Schweizerinnen und Schweizer können sich sicher sein: Ihre persönliche Freiheit wird durch die Bundesverfassung garantiert. In Artikel 10 ist das Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit festgeschrieben. Doch die Frage ist: Reicht diese Formulierung in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung noch aus?
Wir alle sind im Netz mit immer mehr und immer sensibleren Daten exponiert. Im Gleichschritt steigen auch die Möglichkeiten der Überwachung und der Missbrauch - die aktuelle Welle von Cyberattacken zeugt davon.
Im Kanton Genf haben die Bürgerinnen und Bürger nun als erste in der Schweiz ein Recht auf digitale Unversehrtheit eingefordert. Beispielhaft gesprochen wird damit signalisiert: Es ist genauso schlimm, ungefragt die Daten von jemandem zu verwenden, wie eine Person zu schlagen oder zu mobben.
Die Verfassungsänderung, angestossen durch die Genfer FDP, wurde am Sonntag mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 94 Prozent angenommen. Sie beinhaltet unter anderem ein Recht auf Schutz vor Datenmissbrauch, ein Recht auf ein Offline-Leben und ein Recht auf Vergessen - also das Löschen von Daten.
Andere Westschweizer Kantone haben ähnliche Vorhaben in der Pipeline. Eine parlamentarische Initiative von Nationalrat Samuel Bendahan (SP/VD) fordert das Recht auf digitale Unversehrtheit zudem auf nationaler Ebene. Sie wurde von Politikerinnen aller Parteien mitunterzeichnet und soll im Vergleich zu kantonalen Vorlagen nicht nur die digitale Beziehung zwischen Bürger und Staat regeln, sondern sich auch auf Daten im Besitz von Unternehmen beziehen, wie den Tech-Giganten.
«Das klare Votum in Genf zeigt, dass die Bevölkerung ihre Rechte im Internet nicht geschützt sieht. Die Cyberattacken in den letzten Wochen haben den Handlungsbedarf nochmals unterstrichen», sagt Bendahan.
Was aber könnte ein neues Recht auf digitale Unversehrtheit konkret bewirken?
Kritiker argumentieren, dass die rechtlichen Bestimmungen bereits heute ausreichen - etwa dank des Datenschutzgesetzes. Hapern tue es dagegen an der Umsetzung. So bezeichnete Florent Thouvenin, Professor für Informations- und Kommunikationsrecht an der Uni Zürich, die Einführung eines neuen Grundrechts gegenüber dem Branchenportal Inside-IT als «Symbolpolitik». Es gehe auch im digitalen Umfeld um eine Beeinträchtigung der geistigen Unversehrtheit, die bereits in der Verfassung verankert ist, und nicht um eine neue, separate digitale Identität.
Davon lässt sich Johan Rochel nicht beirren. Die heutige Verfassung könne zwar verschieden ausgelegt werden, anerkennt der Jurist und Ethik-Forscher an der ETH Lausanne. «Verankert man explizit das Recht auf digitale Unversehrtheit, wird die Ausgangslage aber eindeutig.» Ein Opfer eines Datenklaus könnte sich dereinst auf dieses Grundrecht berufen, um vor Gericht wegen unzureichenden Sicherheitsstandards zu klagen.
Noch vor möglichen Auswirkungen auf Gerichtsprozesse löse das Recht auf digitale Unversehrtheit dringend nötige Überlegungen seitens Behörden und Firmen aus, ist sich Rochel sicher. «Alle müssen sich die Frage stellen, wie konkrete Projekte mit dem neuen Grundrecht in Einklang gebracht werden können. Dies auch beim Einsatz von neuen Technologien, für die es noch keine spezifischen Gesetzesparagrafen gibt.» Aktuell ist die künstliche Intelligenz ein solcher Fall.
Gleichzeitig ist klar, dass das Recht auf digitale Unversehrtheit ein abstraktes Konstrukt bleibt - der Umsetzung kommt deshalb auch hier die entscheidende Bedeutung zu.
Digitalexperte Philippe Thevoz von Sicpa, dem weltweit führenden Anbieter von Sicherheitsdruckfarben für Banknoten, zieht einen Vergleich: «Das Grundrecht auf Bildung bringt nur dann etwas, wenn der Staat Schulen errichtet. Genauso ist es beim Recht auf digitale Unversehrtheit: Es braucht einen politischen Willen und technologische Innovationen - etwa auf dem Gebiet der Verschlüsselung -, damit Staat und Firmen die Sicherheit im digitalen Raum gewährleisten können.»
Sicpa hat vor diesem Hintergrund kürzlich an ihrem Sitz im waadtländischen Prilly den Campus «unlimitrust» eröffnet, der Start-ups, Firmen und Forschende der ETH Lausanne vereint. Bis zu 3000 Menschen sollen hier Lösungen entwickeln, die Vertrauen in neue Technologien schaffen.
Thevoz hofft, dass ein Recht auf digitale Unversehrtheit in der Schweiz einen Sensibilisierungsschub für die Thematik auslösen wird. «Mit einem Grundrecht in der Verfassung könnte niemand mehr die Augen vor der Notwendigkeit des Datenschutzes verschliessen.» (aargauerzeitung.ch)