«Für eine zertifikatsfreie, maskenfreie & massnahmenfreie Stadt Zürich!» Mit diesem unmissverständlichen Slogan trat eine Gruppierung namens Freie Liste zu den Wahlen vom Sonntag an. Sie tat dies mit einigem Aufwand: Auf den Plakatwänden in der Stadt war die Freie Liste omnipräsent, und sie verteilte Flyer an die Zürcher Haushalte.
Die Ausgangslage war gar nicht so schlecht. Selbst im linksgrünen Zürich hatten rund ein Viertel der Stimmberechtigten am 28. November 2021 das Covid-Gesetz abgelehnt. Dieses Potenzial aber konnte die Freie Liste bei Weitem nicht ausschöpfen. Die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Gemeinderat verpasste sie in sämtlichen Wahlkreisen deutlich.
Bei der Stadtratswahl blieben ihre fünf Kandidierenden genauso klar auf der Strecke. Das beste Resultat erzielte Josua Dietrich, der auch für das Stadtpräsidium kandidiert hatte, mit knapp 7000 Stimmen. Das verweist auf einen Teil des Problems: Für die Freie Liste traten Leute an, die niemand kannte. Namen mit Zugkraft suchte man vergebens.
Das gilt für die Corona-Skeptiker generell. Dabei haben sie grosse Pläne. Wie einst die 68er wollen sie den Marsch durch die Institutionen antreten und schweizweit an Wahlen teilnehmen. Nach der Abstimmung im letzten November wurde der Verein «Aufrecht Schweiz» gegründet, der sich nicht als Partei, sondern als Bürgerrechtsbewegung definiert.
Erstmals unter diesem Label antreten wollen sie bei den Wahlen in Nid- und Obwalden sowie Bern im März. Das Potenzial wäre auch in diesen Fällen vorhanden, vor allem in den beiden Innerschweizer Halbkantonen. Doch wie die Freie Liste in Zürich werden sie es schwer haben, auch nur einen Sitz in einem der Kantonsparlamente zu erobern.
Der Marsch durch die Institutionen ist für die Massnahmen-Gegner ein steiniger Weg. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Zweimal hat das Schweizer Stimmvolk letztes Jahr über das Covid-19-Gesetz abgestimmt, jeweils nach einem Referendum unter Federführung der «Freunde der Verfassung». Vor allem die Abstimmung im November wurde von ihnen zu einer Schicksalsfrage und zu einem Plebiszit über die Corona-Politik des Bundes (Stichwort Zertifikat) hochstilisiert.
Mit entsprechendem, auch finanziellem Aufwand führten sie den Abstimmungskampf, doch die geimpfte Mehrheit sagte noch klarer Ja als im Juni. Anfangs führte dies zu einer Trotzreaktion: Führende Köpfe der Bewegung kündigten die Schaffung einer «Parallelgesellschaft» nach dem Vorbild des Kulturkampfs im 19. Jahrhundert an.
Materialisiert hat sich bislang gar nichts. Die Ohrfeige durch das Stimmvolk scheint die Massnahmen-Gegner im Gegenteil niedergestreckt zu haben. Die Bewegung «Mass-voll» hat sich gespalten, die «Freunde der Verfassung», mit rund 25’000 Mitgliedern auf dem Papier grösser als Grüne und Grünliberale zusammen, sind durch personelle Querelen gelähmt.
Von anderen Gruppierungen hört man überhaupt nichts mehr. Die Proteste auf der Strasse sind nur ein Abklatsch der letztjährigen Demos. Es gab Bemühungen von Rechtsextremen, sie zu instrumentalisieren, zuletzt am Samstag in Zürich. Ein Versuch von letzter Woche, Bern im Stil der Trucker-Proteste in Kanada lahmzulegen, war ebenfalls ein Reinfall.
Die Proteste gegen die Corona-Massnahmen und Distanz zum Staat sind der gemeinsame Nenner der Skeptiker-Bewegung. Bei anderen politischen Themen liegen die Positionen teilweise weit auseinander. Das zeigt eine Befragung der SRF-Sendung «Schweiz aktuell» von vier Kandidierenden von «Aufrecht Schweiz» für den Berner Grossen Rat.
