Renate Senn, die Pflichtverteidigerin des Vierfachmörders von Rupperswil, hat ein Jahr lang geschwiegen. Sie wollte sich auf ihre Arbeit konzentrieren und ihren Feinden keine Aufmerksamkeit geben. Zum Tabu erklären will sie das Vorgefallene aber auch nicht. Deshalb hat sie sich jetzt bereit erklärt, darüber zu sprechen, was während des Mordprozesses vor dem Bezirksgericht geschehen war.
«Ich habe mehrfach anonyme Todesdrohungen erhalten. Per Mail und per Post an meine Kanzlei sowie an meine Privatadresse», sagt sie. Die Polizei stufte die Lage als gefährlich ein und wurde von sich aus aktiv, als sie auf Medienportalen die Online-Kommentare über Senn analysiert hatte. Die Anwältin war in einen Shitstorm geraten, nachdem sie Aspekte der Tat relativiert hatte. Kommentarschreiber wünschten ihr, sie solle dasselbe erleben wie die Opfer des Vierfachmordes. Senn stand deshalb während des Prozesses und in den Wochen danach unter Polizeischutz.
Die Drohungen waren so konkret und so massiv, dass die Aargauer Kantonspolizei die ergriffenen Schutzmassnahmen nicht für ausreichend hielt. «Die Polizei hat mir geraten, für zwei Wochen unterzutauchen», sagt Senn. Sie befolgte die Empfehlung nicht. «Ich wollte nicht zulassen, dass mich die Drohungen so weit treiben. Und ich fühlte mich in der Pflicht, für meine anderen Klienten da zu sein.» Senn kam mit dem Schrecken davon. In der Anwaltsszene sorgen die Drohungen für Entsetzen. Verteidiger von Schwerverbrechern stossen zwar regelmässig in breiten Bevölkerungskreisen auf Unverständnis. Aber zu einem derart folgenreichen Angriff kam es zuvor nie.
Zwei Veränderungen lassen sich in der Schweiz beobachten. Neben Politikern geraten erstens vermehrt Personen aus anderen Bereichen ins Visier von Wutbürgern sowie von Links- und Rechtsextremisten: Anwälte, Architekten, Wissenschafter oder Journalisten.
Die zweite Veränderung: Einige Attacken der jüngsten Zeit weisen eine für Schweizer Verhältnisse ungewohnte Intensität auf. In Solothurn explodierten vor dem 1. Mai Böller in und vor den Briefkästen der SP-Präsidentin Franziska Roth, der Juso-Präsidentin und eines SP-Bezirkspräsidenten. Die Anschläge waren geplant. Wochen zuvor hatten Unbekannte die drei Briefkästen mit schwarzen Filzstiften markiert.
Nach den Brandanschlägen erlebten die angegriffenen Politikerinnen eine Welle der Solidarität. Doch es geschah noch etwas. In den Tagen nach der Attacke häuften sich in Roths Postfach Droh- und Hassmails. Einer schrieb, es müsse noch viel mehr passieren, damit die Linken aufwachten.
SP-Bundesrat Alain Berset stellte seine 1.-Mai-Rede, die er in Solothurn hielt, spontan um und begann sie mit den Brandanschlägen. Er sagte: «Wir sind ein Land, in dem diskutiert, ja gestritten wird. Das ist unsere Tradition. Das ist auch unserer Stärke. Weil wir ganz genau wissen, wo die Grenzen eines Streits sind.» Die Explosionen in Solothurn stufte er als «Angriffe auf unsere Demokratie» ein.
Die Schweiz bleibt ein Land, in dem sich Bundesräte frei mitten in Bern bewegen und ohne Personenschützer am Perron auf den Zug wartend fotografiert werden können. Doch es werden zusätzliche Sicherheitsmassnahmen nötig. Das Attentat im Zuger Parlamentsgebäude 2001 hat zu einem Umdenken geführt. Die meisten politischen Gebäude sind seither nicht mehr frei zugänglich. Zudem werden Drohungen systematisch erfasst und ausgewertet.
Die Bundespolizei Fedpol sammelt bedrohliche Schreiben, welche bei Politikern, Beamten und Richtern auf Bundesebene eingehen. In ihrem aktuellen Jahresbericht weist die Polizeibehörde erstmals aus, wie viele der Drohungen ernst zu nehmen waren. 2018 waren es 43 Fälle. Fedpol alarmierte also jeden Monat mehr als dreimal eine Kantonspolizei, weil die Sicherheit einer auf Bundesebene exponierten Person gefährdet war.
