Es war keine einfache Aufgabe für die neunköpfige Delegation von Schweizer Energie-Experten. In einer Fachkonferenz - man kennt's aus Pandemiezeiten - wollten sie der Bevölkerung erklären, wie die Schweiz ihre Energieversorgung im Winter sicherstellt. Allein: Um das exakt zu beantworten, müsste man die Pläne von Wladimir Putin kennen. Bereits heute Donnerstag könnte vieles des Gesagten bereits wieder Makulatur sein. Dann nämlich, wenn durch die gewarteten Pipelines von Nord Stream wieder russisches Gas fliesst und Europas Speicher füllt. Eine befürchtete Gasmangellage wäre plötzlich unrealistisch. Anzeichen dafür gibt es.
Und was, wenn nicht?
Den Ernstfall vorzubereiten, ohne in Alarmismus zu verfallen - auf diesem schmalen Grat wandeln derzeit die Verantwortlichen, welche die Schweiz energetisch durch den Winter bringen sollen. Irgendwo zwischen «jede Kilowattstunde zählt» und «bis jetzt läuft alles normal». Auch wenn beide Aussagen korrekt sind: Es ist locker möglich, sich in diesem Delta zu verlieren.
Müsste man also im Moment Strom sparen? Nein, zumindest nicht, weil es daran mangeln würde. Aktuell produziert die Schweiz so viel Strom, dass sie einen erklecklichen Teil davon gewinnbringend dem Ausland verkauft. Die Daten von Swissgrid lassen sich in Echtzeit verfolgen. Gestern Nachmittag waren es zeitweise über 2000 Megawattstunden, welche die Schweiz in Richtung Italien verliessen. Das entspricht dem Jahresbedarf von etwa 500 durchschnittlichen Haushalten. Im Sommer, wenn die Flusskraftwerke laufen und die Sonnenkollektoren Spitzenwerte liefern, ist die Schweiz ein Strom-Exportland.
Der europäische Handel ergibt Sinn: Viele Länder haben unterschiedliche klimatische Bedingungen und können sich im Jahresverlauf gegenseitig den Bedarf decken. Strom lässt sich zudem nur schlecht längerfristig speichern. Bloss ein kleiner Teil der Schweizer Stauseen verfügt über Pumpspeicherkraftwerke. Wichtig wäre, dass sich die Speicher bis Herbst ordentlich füllen, und hier bereitet vor allem die andauernde Trockenheit Sorgen. Zwar lassen die hohen Temperaturen derzeit die Gletscher schmelzen. Aber gerade die Stauseen im Tessin haben keine Gletscher-Reserve und wären auf Niederschläge angewiesen. Spätestens ab September ist es deshalb wichtig, die Speicher möglichst lange voll zu halten.
Etwas anders sieht es beim Gas aus. Hier wäre es sinnvoll, bereits jetzt zu sparen - aber das tun viele vermutlich bereits. In Privathaushalten wird Gas vor allem zum Heizen eingesetzt. Das ist jetzt kaum Thema, doch sobald es kälter wird, kann man mit einem warmen Pulli in der Stube zur Schweizer Versorgungssicherheit beitragen.
Einen bundesrätlichen Frier-Befehl wird es aber nicht geben. Selbst wenn es zum Äussersten kommen sollte und eine grosse Mangellage herrscht: Privathaushalte sind wie Blaulichtorganisationen oder Spitäler geschützte Einrichtungen. Einschränkungen wie geschlossene Hallenbäder oder abgestellte Rolltreppen gehören hingegen zu einem Massnahmenkatalog, der derzeit ausgearbeitet wird. Da befände sich die Schweiz aber bereits auf der dritten von insgesamt vier Eskalationsstufen.
Schwerer wögen mittelfristig die wirtschaftlichen Folgen: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz rechnet im «worst case» mit zweistelligen Milliarden-Einbussen. Auch ein Anstieg der ohnehin schon sehr volatilen Energiepreise ist jederzeit realistisch. Wahr ist aber auch: Die Schweiz ist längst nicht so abhängig vom Gas wie andere Staaten und sorgt bereits jetzt für die Reserven.
Ob es zur Krise kommt, kann niemand sagen. Eine derartige Notsituation entstünde durch das Zusammenspiel von vielen verschiedenen Faktoren. Die Schweiz etwa braucht Gas vor allem fürs Heizen und in der Industrie, speziell Deutschland produziert hingegen damit Strom. Das ist auch der Konnex, weshalb Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Schweiz auf eine doppelte Mangellage vorbereitet. Gefahren gibt es neben den erwähnten noch viele weitere: Denkbar ist etwa, dass weniger Atomstrom verfügbar ist, weil aufgrund der Trockenheit das Flusswasser zur Kühlung der AKW fehlt. Oder dass in Frankreich ganze Reihen von Atommeilern altershalber ihren Dienst versagen. Ein Nostradamus, wer für solche Szenarien Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellt.
Gut möglich, dass es viele der aktuell getroffenen Vorkehrungen nie brauchen wird. Was bleiben wird, sind zerstörte Gewissheiten. Beispielsweise jene, dass in einem stabilen Land wie der Schweiz Strom, Gas und auch Wasser jederzeit für alle Bedürfnisse verfügbar sind. (aargauerzeitung.ch)