Die Smartvote-Profile der beiden Kandidaten für den Regierungsrat sind ebenfalls nicht sonderlich deckungsgleich. Dies erschwert die Schärfung des Profils und die Bildung von Allianzen mit anderen Parteien. Hinzu kommt das Problem, das auch der Freien Liste in Zürich zu schaffen machte: Den Skeptikern fehlen bekannte und prägnante Köpfe.
Es hapert jedoch nicht nur mit der «Qualität», sondern auch mit der Quantität. Für den 60-köpfigen Nidwaldner Landrat konnte «Aufrecht Schweiz» nur drei Kandidaten auftreiben, die im Halbkanton kaum jemand kennt. Im benachbarten Obwalden fand der Verein überhaupt niemanden, der für das Kantonsparlament oder die Regierung kandidieren wollte.
Etwas besser sieht es in Bern aus, dort bewerben sich 69 Personen für einen der 160 Sitze im Grossen Rat. Allerdings schwächt sich «Aufrecht Bern», wie die Bewegung hier heisst, gleich selbst, denn ausgerechnet im massnahmenkritischen Berner Oberland, wo ein Erfolgspotenzial vorhanden wäre, konnte sie keine Wahlliste zusammenstellen.
Chancen hätte sie auch im Berner Jura, wie der Politanalyst Mark Balsiger berechnete: «Es gibt dort viele Freikirchen, die Menschen in dieser Region fühlen sich seit langem von der Hauptstadt abgehängt. Zudem war der Nein-Anteil beim Covid-Gesetz im November entgegen dem nationalen Trend sogar höher als Juni.» Doch auch in diesem Wahlkreis fand «Aufrecht Bern» nur zwei Kandidierende, denen Balsiger keine Wahlchance gibt. «Es ist wie ein Naturgesetz: Bei Parlamentswahlen braucht es volle Listen.»
«Aufrecht Schweiz» schickt im Kanton Bern 2 Männer in den #Regierungsratswahlkampf: Mark Steiner & Joshua Baumann. Für das Parlament sind es 69 Kandis. Im massnahmenkritischen Jura bernois braucht es ca. 7,5% für 1 Sitz aus eigener Kraft. Vgl: https://t.co/J07uf0Ms34 #WahlBE22 pic.twitter.com/yxIiH6unBT
— Mark Balsiger (@Mark_Balsiger) January 17, 2022
Von den wenigen Figuren mit einer gewissen nationalen Bekanntheit ist ebenfalls wenig zu erwarten. Nicolas Rimoldi von «Mass-voll» und Michael Bubendorf, der ehemalige Sprecher der «Freunde der Verfassung», sind als Libertäre auf Distanz zur institutionellen Politik. Interesse hat allenfalls Josef Ender, das «Gesicht» der Nein-Kampagne im November.
Er könne sich vorstellen, bei den Wahlen in seinem Heimatkanton Schwyz im nächsten Jahr zu kandidieren, sagte Ender der NZZ. Auch Schwyz ist potenziell ein guter Boden für die Corona-Skeptiker. Allerdings könnte ihnen die Luft ausgehen, wenn der Bundesrat wie allgemein erwartet die Corona-Massnahmen am Mittwoch weitgehend aufheben sollte.
Die Chance auf Wahlerfolge ist in diesem Fall noch geringer. Mark Balsiger sieht darin aber nicht nur Vorteile. «Ich bin in dieser Hinsicht ambivalent», sagte er zu watson. Bei einem Einzug in die Parlamente würden die Vertreter von «Aufrecht Schweiz» sichtbar bleiben. «Wenn sie in eine Parallelwelt abtauchen, wird es schwierig, diese Leute zu erreichen.»
Es ist möglich, dass die Skeptiker sich auch dann in ihrem «Paralleluniversum» einigeln werden, wenn die Corona-Massnahmen der Vergangenheit angehören. Der Marsch durch die Institutionen aber dürfte sehr bald im Nirgendwo enden.
Wer von Pharmamafia, Diktatur schwafelt, disqualifiziert sich für weiteres