewissen Zurückhaltung auftreten», meint Ständerat Maillard.
Er traut es seiner Mitstreiterin offenbar zu, trotz den Einschränkungen durch ihre Rolle im Bundesrat die richtigen Akzente zu setzen. Den Bürgerlichen scheint es langsam zu dämmern, dass ihre Mehrheit im Bundesrat sich womöglich bös verrechnet hatte, als sie der Sympathieträgerin aus dem Jura offenbar kampflos das Innendepartement überliess.
Michael Hermann sieht Baume-Schneider schon in der Rolle «der emphatischen, volksnahen Gegenspielerin» zur mächtigen, den Sparhammer schwingenden Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP). Zu deren «Entsetzen» könnten die Weichen «Richtung Volkspension und Einheitskasse» gestellt werden, zwei jahrzehntealte «Wunschträume» der Linken.
Hermann ist kein «Rechter», doch selbst er fürchtet um «eine wesentliche Stärke dieses Landes», wenn die Zurückhaltung der Bevölkerung beim Sozialausbau verloren gehe. Abstimmungen müssen gewonnen werden, und für Volksinitiativen gilt dieser Befund erst recht. Dennoch könnte 2024 zu einem Schweizer «Sozial-Wendejahr» werden.
Ihre jahrelange rücksichtslose Politik fürs eigene Kässeli ist berechtigter Grund dafür. Sie pressen den Mittelstand abwärts massloss aus. Seit Jahren. Gerade in der Gesundheitspolitik.
Während und nun auch nach der Pandemie wurden und werden Milliarden von vorhandenen und nicht vorhandenen (Schulden) Bundesgeldern in alle Richtungen ausgegeben, meist mit dem Hinweis auf einen Sachzwang. Da fragen sich selbstverständlich viele Leute zu Recht, warum man gerade bei der AHV – dem Sozialwerk mit dem grossen Umverteilungseffekt – die Bremse ziehen soll, wo doch die Kaufkraft wegen der Inflation sinkt.