Eine bunte Schar unterschiedlichster Menschen füllt das Bundesgericht. Männlich wirkende Personen in langen Röcken warten zwischen den Marmorsäulen. Weiblich wirkende Personen mit kurzen Haaren nehmen auf der Tribüne Platz. Und Menschen in farbigen T-Shirts, die sich keinen Kategorien zuordnen lassen, diskutieren mit den Gerichtsweibeln.
Die meisten sind jung und wollen die Gesellschaft verändern. Mobilisiert wurden sie durch eine queere Bewegung, die das Geschlecht in der Schweiz abschaffen will.
Vor der Sitzung des Bundesgerichts muss sich das Publikum aber der alten Ordnung fügen. Es gibt nur Männer- und Frauen-WC. An den Schlangen davor kann abgelesen werden, wer sich für welches Geschlecht entscheidet, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.
Während der Sitzung zeigt sich das Bundesgericht von seiner progressiven Seite. Die fünf Richterinnen und Richter verwenden konsequent eine genderneutrale Sprache und reden immer von der «beschwerdeführenden Person» und lassen damit offen, ob sie männlich, weiblich oder nonbinär ist. Denn genau dies ist die Problemstellung.
Es geht um Julia, die 1989 im Aargau geboren und als Mädchen registriert wurde. Doch irgendwann merkte sie, dass dies nicht für sie stimmte. Sie fühlte sich männlich, aber irgendwie auch nicht. Dafür gibt es in Berlin, wo die 34-jährige Person heute lebt, eine einfache Lösung. Julia* liess ihren Namen zu Julian* ändern und die Geschlechtsangabe streichen. Julian definiert sich als nonbinär.
Das Berliner Standesamt bewilligte die Änderungen, weil Ärzte eine sogenannte Variante der Geschlechtsentwicklung festgestellt haben. Das bedeutet, dass die Person biologisch weder Mann noch Frau ist, sondern intersexuell. Die nationale Ethikkommission für Humanmedizin stützt sich auf Schätzungen, wonach 1.7 Prozent der Weltbevölkerung davon betroffen sind.
Julian hat über die Schweizer Botschaft verlangt, dass die Änderungen im hiesigen Personenstandsregister nachvollzogen werden. So kam das Verfahren bis vors Bundesgericht in Gang. Es war ein Hin und Her. Die Aargauer Regierung akzeptierte die Namensänderung, aber nicht die Streichung der Geschlechtsangabe. Das Aargauer Obergericht hiess hingegen auch Letztere gut. Weil das eidgenössische Justizdepartement Beschwerde erhob, kam der Fall nun vor das höchste Gericht.
Bundesrichter Felix Schöbi (Mitte) hat verlangt, dass der Fall vor Publikum diskutiert und nicht wie üblich im schriftlichen Verfahren erledigt wird. Denn das Thema sei in der aktuellen Debatte erklärungsbedürftig, meint er. Der Bundesrichter zitiert Denker unterschiedlicher Richtungen.
Physiker Albert Einstein:
Alt Bundesrat Ueli Maurer:
Und den Titel des Leitartikels auf der NZZ-Frontseite von Chefredaktor Eric Gujer:
Als Bundesrichter Schöbi so in sein Referat startet und erst noch festhält, dass das Zivilgesetzbuch die Geschlechtsangabe im Personenstandsregister gar nicht vorschreibe, kommt im Publikum Hoffnung auf. Erwartet wird, dass Schöbi sich am Schluss für Julians Antrag einsetzen wird. Doch so leicht lässt sich Schöbis Referat nicht einordnen. Seine Rede ist fluid, er nennt Argumente dafür und dagegen. Er stellt fest: «Die heutige Rechtslage ist alles andere als befriedigend.»
Doch das Parlament habe sich gegen die Einführung eines dritten Geschlechts entschieden. Als Bundesrichter fühle er sich den Entscheiden des Gesetzgebers verpflichtet, «auch wenn diese opportunistisch erscheinen». Er werde den Eindruck nämlich nicht los, dass der Bundesrat bei seinem Entscheid gegen ein drittes Geschlecht vor den Zivilstandsbehörden eingeknickt sei – aus Angst vor der Genderdebatte oder weil die Registersysteme zu kompliziert seien.
Das Anliegen des Bundesgerichts formuliert Schöbi so: «Der Gesetzgeber soll nach diesem Entscheid nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.» Das Bundesgericht heisst die Beschwerde des Justizdepartements aber einstimmig gut und hebt das Aargauer Urteil auf. Das Obergericht habe Bundesrecht verletzt. Denn es sei Sache des Parlaments, allenfalls das Gesetz zu ändern. Entsprechende Vorstösse sind bereits auf dem Weg und der Bundesrat hat sich bereit erklärt, nach Lösungen zu suchen.
Julian hat somit jetzt einen männlichen Vornamen, bleibt in der Schweiz aber als Frau registriert. Bundesrichter Schöbi hält dies für «höchst problematisch», weil die Person vielleicht anders entschieden hätte, hätte sie die Konsequenzen gekannt.
Er beantragt, dass Julian die Gerichtskosten von 2000 Franken ausnahmsweise nicht zahlen müsse. Die beschwerdeführende Person sei schliesslich vom Justizdepartement in das Verfahren gedrängt worden. Doch damit unterliegt er mit 1 zu 4 Stimmen.
Das Transgender Network Switzerland, das den Prozess finanziert, wird den Fall vermutlich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen.
Julian sagt:
Vorab: Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch das Recht hat, zu sein, zu lieben und zu leben, wie er möchte. Dies solange es nicht gegen das Gesetz verstösst - respektive der Gesellschaft keinen Schaden zufügt.
Beim Eintrag in den Ausweis sehe ich es allerdings emotionslos: Das Dokument soll den Menschen klar identifizieren. Sind die Augen blau, dann steht da blau - egal ob ich das Gefühl habe sie seien grün. So ist es auch mit dem Geschlecht. Das ist nun mal tatsächlich Binär.
Damit ist eigentlich alles gesagt. Wem das nicht passt, soll die Zusammenstellung des Parlaments ändern, damit dies geändert wird.