Viele Politiker verzichten auf eine Anzeige. Einige scheuen den Aufwand, andere wollen sich nicht mit Bürgern anlegen. Eine bürgerliche Nationalrätin, die wegen Drohungen zeitweise unter Polizeischutz stand, erklärt ihr Vorgehen: «Löschen und vergessen.»
Eine Ausnahme ist Justizministerin Karin Keller-Sutter. Sie zeigte einen Facebook-Nutzer an, der 2017 über sie schrieb: «Die Schlampe gehört in en indische Bus, ellei, nachts am 3...» Dafür wurde der 34-Jährige kürzlich wegen Aufforderung zu Gewalt und wegen Beschimpfung verurteilt. Die Geldstrafe war bedingt, die Busse betrug 120 Franken. Eine kleine Massnahme, die grosse Wirkung zeigen kann. «Viele Leute, die Drohungen verschicken, erschrecken, wenn plötzlich die Polizei vor ihrer Tür steht», sagt eine Fedpol-Sprecherin.
SP-Nationalrätin Yvonne Feri erschrak, als sie regelmässig Hassbriefe in ihrem Briefkasten fand. «Ich fühlte mich bedroht, weil die Absender wussten, wo ich daheim bin», sagt sie. Sie habe sich vor allem um ihre Töchter gesorgt, als diese noch jünger waren. Wer die Absender sind, wisse sie nicht. Aus sexistischen Formulierungen lasse sich ablesen: «Sie sind vermutlich männlich.» Die Post komme wellenartig. Am meisten Drohungen erhalte sie, wenn sie über die Burka spreche. Ihre politischen Äusserungen passe sie deswegen nicht an, doch sie habe Vorsichtsmassnahmen ergriffen: «Ich habe mir ein Postfach eingerichtet, damit Hinz und Kunz nicht mehr wissen, wo ich wohne.»
ETH-Professor Reto Knutti hat sich nach seinem letzten Umzug entschieden, seine Adresse nicht mehr im Telefonbuch einzutragen. Der Klimaforscher ist zum Intimfeind der Klimawandel-Leugner geworden. Eine neue Form des Angriffs auf seine Person erlebte er, als im Internet erfundene Aussagen von ihm und eine gefakte Facebook-Seite unter seinem Namen auftauchten. Dagegen vorzugehen, brauche viel Zeit und Kraft. «Was mich als Wissenschafter im Innersten trifft, ist der Vorwurf, ich würde nicht seriös arbeiten», sagt er.
Der Zürcher Architekt Roger Boltshauser hat eine unangenehme Erfahrung mit radikalen Tierschützern gemacht. Sein Büro hat den Wettbewerb für den Bau des Basler Ozeaniums gewonnen. Im Abstimmungskampf publizierten Linksextreme eine Liste der involvierten Firmen auf einem Blog. Früher waren an gleicher Stelle die Adressen der in den Bau des Ausschaffungsgefängnisses involvierten Firmen genannt worden, worauf es zu Brandanschlägen auf Firmenautos kam. Boltshauser sagt: «Wir haben erwartet, dass sich die Leute über unser Projekt freuen werden. Es ist seltsam, dass wir jetzt Angst haben müssen.»
Die Täter bleiben in den meisten Fällen unerkannt. Auch die Urheber der Todesdrohungen gegen Strafverteidigerin Renate Senn hat die Polizei bis jetzt nicht identifiziert.
Die Hälfte der Kantone hat ein Bedrohungsmanagement eingeführt. Weitere folgen demnächst. Das Konzept wurde von einem deutschen Institut erfunden: Mehrere Behörden sammeln gemeinsam Informationen, um potenziell gefährliche Personen zu identifizieren und zu beobachten. Registriert werden Daten über Querulanten, Täter von häuslicher Gewalt, Stalker, sich radikalisierende Jugendliche und mögliche Amokläufer. Mit einem Fallmanagementsystem und einer Software wird die Gefährlichkeit eingestuft.
Nicht alle Kantone geben Auskunft über ihre Datenbanken. Diese Kantone kommunizieren ihre Zahlen auf Anfrage: In Luzern sind 381 Gefährder registriert, in Baselland 300. In Solothurn sind es 242, wovon bei 92 die Gefahr als gering, bei 149 als erhöht und bei einer Person als hoch eingestuft wird. Glarus hat 35 Einträge und Schwyz 24.
In heiklen Fällen führt die Polizei Gefährderansprachen durch. Isaac Reber, Präsident der Schweizerischen Kriminalprävention, sagt: «Der ‹Schuss vor den Bug› kann bei gewissen Querulanten oder Stalkern viel bewirken.» (bzbasel.ch)
Und das erstinstanzliche Gericht hatte ja dann auch reichlich Freude daran, den Wutbürger gegen die Verteidigerin aufzubringen.