Bei 35 Grad über den nächsten Winter zu reden, ist nicht einfach. Die Experten von Bund und Energiebranche haben es am Mittwoch trotzdem versucht. Denn es geht um ein ernstes Thema: Wird die Schweiz in der kalten Jahreszeit über genügend Gas und Strom verfügen? Oder zugespitzt formuliert: Werden wir im Dunkeln sitzen und frieren?
Solche Fragen erschüttern unser Selbstverständnis. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir uns daran gewöhnt, dass stets genügend Energie vorhanden ist. Die einzige Ausnahme war das Ölembargo von 1973, das die lange europäische Hochkonjunktur der Nachkriegszeit abwürgte und zu ungewohnten Massnahmen wie den drei autofreien Sonntagen führte.
Selbst diese Episode aber lässt sich laut Benoît Revaz, Direktor des Bundesamts für Energie, nicht mit der heutigen Situation vergleichen: «Wir erleben zurzeit die erste weltweite Energiekrise, mit Europa im Epizentrum.» Tatsächlich gehen die Energiepreise überall durch die Decke. Doch Europa ist durch den Ukraine-Krieg besonders betroffen.
Als Reaktion auf die westlichen Sanktionen hat Russland die Gaslieferungen nach Europa gedrosselt. Die Pipeline Nord Stream 1 ist wegen Wartungsarbeiten abgestellt. Es bleibt unklar, ob nach ihrem Abschluss am Donnerstag wieder Gas fliessen wird. Die EU-Kommission präsentierte am Mittwoch einen Notfallplan mit einem möglichen Sparzwang.
Der drohende Gasmangel ist in Deutschland ein grosses Thema. Die Schweiz hat das Problem lange ignoriert. Erdgas spielt bei uns keine zentrale, aber auch keine marginale Rolle. Es deckt rund 15 Prozent des gesamten Energieverbrauchs ab und wird in der Industrieproduktion sowie in Privathaushalten zum Heizen und Kochen benötigt.
Dabei ist die Schweiz vollständig von Importen abhängig, mangels eigener Speicher auch im Winter. Blauäugig vertraute man darauf, dass immer genügend Gas verfügbar ist. Das erinnert an die Krise von 1973, als die Erdölexporteure im Nahen Osten wegen der westlichen Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg einen Lieferboykott beschlossen.
Nun versuchen Bund und Energiebranche im Eiltempo, das Versäumte nachzuholen, mit reservierten Speicherkapazitäten im Ausland, Optionen für die zusätzliche Lieferung von «nichtrussischem» Gas und Solidaritätsabkommen mit den Nachbarländern. Es gibt jedoch keine Garantie, dass die Schweiz beliefert wird, wenn das Gas tatsächlich knapp wird.
Es bestehe eine «erhebliche Unsicherheit», sagte Bastian Schwark, Leiter des Fachbereichs Energie bei der wirtschaftlichen Landesversorgung (WL), an der Medienkonferenz vom Mittwoch. Deshalb hat der Bund auch einen vierstufigen Massnahmenplan im Inland entwickelt. Er beginnt mit Aufrufen zum Sparen und reicht bis zu Kontingentierungen.
Bei der Stromversorgung existiert ein solches Krisenszenario seit Jahren. Und die Lage ist auf den ersten Blick weniger dramatisch als beim Gas, da die Schweiz sich mit ihren Atom- und Wasserkraftwerken weitgehend selbst versorgt. Im Winterhalbjahr, wenn der Bedarf besonders gross ist, geht jedoch schon lange nichts mehr ohne Importstrom.
Im kommenden Winter könnte ein Mehrbedarf entstehen, weil der Füllstand in den Stauseen tiefer sein dürfte als gewöhnlich. Die Importe sind jedoch fraglich wegen der Unsicherheit um die abgeschalteten Atomkraftwerke in Frankreich. Und auch hier ist das russische Gas ein Problem. Es spielt eine wichtige Rolle in der europäischen Stromproduktion.
Sollte noch ein schweizerisches AKW ungeplant ausfallen, könnte es eng werden. «Das ganze System ist deutlich weniger resilient, eine Mangellage ist nicht auszuschliessen», sagte Urs Meister, Geschäftsführer der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom). Das Schweizer Dilemma lässt sich deshalb auf einen Nenner bringen: Hoffen auf Wladimir.
Die Schweiz ist bei Strom und Gas darauf angewiesen, dass Kriegsherr Putin den Westen beliefert. Es gebe Grund für «verhaltenen Optimismus», sagte Bastian Schwark. Nach der Wartung soll wieder Gas durch Nord Stream 1 fliessen. Putin selbst liess sich am Mittwoch mit der Aussage zitieren, der Gazprom-Konzern werde seine Verpflichtungen erfüllen.
Ein Lieferstopp wäre für Putin nicht ohne Risiko, und das nicht nur wegen der fehlenden Einnahmen. Es geht auch um Russlands Reputation als verlässlicher Energielieferant. Allerdings warnte der Kreml-Herrscher vor einem Absinken der Liefermenge. Es scheint gut möglich, dass er den Druck auf den Westen auf diese Weise hochzuhalten versucht.
Eine Reduktion der Gasexporte wäre für die Schweiz keine gute Nachricht, denn sie befindet sich wie erwähnt am unteren Ende der «Nahrungskette». Im Notfall wird das restliche Europa zuerst für sich schauen. Wir werden am Ende vielleicht froh sein müssen, wenn wir mit Sparmassnahmen wie einer Abschaltung der Weihnachtsbeleuchtung durch den Winter kommen.