Die Schweiz gilt als Land der vielen Volksabstimmungen. In letzter Zeit aber traf dieses Klischee auf eidgenössischer Ebene kaum noch zu. 2023 wurde nur am 18. Juni über drei Vorlagen abgestimmt: die OECD-Mindeststeuer, das Klimaschutz- und das Covid-Gesetz. Zuvor waren bereits zwei Termine mangels abstimmungsreifer Vorlagen gecancelt worden.
Nur ein Abstimmungssonntag in 18 Monaten: Das ist ungewöhnlich, lässt sich aber auch damit erklären, dass in der zweiten Hälfte eines Wahljahres in der Regel nicht über Sachthemen abgestimmt wird. Das hat zu einem «Pendenzenberg» geführt, der 2024 abgetragen werden muss. Das Stimmvolk ist gefordert, ebenso der Bundesrat.
Zwei Mitglieder stechen dabei heraus: UVEK-Vorsteher Albert Rösti (SVP) wird bis zu drei Vorlagen vertreten müssen. Richtig schwer aber wird es für Elisabeth Baume-Schneider (SP), die gerade Alain Berset im Departement des Innern (EDI) abgelöst hat. Im Extremfall muss sie siebenmal antreten, in vier Fällen gegen die eigene linksgrüne Wählerschaft.
Von einer 100-Tage-Schonfrist kann die Jurassierin nicht einmal träumen. Schon am 3. März ist sie bei zwei delikaten Vorlagen gefordert, der Volksinitiative des Gewerkschaftsbunds für eine 13. AHV-Rente und der Initiative der Jungfreisinnigen, die das Rentenalter auf 66 Jahre erhöhen und danach an die Lebenserwartung koppeln will.
Sie wird es beim Stimmvolk schwer haben. Die Aussicht auf eine 13. AHV-Rente hingegen stösst in den ersten Umfragen sogar bei der Basis der bürgerlichen Parteien auf grossen Zuspruch. Die Genfer SVP-Kantonalsektion hat die Ja-Parole beschlossen. Und schon am nächsten Dienstag wird das Initiativkomitee seinen Abstimmungskampf eröffnen.
Elisabeth Baume-Schneider muss somit gleich zu Beginn ihrer Amtszeit im EDI eine heikle Gratwanderung absolvieren und die Nein-Parole von Bundesrat und Parlament vertreten. Ein ähnliches Problem hatte Albert Rösti mit dem Klimaschutz-Gesetz. Er «löste» es, indem er den Einsatz für ein Ja auf ein für die SVP verträgliches Minimum beschränkte.
Für EBS aber ist die 13. AHV-Rente nur der Anfang. Auch bei der Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) muss sie gegen SP und Gewerkschaften antreten. Sie bekämpfen die komplexe Vorlage mit dem Referendum und dürften die «Rentenklau»-Kampagne von 2010 neu aufleben lassen. Die Abstimmung wird im Juni oder im September stattfinden.
Ziemlich sicher am 9. Juni wird über zwei Volksbegehren zur Gesundheitspolitik abgestimmt: die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei und die Prämienentlastungs-Initiative der SP. In der Planung der Bundeskanzlei waren sie eigentlich für den 3. März vorgesehen. Die Initiativkomitees mussten bereits ihre Texte für das Abstimmungsbüchlein einreichen.
Die bürgerliche Mehrheit im Bundesrat aber bevorzugte in letzter Minute die Initiativen zur Altersvorsorge. Die Spitzen von Mitte und SP wetterten und witterten einen «Komplott». Mit der Verschiebung auf den Juni verbinde der Bundesrat die Hoffnung, der Zorn über den Anstieg der Krankenkassenprämien werde bis dann einigermassen «verraucht» sein.
Derartige Verzögerungs-Manöver aber haben schon in früheren Fällen nicht funktioniert, etwa bei Thomas Minders Abzocker-Initiative. Auch die SP-Initiative hat eine beträchtliche Erfolgschance, denn selbst der Mittelstand spürt die Belastung durch die stetig steigenden Krankenkassenprämien. Es ist ein weiterer heikler Fall für Baume-Schneider.
Und der nächste folgt sogleich: Die im Dezember verabschiedete einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen im Gesundheitswesen und in der Pflege (EFAS) wird von der Gewerkschaft VPOD bekämpft. Die Gesundheitsministerin wird besonders gefordert sein, denn die Reform wurde als grosser Durchbruch gefeiert.
Vielleicht wird die Abstimmung erst 2025 stattfinden, denn noch eine Vorlage aus dem EDI ist abstimmungsreif: die von Corona- und Impfskeptikern lancierte Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit». Sie bekämpft eine imaginäre Impfpflicht und wird von Bundesrat und Parlament ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfohlen.
Albert Rösti als Chef des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) bekommt dieses Jahr ebenfalls einiges zu tun, wenn auch nicht so viel wie Kollegin Baume-Schneider. Am 9. Juni dürfte die Biodiversitäts-Initiative vors Volk kommen, auch weil ein moderater Gegenvorschlag am Widerstand der Bauern gescheitert ist.
Nächste Woche wird zudem das unter Führung des VCS lancierte Referendum gegen den vom Parlament beschlossenen Autobahn-Ausbau eingereicht. Die Abstimmung dürfte im Juni oder September stattfinden. Trotz einer breiten linksgrünen Gegnerschaft könnte die Vorlage laut einer watson-Umfrage angenommen werden.
Noch offen ist, ob das Referendum gegen den sogenannten Mantelerlass für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien zustande kommt. Es wird «nur» von kleineren Umweltorganisationen getragen. Einzig die Fondation Franz Weber verfügt über eine gewisse Schlagkraft. Die Zeit ist knapp, denn die Referendumsfrist endet am 18. Januar.
Bundesrat Rösti hat gegenüber Baume-Schneider den Vorteil, dass er bei keiner Vorlage gegen die eigenen Leute antreten muss. Eine Nein-Parole der SVP zum Mantelerlass wäre zwar möglich, ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Gewichtige Exponenten sehen die Vorlage kritisch, doch eine Mehrheit der Fraktion votierte in der Schlussabstimmung mit Ja.
Neben den beiden «Schwerarbeitern» ist in diesem Jahr beim heutigen Stand nur ein Bundesrat gefordert: Wirtschaftsminister Guy Parmelin muss die vom Parlament beschlossene Änderung des Mietrechts verteidigen, nachdem der Mieterinnen- und Mieterverband gegen zwei Teilaspekte das «Doppel-Referendum» gestemmt hat.
Andere Abstimmungen sind nicht absehbar. Mehrere Volksinitiativen wurden eingereicht, befinden sich aber in der Frühphase der Behandlung durch Bundesrat und Parlament. Eine Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes wurde vom Parlament im Grundsatz beschlossen, doch nun muss der Bundesrat erst die entsprechende Revision ausarbeiten.
Es könnte sein, dass es nach dem Abstimmungsmarathon 2024 vorerst etwas ruhiger wird. Für Elisabeth Baume-Schneider ist der Grosseinsatz auch gegen die eigenen Leute Fluch und Segen zugleich. Er könnte das Verhältnis zu ihrer Partei beschädigen, bietet aber die Chance, ihr Image als Fehlbesetzung im Bundesrat nachhaltig zu korrigieren.